Heilig Abend in der Ausnüchterungszelle
„Na, Kleiner! Frohe Weihnachten!", begrüßt der zahnlose, alte Joe den Frischling.
Ich blicke auf. Tatsächlich ist der Betrunkene, den die Cops gerade bringen, wohl der Jüngste unter uns, obwohl man das unter seinem Jesus- Rauschebart nicht wirklich erkennen kann. Seine braunen Haare hängen ihm tief im Gesicht und er hat eine dunkle Kapuze über den Kopf gezogen. Der Typ stolpert und kommt neben Joe zu Boden.
„J...ja, dir...auch. Frohe Weihnachten...", brummt er zurück.
„Danke, Junge. Wird mein Letztes sein...", erwidert Joe lallend.
Allan, der bisher geschnarcht hat, guckt hoch und murmelt: „Das hasschu lessses Jah auch gesagt, Old Joe!"
„Aber dieses Mal isses soweit, ich spür's in meinen alten Knochen! Darauf gehen wir einen Heben, kommt!"
„Joe, falls du es noch nicht mitbekommen hast, wir sind hier in der Ausnüchterungszelle", meint Jane nüchtern.
Sie klingt nicht so, als müsste sie noch hier sein, aber wenn die Cops die Tür öffnen, stellt sich sich schlafend. Ich weiß, sie lebt sonst auf der Straße. Nun, ich nicht, doch trotzdem lege ich wie Jane nicht viel Wert darauf, hier heraus zu kommen und wieder in die psychiatrische Langzeiteinrichtung zurück zu müssen. Und da ich mir durch meinen unerlaubten Alkoholexzess nun eine Ausgangsperre eingeheimst habe, verbringe ich Weihnachten doch lieber zwischen stinkenden Landstreichern und Alkoholleichen. Ich mustere den Neuen, den ich hier noch nie gesehen habe. Er hat sich eingerollt und schnarcht ein wenig, Joe fummelt an ihm herum.
„Joe, lass es!", befehle ich, „Der sieht nicht so aus, als hätte er etwas Wertvolles dabei."
Joes wässrige Augen blicken mich erschrocken an.
„Ich wollte ja nicht..."
„Doch, wolltest du. Mir hast du mal ne Kette im Schlaf geklaut."
„Betsy...komm schon, das war doch nicht persönlich gemeint!"
„Ich weiß...", murmele ich und ziehe die alte Decke über mich.
Ich döse auch ein und träume von rauschenden Festen in riesigen, barocken Ballsälen. Davon träume ich sehr oft, keine Ahnung, warum. Wahrscheinlich lese ich zu viel Jane Austen!
Ich erwache etwas später von lautem Gebrüll. Als ich hochfahre, sehe ich, dass der Neue Joe im Schwitzkasten hat. Ich stöhne auf. Blicke mich um und bemerke, dass Alan und Jane wohl gehen durften, während ich schlief, also bin ich mit den Streithähnen alleine! Ich rappele mich mühselig hoch, ja, eine der drei Weinflaschen war wohl schlecht... Oder im Glühwein war Benzin. Egal, ich muss einschreiten, doch schon öffnen die Polizisten die Tür und reissen den jüngeren Kerl von Joe weg. Der Kerl torkelt und ehe ich mich versehe, knallt er mit voller Wucht gegen mich. Ich stolpere rückwärts, verliere den Halt, grabsche nach seinem Ärmel und wir fallen beide. Der Typ landet genau auf mir! Eine Sekunde schauen wir uns überrascht an. Seine großen, leuchtend blauen Augen blicken in meine dunklen und ich fühle mich plötzlich, als wäre ich zuhause. Sicher. Geborgen. Dann wird der Neue gepackt und hochgezogen.
„So, mein Freund, was sollte das?", fragt der Polizist gereizt.
Doch der Jesus- Typ starrt mich immer noch an und ich ihn. Ich überlege krampfhaft, woher ich ihn kenne...war er vielleicht mal in der Anstalt? Der Cop schüttelt den Typen ungeduldig.
„Antworte! Warum gehst du auf den guten Joe los?"
Nun scheint der Jesus- Verschnitt aufzuwachen und schaut den Cop an.
„Er hat mich angegrabscht. Hab mich nur gewehrt...", erwidert er verstimmt und der Bulle seufzt.
„Joe...du solltest wissen, dass wir allen Insassen ihre Personalien und auch das Geld wegnehmen. Lass bitte die Gaunereien, sonst kommst du nächstes Mal in Einzelhaft."
Joe nickt.
„Tschulligung...", murmelt er geknickt und guckt zu Boden.
