Queen of New York City
Die U- Bahn ist ziemlich leer am Weihnachtsmorgen. Natürlich. Die Menschen sitzen um ihren Kamin und packen Geschenke aus, während ich zurück in die Anstalt fahre. Ich kann trotz des Absturzes gestern zum ersten Mal klarer denken, was wohl daran liegt, dass ich nun fast vierundzwanzig Stunden ohne Medikation bin. Und ich werde das noch ein wenig ausnutzen und meine Akte suchen gehen, denn wenn ich tatsächlich schon seit Jahrhunderten existiere, müsste das ja mal aufgefallen sein, oder? Doch anders kann ich mir meine lebhaften Träume nicht erklären. Ja, es würde alles einen Sinn ergeben, so absurd es auch klingen mag- George kennt mich, ich kenne ihn. Meinen Sinn für Sprachen und Kunst. Ich erinnere mich, wie ich im Museum für Kunst meinen gedopten Mitpatientinnen einen Vortrag über einen barocken Künstler gehalten habe und mehr Dinge wusste, als der Kurator dort. Ich konnte mir damals jedoch nicht erklären, woher ich dieses Wissen hatte. Nun, es ist ganz einfach- ich war bei der Fertigstellung dieses Kunstwerkes dabei und hatte mich mit dem Künstler darüber unterhalten. Ich sehe ihn genau vor mir...und kneife mich fest in den Arm. Nein, das ist wirklich verrückt, oder? Niemand wird 200 Jahre alt! Vielleicht sind George und ich Wiedergeborene, doch würden wir in der gleiche Form wieder kehren? Vor lauter Nachdenken verpasse ich fast meine Haltestelle und schnell springe ich hinter einer alten Dame raus. Dabei stoße ich sie an und sie guckt empört.
„Entschuldigen sie. Frohe Weihnachten!", erkläre ich lächelnd.
„Ja, ja. Für andere, nicht für mich", gibt sie mürrisch wieder und ich bleibe stehen.
„Warum nicht?", frage ich.
Sie guckt überrascht, weil sie wohl nicht damit gerechnet hatte, dass ich nachfrage. Dann murmelt sie: „Sie haben doch sicher noch eine Verabredung, nicht, junge Dame?"
Ich schüttele den Kopf.
„Nein, ich habe ich nicht. Ich habe genug Zeit!"
Die Dame seufzt.
„Nun, gestern habe ich meinen geliebten Mann tot in seinem Lieblingssessel vorgefunden. Er ist friedlich eingeschlafen, noch vor dem Abendbrot. Und nun bin ich auf dem Weg zum Bestattungsinstitut."
„Ganz alleine?", frage ich erschrocken.
„Ich treffe mich dort mit meiner Tochter Doris, sie hat keine Kinder. Die anderen sechs können nicht. Ist ja Weihnachten."
„Wollen sie zu Peter's Funerals? Kommen sie, ich begleite sie, ich muss da vorbei. Es tut mir sehr leid, dass sie diesen schweren Weg ausgerechnet zu Weihnachten gehen müssen."
Sie lächelt und sagt: „Nun, anscheinend habe ich jemanden gefunden, der mit mir geht."
Wir lachen und ich helfe ihr auf die Rolltreppe. Dann fragt sie: „Aber was noch viel merkwürdiger ist... warum feiert ein so hübsches Ding wie sie kein Weihnachten? Haben sie keinen Mann, keine Kinder?"
Ich schüttele den Kopf.
„Ich habe eine erwachsene Tochter, doch ich habe keinen Kontakt mehr zu ihr. Ist eine lange Geschichte. Wissen sie, ich wohne... dahinten."
Ich deute auf das Gebäude, das am Ende der Straße aufragt. Die Dame guckt erschrocken und sagt: „In der Klapsmühle? Sie sind Schwester, nicht? Deshalb sind sie auch so hilfsbereit..."
„Nein, ich bin Patientin dort. Ist das ihre Tochter?"
Eine Frau in meinem Alter winkt uns.
„Ja, das ist meine Doris!", erwidert die alte Dame stolz. "Nun, sie tun mir mehr leid, junge Frau. Niemand sollte in diesen Tagen alleine sein. Frohe Weihnachten!"
Mir schießen Tränen in die Augen, als sie mich fest umarmt.
„Danke, ihnen auch", murmele ich.
