Andeutung (2)
Seine Instinkte rieten ihm, seine Waffe zu ziehen – eine Norintek Hybrid 32 – und sein Optikimplantat wechselte in den Gefechtsmodus.
Die Gefahrenanalyse stellte die NH32 auf Betäubungsmodus. Leichte Energieladungen, mit denen er wildgewordene Roboter oder flüchtende Verbrecher außer Gefecht setzen konnte. Die Alternative, synthetisch hergestellte Plättchenmunition, wäre in diesem Fall Overkill gewesen. Immerhin befand er sich in keinem Bandenkrieg oder im Angesicht einer Außenweltbestie. Und selbst wenn der Körperpanzer, der sich unter seiner Kleidung an ihn schmiegte, hauchdünn war, würde die hier unten ausreichen. Falls hier ein Mörder auf der Lauer lag, das verfügbare Waffenarsenal der Unterwelt war beschränkt.
Die potentielle Leiche unter dem Tisch war gar keine, was sie dadurch bewies, dass sie sich mit einem kräftigen Stoß darunter hervorschob.
Ein junger Kerl in Lederklamotten, in die unzählige werkzeuggefüllte Taschen eingearbeitet waren. Ein kurioser Anblick, mit dem er sich von all den anderen Menschen abhob, die hier unten billiges Synthetikzeug trugen. Ein Scan seines Optikimplantats zeigte ihm, dass es sich um eine Spezialanfertigung handelte, nahezu komplett aus Riesenrattenleder. Die Viecher waren eine hartnäckige Plage, die das Kanalsystem der Unterwelt heimsuchte.
Der enttäuschte Blick des jungen Mannes richtete sich erst auf eines der Medienpanels, bevor er erstaunt zum Sergeant sprang. Trotz seines jugendlichen Gesichts blitzten bereits graue Strähnen aus seiner Mähne heraus, die wild durcheinander stand und über Augen und Ohren fiel.
"Kann ich Ihnen helfen?"
Das wäre zu schön, um wahr zu sein.
"Sergeant Torochew", wiederholte er seine Vorstellung. "Ich ermittle im Todesfall Tamachi."
"Sicherheitskorps?" Seine Augenbrauen hoben sich und verschwanden gänzlich unter den Haaren. "Ganz ohne Uniform? Und Tamachi ... er ist tot? Der war doch gerade noch hier."
Torochew trug keine Uniform und Rangabzeichen mehr, seitdem er einen Posten bei der Außenweltabteilung bekommen hatte. Sorgte nur dafür, dass die Verbrecher auf dumme Ideen kamen, wenn er auftauchte.
"Tamachi ist an einem Stromschlag gestorben. Ich hatte gehofft, hier herauszufinden, wie das geschehen konnte – ohne dass die Segmentüberwachung eingegriffen hat."
Der Name des Jungen – Pierre Borque – tauchte auf einem Farbklecks neben seinem Kopf auf und der Sergeant unterdrückte den weiteren Informationsfluss des Zitadellennetzwerks. Stattdessen aktivierte er den Verhörmodus. Gestik, Mimik und Puls wurden auf Anzeichen untersucht, die den Wahrheitsgehalt seiner Antworten untermauern oder sie als Lüge entlarven konnten.
"Das mag jetzt nicht das sein, was Sie hören wollen." Er zog einen seiner Mundwinkel zu einem verlegenen Grinsen zur Seite. "Er war hier und hat erzählt, dass er Arbeiten an einem Verteilerpanel durchführen muss. Mitten in der Nacht. Keine Minute später war hier alles tot."
Genau wie Tamachi. Es klang unglaubwürdig, dass dies zufällig zur gleichen Zeit geschehen war, doch der Verhörmodus schlug keinen Alarm.
"Wer führt hier unten die Reparaturen aus, wenn kein Tek auftaucht?"
"Leute ... unter anderem ich selbst."