Irgendwie tut er mir leid. Ich hätte ihm die Kette auch geschenkt, wenn er mich darum gebeten hätte! Doch jetzt bin ich mit nichts anderem als diesem hübschen- ja, unter all seinen Jesus-Haaren sind gleichmäßige Gesichtszüge und schöne, volle Lippen erkennbar- Typen beschäftigt. Er schaut mich wieder an, als hätte er mich auch erkannt. Kaum ist der Cop raus, setzt er sich zu mir. Er stinkt wie ein Whiskeyfass!
„Hey Joe...", murmelt er in Richtung des alten Mannes.
„Hm?"
„Tut mir auch leid. Mir sind die Pferde etwas durchgegangen..."
„Jup. Ist okay...", antwortet Joe und dreht uns den Rücken zu.
„Hey, ich bin George", begrüßt mich der Typ dann und lächelt.
„Betsy. Hab dich noch nie hier gesehen...also denke ich, dass du nicht aus New York bist?"
George schüttelt den Kopf.
„Doch, aber ich hatte es noch nie nötig, in die Ausnüchterungszelle zu müssen."
Ich schaue an ihm runter. Ja, seine Kleidung ist zwar verschmutzt, aber ordentlich.
„Na, dann...frohe Weihnachten!" lächle ich zurück.
George lacht.
„Ja, das beste Weihnachtsfest ever! Bist du öfter hier?"
„So zwei oder drei mal im Jahr. Meistens zu den Feiertagen...", erwidere ich und seufze.
„Warum?", fragt George und ich zucke zusammen.
Seine hübschen Augen fixieren mich interessiert und ich drehe verlegen meinen zotteligen Pferdeschwanz um meine Finger. Er murmelt: „Ich meine, du siehst...sorry, aber...nicht wie eine typische Trinkerin aus. Und du bist noch jung..."
Ich lache.
„Ich bin vierzig! Das ist heutzutage jung, ja..."
George guckt erschrocken.
„Das hätte ich jetzt nicht gedacht! Echt. Hätte dich in meinem Alter geschätzt...so Ende zwanzig."
Ich lächle.
„Danke für das Kompliment. Wie alt bist du denn genau?"
„Siebenundzwanzig."
Ich nicke und räuspere mich.
„Okay, mein Kleiner, ich sag dir jetzt mal was. Ich mag vielleicht nicht wie eine Alkoholikerin aussehen, aber ich bin eine, weil ich ihn als Mittel gegen Albträume und Langeweile brauche. Ich hab eine Reihe psychische Störungen und bin in einer Langzeiteinrichtung untergebracht. Und ich kann verstehen, wenn du dich jetzt lieber wieder zu unserem Gauner setzen möchtest."
George lächelt.
„Nun, ich bin auch nicht ganz normal. Nur mich haben sie nie erwischt!", erwidert er und grinst frech.
„Naja, du bist ja auch jünger und wesentlich flinker!"
Eine Weile schauen wir uns in die Augen, dann sagt George: „Mir ist, als kenne ich dich irgendwo her."
„Geht mir genauso...", antworte ich leise und gucke auf meine Hände, die in Wollhandschuhen stecken.
George raunt: „Erzähle mir bitte mehr über dich, vielleicht kommen wir ja drauf. Wir haben ja alle Zeit der Welt..."
Ich schüttele den Kopf.
„Oh, nein, das haben wir nicht. Wenn die Cops merken, dass ich wieder nüchtern bin, dann rufen sie meinen Betreuer an, damit er mich abholt."
„Okay...dann wirst du eben noch ein wenig länger betrunken sein!", entgegnet George amüsiert und zaubert einige Miniflaschen Schnaps aus seinen Taschen.
Ich lache auf und sage: „Wie...?"
„Ach, alter Taschenspielertrick. Joe, möchtest du auch?", ruft er und Joe dreht sich zu uns.
Als er den Schnaps sieht, leuchten seine Augen. George wirft ihm ein Fläschchen zu, doch es fällt auf die alte Matratze. Zum Glück!
„Frohe Weihnachten, Kumpel. Wenn wir draußen sind, lad' ich dich als Entschädigung ein, okay?"
Joe nickt und kippt wortlos den Kurzen runter.
„Das wird nicht reichen, um uns gestandene Alkoholiker betrunken zu machen...", gebe ich lächelnd zu Bedenken.
„Ja, das befürchte ich auch. Dann müssen wir irgendwie versuchen, dich raus zu schmuggeln...Hier, Joe, nimm sie alle."
George ist aufgestanden und legt die fünf Fläschchen neben Joe, der sich freut, wie ein Kind. Dann läuft George auf und ab, überlegt.
„Willst du meine Geschichte wirklich hören, George?", frage ich leise und er guckt mich an, als wäre er aus einem Traum erwacht.