Nachdem ich mich auch von Doris verabschiedet habe, schlendere ich die letzten Meter zur Jefferson- Einrichtung dahin. Ich habe keine Eile, und so verheult schon gar nicht. Ja, es tut mir weh, an den Feiertagen alleine zu sein, deshalb trinke ich zu viel Alkohol. Aber ich hätte Beziehungen haben können und vielleicht auch Kinder, oder? Doch wenn ich wirklich unsterblich bin, werde ich es vermieden haben, denke ich. Und alleine der Gedanke an so etwas Irrationales lässt mich aufhorchen- wer will schon eine, die denkt, sie lebe ewig? Und dann ist da noch George, der Prinz. Ich spüre so viel Liebe für ihn, wie für niemand anderen. Nein, ich jage einem Phantom hinterher, deshalb bin ich alleine!
Das Phantom steht gerade vor der Einrichtung. Ich wische mir die Tränen weg und George kommt mir entgegen. Wortlos nimmt er mich in den Arm, und plötzlich beginne ich zu weinen. Lasse alles, was sich in den letzten Jahren, Jahrzehnten, Jahrhunderten aufgestaut hat, einfach raus. Sein Griff wird fester und er streicht mir sanft über den Rücken. Er riecht so vertraut, dass ich mich wie zuhause fühle. Ich erinnere mich an unseren ersten Abend.
♚
Ich blicke den Prinzen irritiert an. Er stellt die gleiche Frage noch einmal, auf deutsch. Als ich nicht reagiere, auf französisch und nun lacht Sophie.
„Mutter, nun geht endlich tanzen! Ihr wißt doch, Kopf ab!"
Ich lächle sie an, dann reiche ich George meine Hand.
„Und das wäre äußert schade...", raunt er mir zu und blinzelt.
Als er meine Hand nimmt, fahre ich zusammen.
„Was seid ihr so schreckhaft, liebste Tante? Seid ihr noch nie von einem Mann berührt worden?", fragt George, legt den Arm um meine Taille und zieht mich an sich.
Er riecht nach Wald. Nach frischen Hölzern und ich atme seinen Duft tief ein. Plötzlich wird mein Herzschlag langsamer. Das Gefühl, das mich bedrückt hatte, ist fort. Hier, in seinem Arm, fühle ich mich sicher und es scheint, als hätte ich nie woanders hin gehört. Nach einer Weile bemerke ich jedoch, dass George mich verliebt anschaut und ich sage leise: „Bitte, zügelt euch..."
„Warum? Ich darf alles tun, was mir beliebt, ich bin der Prinz!", erwidert er frech.
Ich schüttle den Kopf. George streicht sanft über meinen Rücken und raunt: „Es tut mir außerordentlich leid, dass ich euch in Verlegenheit bringe. Aber ich muss euch gestehen, liebste Tante, dass ich nicht beabsichtige, euch zu meiner Schwiegermama zu machen. Sondern vielmehr den Wunsch hege, euch zu meiner Frau zu machen!"
Ich blicke zu George auf und er lächelt.
„D...das ist unmöglich. Die Etikette...", stammele ich.
„Ich weiß! Ich bin ein Kind skandalöser Zustände, wie ihr wißt. Und warum sollte ich unsere Traditionen brechen?", gibt er neckend zurück.
Ich schweige und beobachte die Leute um uns herum. Niemand scheint auf uns zu achten, außer die Herzogin. Sie steht bei Sophie und spricht eindringlich mit ihr. Und ich sehe an ihrem Blick, dass es nichts Gutes bedeutet.
„Eure Hoheit...", beginne ich, „Bitte erlaubt mir, zu meiner Tochter zu gehen und sie vor der Herzogin zu retten."
„Soll ich die Herzogin hinauswerfen lassen?", schlägt der Prinz schmunzelnd vor.
„Nein, dies würde noch mehr Aufsehen erregen."
„Nun, Aufsehen werde ich später auch erregen, in dem ich verkünde, mich dem Wunsch meines Vaters zu widersetzen."
„Das könnt ihr nicht tun!", entfährt es mir und ich senke sofort den Blick. „Entschuldigt, eure Hoheit. Das war ein unangemessener Ton."
George greift nach meinem Kinn und hebt sanft meinen Kopf.
„Als meine zukünftige Frau habt ihr das Recht, diesen Ton anzuschlagen. Und mich vor einer unvernünftigen Entscheidung zu bewahren. Aber glaubt mir, diese wird richtig sein. Ich will niemand anderen, als euch, Elisabeth."
„Ich bin viel zu alt für euch."
„Mein Vater unterhält Maitressen, die doppelt so jung sind, wie er. Uns beide trennen nur lächerliche dreizehn Jahre."