Torochew musterte das Werkzeug in seinen Ledertaschen. Kaum eines war mit einer ID registriert. Fast alles Eigenbauten.
"Haben Sie auch Reparaturen am Verteilerpanel durchgeführt?"
Sein Gesicht wurde bleich und die Haut, die weiß durch die Haarsträhnen hervorschien, erinnerte an das Fell eines Zebras. War Torochew der Löwe, der es nun erlegte?
"Nein ...", antwortete er zögerlich.
Der Sergeant brummte und ging in die Knie, um die Arbeit unter dem Tisch zu inspizieren. Das Implantat passte die Helligkeit automatisch an und Torochew zoomte näher heran. Er schloss sein biologisches Auge, damit die konkurrierenden Bilder ihm keine Ladung Kopfschmerzen verpasste. Ein technisches Analyseprogramm hob die Stellen, an denen Pierre gearbeitet hatte, durch rote, durchsichtige Kreise hervor. Ohne den Hinweis wären sie ihm nicht aufgefallen.
"Außerordentlich gute Arbeit. Ich bin überrascht."
Unwahrscheinlich, dass er für den Pfusch verantwortlich war, der Tamachi das Leben gekostet hatte – wenigstens nicht versehentlich.
"Warum arbeiten Sie mit Ihren Kompetenzen hier unten und sind noch kein Mitglied der Technikabteilung?"
"Wenn das so einfach wäre, Sergeant. Ein Tek pro Etage, manchmal einer für mehrere. So ist das in der Unterwelt. So selten wird mal eine neue Stelle frei. Und ohne die richtigen Kontakte ..."
Torochew nickte zustimmend. Das galt überall, selbst im Sicherheitskorps. Vor allem für die begehrten Plätze innerhalb der Oberwelt der Zitadelle. Allerdings führte diese Erkenntnis zu einem neuen Verdacht.
"Sie sind nicht zufällig auf seinen Posten scharf gewesen und haben nachgeholfen, dass er frei wird?"
Pierre lachte. Ein ehrliches Lachen. "Was würde sich ändern? Ich wäre immer noch auf dieser Etage." Eine Sekunde Pause, eine weitere, dann fuhr er fort. "Hey, ich habe ein besseres Motiv für Sie. Ich war sauer auf Tamachi, weil hier so selten ein Tek auftaucht." Gespielte Überraschung überzog sein Gesicht. "Ah, Moment. Ihn ins Jenseits zu befördern, würde die Situation ja kaum verbessern."
Trotz des Schauspiels schlug der Lügendetektor nicht an. Das hatte Torochew auch nicht erwartet. Er war das ganze Gespräch über ruhig gewesen. Falls es einen Schuldigen gab, dieser Junge war es nicht.
"Verstehe. Wissen Sie, wer vor ihm den Reparaturversuch unternommen hat?"
Ein Warnhinweis tauchte am Rande Torochews Blickfeldes auf, noch bevor der junge Mann zur Antwort ansetzte. Nun würde er doch lügen.
"Das muss der alte Hagen gewesen sein. Der ist aber vor zwei Monaten in einen Kanalisationsschacht gestürzt und hat sich den Hals gebrochen."
"Ich denke, ich muss Sie nicht darauf hinweisen, dass ..." Das Medienpanel flackerte auf und Torochew ließ seine Ermahnung, bei der Wahrheit zu bleiben, unvollendet. Für einen Sekundenbruchteil erschien ein Gesicht auf dem Bildschirm und ein Symbol. Dann füllten Kamerabilder und Lagepläne die Wände.
Was war das gewesen? Das Gesicht hatte er kaum erkennen können. Und das Symbol? Ein Hufeisen? Das Optikimplantat hatte die Bilder aufgezeichnet. Das würde er sich später genauer ansehen. Jetzt war er zu müde dazu und er war zu einem Entschluss gekommen.