Nickt. Ich beginne: „Also, ich...kann mich kaum an die Zeit erinnern, bevor ich in diese Einrichtung gekommen bin...weißt du, die Pillen lassen meine Erinnerungen einfach verschwinden. Ich weiß nicht mal, ob ich Eltern habe, wie sie aussahen, ob ich in New York geboren bin. Ich glaube nicht, weil ich festgestellt habe, dass ich auch andere Sprachen spreche."
George bleibt stehen. Irgendwie kommt mir sein Hin- und Her- Gerenne total bekannt vor!
„Welche?", fragt er.
„Naja...auf jeden Fall Deutsch und Französisch. Auch Latein verstehe ich. Manchmal erwische ich mich, wie die Sprachen miteinander vermische. Ich bin halt...ziemlich gaga."
Ich zucke mit den Schultern.
„Nein, das glaube ich nicht", murmelt George auf deutsch. „Tu n'est pas folle. Nur, weil man sehr belesen ist, ist man doch nicht verrückt?"
„Du sprichst auch mehrere Sprachen?", erwidere ich.
„Yup. Auch Spanisch, Italienisch, Japanisch. Ich habe viel Zeit zum Lernen."
„Warum? Du hast mir noch nicht gesagt, was du so machst?"
„Dann verrate ich dir jetzt ein Geheimnis, aber nicht weitersagen, ja?" George blinzelt mir verschwörerisch zu. "Ich bin Unternehmer und steinreich."
Ich springe auf und George guckt mich irritiert an. Er hatte sich wieder zu mir gesetzt und muss nun hochschauen.
„Aber warum lässt du dich dann einsperren? Du könntest doch locker die Kaution bezahlen und gehen!", fahre ich ihn an.
„Shhh....Es war 'ne Wette. Mein Kumpel Ethan meinte, wenn ich es schaffen würde, Heilig Abend in der Ausnüchterungszelle zu verbringen und damit meine Frau Jennifer zu verärgern, würde er mir seinen 57'er Thunderbird schenken. Der Wagen ist einzigartig, musst du wissen, so einer fehlt mir noch in meiner Sammlung!"
Ich schaue George irritiert an. Nun, ich dachte, er wäre ein normaler Kerl von der Straße, vielleicht ein Angestellter, der zu Weihnachten gekündigt worden ist und sich nun volllaufen lassen hat. Aber nein, er ist ein hochnäsiger, stinkreicher Lebemann! Plötzlich wird die Tür geöffnet und ein Cop erscheint.
„Mr. Wyndham, es tut uns außerordentlich leid. Ihr Anwalt hat bereits die Kaution bezahlt, ihre Limo steht vor der Tür."
George stöhnt genervt.
„Ah, verdammt! Wer hat denn so schnell gepetzt? Ich wollte die ganze Nacht hier bleiben!", beschwert er sich knurrend.
Der Cop zuckt mit den Schultern. Er denkt wahrscheinlich, dass George einen an der Klatsche hat...ich meine, wer will schon freiwillig hierbleiben? Wenn man normal ist, heißt das. George seufzt, dann murmelt er: „Hören sie, ich würde gerne die Zwei hier mitnehmen. Was muss ich dafür tun?"
Nun guckt der Cop noch verwirrter. Joe richtet sich auf und hickst. Ich kenne die Antwort, deshalb bin ich total entspannt.
„Äh...Mr. Smith können sie gegen Kaution mitnehmen, doch Miss Lamb unterliegt der Aufsicht des Staates, sie müssten ihren Betreuer informieren."
„Gut, dann geben sie mir seine Nummer. Miss...Lamb?"
George dreht sich zu mir um und ich nicke.
„Ja, das ist mein Name. Betsy Lamb."
„Betsy von...Elisabeth? Elisabeth Lamb?", fragt er nun verwundert.
Ich überlege. Hm, bisher war ich immer nur Betsy. Ich zucke mit den Schultern und antworte: „Weiß nicht. Und ich gebe dir einen Tip- versuche nicht, zu sehr mit deiner Kohle herum zu protzen, das kann Donald gar nicht ab."
„Donald?", hakt George nach und in dem Augenblick räuspert sich der Cop wieder. Er sagt: „Bitte, kommen sie jetzt mit, Mr. Wyndham. Wir können draußen alles regeln."
„Ich komme wieder, ich verspreche es euch!" sagt George zu uns und folgt dann dem Polizisten.
Nachdem die Tür zugefallen ist, schaut mich Joe verwirrt an. Schüttelt den Kopf, dreht sich um und schläft weiter. Ich kichere und lehne mich zurück. Nein, ich denke, ich werde George nie wieder sehen!
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