„Ich werde euch wohl keinen Thronfolger mehr schenken können?"
„Auch das ist mir gleichgültig. Und falls der König beabsichtigen sollte, mich zu enterben, dann sei es so!"
Ich schüttele den Kopf.
„Was ist nur in euch gefahren, eure Hoheit?"
„Spürt ihr es nicht auch?", raunt George und ich bemerke ein Flattern im Unterleib.
„Ja. Von der ersten Minute an, als ich euch sah...", hauche ich und George zieht mich enger an sich.
Als das Tanz vorbei ist, lässt er mich los und sagt: „Nun sollten wir eurer Tochter beichten, wie die Dinge stehen."
Ich nicke. „Das Schicksal hat es gut mit ihr gemeint, sie wird über eure Entscheidung nicht allzu entsetzt sein."
George zieht seine dunklen Augenbrauen hoch und legt seinen Kopf schief.
„Nun, das war taktisch nicht sehr klug, liebe Tante. Ich bin der Prinz, eure Tochter sollte erschüttert sein!"
„Oh, verliere ich nun doch meinen Kopf?", erwidere ich und lächele.
„Nein, ich brauche euer hübsches Köpfchen noch...die Strafe wird etwas anders aussehen."
Wie stehen vor Sophie und der Herzogin. George beugt sich zu der älteren Frau und raunt ihr etwas ins Ohr. Sie macht einen Knicks und geht. Sophie schaut besorgt zu mir auf und ich setze mich, nehme ihre Hand. Der Prinz setzt sich auf ihre andere Seite und sagt: „Liebe Kusine, ich möchte, dass ihr wißt, dass ihr ein wunderschönes und kluges Mädchen seid. Dennoch werde ich dem Wunsch meines Vaters, euch zu ehelichen, nicht nachkommen."
Sophie guckt mich irritiert an. Dann George, dann wieder mich.
„Eure Hoheit...Mutter...ich danke euch!", erklärt sie dann erleichtert und umarmt mich.
Nun guckt der Prinz verständnislos und ich schmunzele.
„Sophie, ich habe den Prinzen nicht dazu überreden müssen."
„Nein? Ich dachte, ihr hättet ihm gesagt, dass mein Herz vergeben sei...eurer Gespräch beim Tanz sah danach aus, als würdet ihr ihn überzeugen wollen?"
George lacht.
„Liebe Kusine, es war genau umgekehrt. Ich musste deine Frau Mutter beruhigen, da ich mit dieser Entscheidung den Zorn des Königs auf mich ziehen werde."
„Nun, es gibt doch sicher noch andere Prinzessinnen, die zur Auswahl stehen, nicht wahr?", fragt Sophie unschuldig.
George guckt mich an und ich werde rot.
„Es gibt eine wunderschöne Herzogin, die ich ehelichen möchte...", erwidert er und nimmt meine Hand.
„Mutter? Aber...", stottert meine Tochter. „Entschuldigt mich."
Sie springt auf und läuft davon. Unsere Zofe Maria blickt mich fragend an und ich deute ihr, dass sie ihr folgen möchte.
„George...ich meine, eure Hoheit...", beginne ich.
„Nennt mich bitte George. Ich möchte nicht, dass ihr während unserer Intimitäten „Oh, ja, eure Hoheit!" ruft."
„Intimitäten? Wir sind noch nicht verheiratet!", empöre ich mich lächelnd. „Und darum geht es. George, es wäre eine Schmach für Sophie, wenn ihr verkündet, dass ihr mich ehelichen wollt anstatt ihr. Geht doch besser einen Schritt nach dem anderen und sagt erst einmal die Hochzeit ab."
Doch der Prinz schüttelt den Kopf.
„Es ist bereits alles für morgen arrangiert."
„Aber ich... habe kein Hochzeitskleid!"
„Das ist kein Hindernis. Ich lasse alle Schneiderinnen des Landes kommen, um euch euer Traumkleid zu nähen!"
„Nein, George. Das ist absurd. Lasst es uns ruhig angehen, ich..."
Er nimmt meine Hände in seine und sagt: „Liebste Elisabeth, das mag alles sehr vorschnell erscheinen, aber ich habe Angst, dass uns das Schicksal wieder trennen könnte. Bitte, heirate mich morgen!"
♚
„Betsy?", murmelt George und greift nach meinem Kinn. „Bist du noch anwesend?"
Seine hellen Augen schauen mich besorgt an. Ich scheine mich beruhigt zu haben, doch nun ist mir kalt, es hat zu schneien begonnen.