"Ihre Reparatur scheint ein Erfolg gewesen zu sein. Vielleicht sollten Sie Ihrem Freund, der am Verteilerpanel herumgepfuscht hat, ein paar Unterrichtsstunden geben, damit sich so etwas nicht wiederholt."
Pierre Borque zuckte mit den Schultern. "Nicht, dass er noch was davon hätte."
Seine Augen zeigten aber, dass er den Wink verstanden hatte. Dass Torochew gnädig war und ihn vom Haken ließ.
Der Junge hatte nichts mit Tamachis Tod zu tun und hier gab es keine aufgezeichneten Hinweise. Die Leute auf dieser Ebene würden sich gegenseitig decken und die Reparatur lag Monate zurück. Selbst wenn es noch Bewegungsprofile von damals gab, er hätte keine Zeit, sie durchzugehen, selbst mit automatisierter Hilfe. Jeder, den er sonst darauf ansetzte, würde einfach eine Reihe Unschuldiger wegen fahrlässiger Tötung zu unbezahlten Mineneinsätzen verdonnern. Falls der Junge seinem Freund jedoch wirklich zeigte, was er für einen Mist gebaut hatte, und er daraus lernte, würde zumindest U127 davon profitieren.
Wäre er auf wirkliche Anzeichen für einen Mord gestoßen, hätte Torochew selbstverständlich nicht locker gelassen. Aber das Ganze sah nach einer Verkettung unglücklicher Zufälle aus.
Nur die Bilder auf den Medienpanels verursachten ein unbehagliches Gefühl in ihm.
"Eine Sache noch", wandte er sich ein letztes Mal an Pierre. "Was hatten das Gesicht und das Symbol zu bedeuten, die gerade auf den Medienpanels zu sehen waren? Eine Startsequenz?"
Er hob verwundert die Augenbrauen. "Haben sie noch nie davon gehört? Wir sind hier unten immer noch mit dem ursprünglichen Netzwerk der Zitadelle verbunden, dem Alphanetz. Manche sagen, ein virtueller Geist würde darin sein Unwesen treiben, der immer mal wieder sein Gesicht auf einem Bildschirm zeigt."
Das mit dem Geist war ihm neu, den Rest kannte er.
Die Zitadelle war einst Zufluchtsort der letzten Menschen gewesen. Sie schützte sie vor der Eiszeit, vor Temperaturen, die jede Technik lahmlegte und Menschen in Sekunden erfrieren ließ. Diese autarke Megastadt beherbergte 1,5 Millionen Menschen und unzählige weitere, die noch im Kälteschlaf schlummerten. Vor einem Jahr hatte der Stadtrat verkündet, dass es draußen wieder sicher war, und läutete mit einem großen Medienspektakel ein neues Zeitalter ein – auch für ihn. Seitdem wuchs die Stadt Ring um Ring und das alte Netzwerk hielt der Last irgendwann nicht mehr stand. Ein neues wurde aufgebaut und das Alte aufgegeben.
"Ein Geist?" Torochew lachte. "Gut, dass ich Sik bin und kein Geisterjäger. Einen schönen Tag noch."
Mit der Anbindung an das fehlerhafte Alphanetz hatte eine plausible Antwort erhalten und das reichte ihm.
"Tag?", murmelte der Junge. "Es ist doch noch ..." Das Rauschen der Türautomatik verschluckte den Rest seines Protestes.
Vor der Tür gesellte sich Betty stumm zu ihm. Sie musste langsam auf ihn abfärben, wenn er schon selbst nicht mehr zwischen Tag und Nacht unterscheiden konnte. Bei dem Gedanken wurden seine Augenlider schwer. Mit etwas Glück bekam er noch etwas Schlaf, bevor der reguläre Dienst begann.