„Komm, lass uns einsteigen...", schlägt George vor, doch ich schüttle den Kopf.
„Ich muss erst noch etwas erledigen. Da drinnen", entgegne ich.
„Gut, ich begleite dich. Und dann fahren wir nach Long Island."
„Willst du wieder deine Frau verärgern?"
George hält mich am Arm fest. Schneeflocken rieseln in mein Gesicht, ich lecke sie ab und stelle fest, dass ich wahnsinnigen Durst habe. George sagt: „Hör zu, es tut mir wirklich leid. Das war eine miese Nummer, die ich mit Joe abgezogen habe. Ich habe mich bei ihm entschuldigt und ihm eine Wohnung im Tower geschenkt. Und meine Frau...ja, ich wollte sie loswerden. Und sie provozieren, aber nicht mit dir. Denn du bist die Frau, auf die ich mein Leben lang gewartet habe."
„Zweihundert Jahre?", erwidere ich amüsiert. Ich gehe weiter und murmele: „George, wenn wir das da drinnen zu laut sagen, behalten sie uns beide dort. Ich kann mich langsam an alles erinnern und ich denke, dass meine Vorstellung, den Kronprinzen von England geheiratet zu haben, sie dazu bewegt hat, mich auf Lebzeit weg zu sperren. Deshalb möchte ich jetzt in meine Krankenakte schauen."
„Kein Problem. Wenn die sich weigern, rufe ich meinen Anwalt an, der mit dem Amtsrichter der Stadt verheiratet ist."
„Wie die Zeiten sich geändert haben...", murmele ich.
„Nein, haben sie nicht. Macht und Geld sind immer noch wichtiger als Liebe und Mitgefühl."
Ich verziehe das Gesicht.
„Und wo war dein Mitgefühl für deine Frau?"
„Sie hat mich nur aus Berechnung geheiratet und ich...naja, brauchte Gesellschaft. Ich war vorher Jahrzehnte alleine. Aber sie war nicht du...keine war du."
„Du wiederholst dich. Oh, Hallo, Clarice. Das ist George, ein Freund von mir, der mich bei sich aufnehmen wird. Ich möchte meine Sachen abholen und in meine Akte schauen", begrüße ich die diensthabende Betreuerin.
„Tut mir leid, ich kann dich nicht so einfach gehen lassen, ohne Anordnung...", antwortet sie zögerlich.
George mischt sich verärgert ein: „Doch, sie können, haben sie den amtsrichterlichen Beschluss von gestern noch nicht erhalten? Ich rufe gerne meinen Anwalt an, damit er ihn noch einmal rüber faxt."
„Doch, Mr. Forster hat den Bescheid gebracht. Aber trotzdem würde ich sie bitten, bis Dienstag zu warten, damit der Doc sie nochmal sehen kann, Miss Lamb."
Mein Gönner schüttelt den Kopf.
„Miss Lamb wartet auf gar nichts! Nun holen sie ihre Akte. Und du packe bitte deine Sachen, Liebste, denn zum King's Point sind es noch zwei Stunden Fahrt", sagt George etwas sanfter zu mir.
King's Point, Long Island- passt ja! Ich nicke und verschwinde in meinem Zimmer, das noch so aussieht, wie ich es gestern morgen verlassen hatte. Mein Schlafanzug mit den Jack- Skellington- Köpfen drauf liegt auf meiner verwuschelten Bettdecke, das King- Buch auf meinem Nachtschrank. Ich hole meinen Koffer aus der Abseite und stopfe meine wenigen Habseligkeiten hinein, die fast nur aus Büchern bestehen. Dafür ist der Koffer jetzt umso schwerer! Eigentlich würde ich gerne endlich aus den Klamotten raus, doch falle ich schon fast um vor Hunger und vor allen Dingen Durst! Gerade will ich den schweren Koffer anheben, da kommt Johnson herein. Er drückt mir einen Becher und eine Tüte von McDonalds in die Hand, als könne er Gedanken lesen. Er nimmt den Koffer.
„Danke!", sage ich überrascht.
Oh, die eiskalte Cola tut gut! Ich verabschiede mich kurz von meinem Zimmer und folge dann Johnson. Ich bin nicht wirklich traurig, diesen Ort zu verlassen, zu oft stand ich hier kurz vor dem Selbstmord- wohl wissend, dass es nicht funktionieren würde. Denn ich bin bereits gestorben, und nicht nur einmal- genau wie George.
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