Auf dem Heimweg gleichte er sich den anderen an, stellte die Umgebungsanalyse ab und den Tunnelblick ein. Wie ein Trüber, nur mit einem Ziel vor Augen, dem Gedanken an sein Bett. Ein Aufzug trug ihn hinauf, weg aus dem Reich der ewigen Dämmerung. Als er die Zitadelle verließ und hinaus in den ersten Ring trat, der den gigantischen Turm umgab, empfing ihn frische und kühle Nachtluft. Sie weckte eine weitere Erinnerung vergangener Tage, die er nicht zuordnen konnte.
Er nahm einen tiefen Atemzug und genoss ihn. Endlich nicht mehr das gefilterte Zeug, das bereits seit Jahrzehnten wieder und wieder aufbereitet wurde.
Verblassende Sterne am Himmel und der Mond, der seiner Bahn folgte, zeigten ihm, dass er wirklich draußen war. Sie waren wie Vertraute für ihn, die ihm während seiner Ausbildung in der Außenwelt beigestanden hatten. In den oberen Etagen gab es auch einen Sternenhimmel, verblüffend echt, dennoch nicht mehr als eine Kopie der Zeit vor dem Eis. Wenn Torochew den ansah, fragte er sich, wie die Menschen dort jede Nacht einer Lüge aufsitzen konnten. Ein Astronom hätte ihm wahrscheinlich genau sagen können, wie viele Jahre zwischen diesen Aufnahmen und dem Original, das er jetzt erblickte, vergangen waren. Ihm aber reichte das Wissen, dass seine Vergangenheit vor dem Eis – bevor er eingefroren und in der Zitadelle wieder aufgetaut wurde – weit zurücklag. Sie hatte keine Bedeutung mehr für ihn.
Er erreichte den Wohnkomplex, in dem Torochew und seine Freundin Katharina eine kleine Wohnung ihr Heim nannten. Als er den Eingang durchschritt, legte er die Rolle des Ermittlers ab. Hier wurde aus Sergeant Torochew nur noch Elisa.
Ein Druck auf den Knopf am Kragen seines Mantels setzte den Komprimierungsprozess in Gang. Faden für Faden verschwand surrend im Nirwana, bis nur noch Fransen an seinem Körper herunterbaumelten. Einen Augenblick später wurden auch sie gierig vom Knopf aufgesogen und gespeichert. Ihm kam das immer noch wie Zauberei vor, auch wenn sie ihm weismachen wollte, dass er mit dieser Technik aufgewachsen war. Synths, die ihnen Nahrung, Kleidung und Gebäude scheinbar aus dem Nichts erschufen. Natürlich erschienen sie nicht wirklich aus dem Nichts. Für alles wurde komprimierte Materie verbraucht, die in Synth-Knöpfen oder dem Kreislauf der Zitadelle gespeichert war.
Er verstand trotzdem nicht, wie das gehen sollte, egal wie oft sie versuchten, es ihm zu erklären. Das war so nutzlos, wie einem Neandertaler Elektrizität verständlich zu machen. Ein zutreffender Vergleich übrigens. So viele von ihnen waren Steinzeitmenschen, die in der Zukunft aufgewacht waren. Die meisten merkten es nur nie.
Das Schlafzimmer war leer, das Bett gemacht und die Matratze kalt.
Katharina musste ebenfalls zur Arbeit gerufen worden sein. Ungewöhnlicher als bei ihm, aber nicht unmöglich. Sie arbeitete in der Kommunikationsabteilung des Sicherheitskorps. Wenn ein großer Einsatz anstand, brauchte man mehr Kommunikatoren, um die Siks mit Lageplänen, Feindpositionen und anderen Informationen zu versorgen.
Er komprimierte nach und nach die restlichen Kleidungsstücke, bis er nur noch in Unterwäsche dastand, legt die Knöpfe auf den Nachttisch und kroch unter die Decke.
Warum hatte sie ihm keine Nachricht hinterlassen?
Die Frage beschäftigte ihn noch ein paar Sekunden, dann schaltete sein Körper seinen Verstand ab, bis ihn der Wecker erneut unbarmherzig zur Arbeit trieb.
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