Kapitel 6
Heute musste ich meine beste Freundin verwandeln. Der Gedanke traf mich wie ein Schlag ins Gesicht. Hart und gnadenlos.
Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch stand ich auf und zog mich an. Ich achtete gar nicht auf das was ich tat, sondern machte alles in einer roboterhaften Routine. Hellblaue, lockere Shorts, olivgrünes T-shirt, weiße Sneaker.
Der Blick auf die andere Seite des Zimmers machte mir noch einmal klar, was ich würde tun müssen. Alice würde alles an Normalität entrissen werden und das wegen mir. Zack hatte mir zwar tausende Male gesagt, dass es nicht meine Schuld war, und insgeheim wusste ich, dass er recht hatte, aber ich fühlte mich trotzdem schuldig.
Essen konnte und wollte ich nichts, deshalb stand ich auf und verließ das HoF, um mit meiner besten Freundin shoppen zu gehen. Glücklicherweise begegnete ich niemandem, den ich kannte.
In der Stadt angekommen, spiegelte das Wetter meine Laune wieder. Es regnete und die Luft war drückend, wie vor einem Gewitter.
Ich erblickte Alice vor einem Starbucks Geschäft und ging auf sie zu.
''Was ist los?'', fragte sie sofort.
''Nichts'', sagte ich, ''Was sollte sein?''
''Du bist extrem blass, zitterst, und nur zwei Minuten zu spät.''
''Ich mache mir nur Sorgen wegen heute Abend'', gab ich zu.
''Immernoch?''
Ich bejahte und sie seufzte. ''Wie oft hatten wir das Thema jetzt schon?''
Sehr oft, aber das sagte ich nicht. Sie liefen immer gleich ab, Alice versuchte mich zu beruhigen, hinterher war ich aber immernoch genauso nervös wie vorher.
''Du musst dir keine Gedanken machen. Wirklich!'', beteuerte meine beste Freundin dennoch erneut.
Ich nickte. ''Okay, sollen wir jetzt shoppen gehen?''
''Okay, wo gehen wir zuerst hin?''
Ich deutete wahllos auf einen Laden. ''Wie wäre es mit dem?''
Alice nickte. ''In Ordnung, aber bitte, mach dir nicht so viele Gedanken, das macht mich auch nervös.''
''Ich versuch's.''
Fünf Stunden später lief ich wieder ins HoF und packte meine Sachen. Alice und ich hatten abgemacht, dass ich bei ihr übernachten sollte, damit ich nicht einfach in ihr Haus einbrechen musste.
Mit klopfendem Herzen lief ich in Richtung Parkplätze, als Zoey auf mich zugerannt kam und mir ein Fläschchen mit einer milchigen Flüssigkeit reichte.
''Nayla hat gesagt ich soll dir das geben. Für Alice'', erklärte sie.
Ich nickte, natürlich wusste ich, was es war. Das Mittel gegen die Schmerzen nach der Verwandlung. Zack hatte mir davon erzählt. Warum nicht Nayla? Ganz einfach, ich hatte sie gemieden. Seit ich herausgefunden hatte, dass sie meine Mutter kannte, konnte ich ihr nicht mehr in die Augen sehen. Es war undenkbar, dass sie es nicht gewusst hatte, immerhin schien der Rat ja sonst allwissend zu sein.
Vorsichtig legte ich das Fläschchen in meine Tasche und bedankte mich bei Zoey.
''Keine Ursache. Wofür sind Freunde denn da? Und jetzt geh schon, Alice wartet bestimmt schon auf dich.''
Verdutzt blickte ich sie an. ''Woher weißt du, wann ich mich mit Alice treffe?''
''Das muss ich gar nicht. Du kommst immer zu spät, warum sollte das jetzt anders sein?''
Ich hob eine Augenbraue.
''Na gut'', gab Zoey zu, ''Vielleicht habe ich geschnüffelt.''
Lachend schüttelte ich den Kopf. ''Du bist wirklich unglaublich!''
''Danke. Normal sein wird überbewertet.''
''Okay, wir sehen uns dann morgen, schätze ich.''
''Ja, bis dann.''
''Bis dann.''
Eine halbe Stunde später stand ich vor dem Haus meiner besten Freundin und klingelte. Sofort öffnete sie.
''Hi'', sagte ich.
''Hi, komm rein!''
Wir liefen in ihr Zimmer. Sofort fiel mir etwas auf. Es war sehr ordentlich, noch ordentlicher als sonst. Das bedeutete, dass meine beste Freundin nervös war. Eine uralte Angewohnheit. Bei Stress oder Nervosität zu putzen hatte ihr schon immer geholfen.
''Sag nichts'', meinte Alice, ''Nur weil ich keine Angst habe, heißt das nicht, dass ich nicht ein bisschen nervös bin.''
Ich nickte nur und setzte mich auf das ausziehbare Sofa, auf dem ich heute Nacht schlafen würde. Meine Freundin tat es mir nach.
''Tut es eigentlich weh?'', fragte sie.
Ich setzte zu einer Antwort an, doch Alice bat noch: ''Lüg mich bitte nicht an.''
''Ja, es tut weh, aber nur kurz. Du wirst schnell ohnmächtig.''
Alice wurde blass, fing sich aber sofort wieder. ''Okay. Was ist das schlimmste?''
Ich überlegte kurz. Das war eine gute Frage, über die ich mir noch nie Gedanken gemacht hatte.
''Ich denke, bei mir war es das Aufwachen'', meinte ich schließlich, ''Nicht zu wissen, was passiert ist und dann konfrontiert zu werden, das war nicht schön. Aber bei dir wird das nicht so sein. Ich bleibe die ganze Zeit da.''
''Und warum machst du dir dann solche Gedanken?''
''Wegen vielem. Du wirst deine Familie anlügen müssen, aus deinem normalen Leben gerissen werden, jemandem das selbe antun müssen und kein Mensch mehr sein'', zählte ich auf.
''Meine Familie muss ich nicht anlügen, ich habe nur meine Eltern, die eh nie da sind, und ein normales Leben ist sowieso langweilig. Okay, ich gebe zu, jemanden zu verwandeln ist nicht schön, aber es gibt schlimmeres'', hielt Alice dagegen.
Ich hob die Hände. ''Okay, ich hab's ja verstanden, du hast kein Problem mit alledem.''
''Gut. Wie wäre es, wenn wir jetzt erstmal einen Film gucken? Ein paar Stunden Zeit haben wir ja noch.''
Natürlich war mir bewusst, dass Alice nur das Thema wechseln wollte, wie schon bei den unzähligen Unterhaltungen zuvor, aber ich ging darauf ein. ''Okay, was willst du gucken?''
Fünf Minuten später hatten wir uns auf Maleficent geeinigt und saßen im Wohnzimmer auf dem Sofa.
Ich versuchte mich auf den Film zu konzentrieren, aber meine Gedanken schweiften immer wieder ab. Mit jeder Sekunde die verstrich kam Alice's Verwandlung näher. Immer wieder schielte ich auf meinen Finger, und als er gegen Mitternacht anfing weh zu tun und sich eine Kralle bildete, zuckte ich zusammen.
Alice bemerkte meinen Schock natürlich. Sie sah die Kralle und wich unwillkürlich ein Stück zurück. Das war zwar verständlich, trotzdem versetzte es mir einen Stich ins Herz. Ich schloss kurz die Augen, und als ich sie wieder öffnete, saß Alice wieder direkt neben mir.
''Dann mal los'', meinte sie mit einem schwachen Lächeln.
Ich machte den Fernseher aus und nickte langsam. ''Bist du bereit?''
Alice blickte kurz auf die Kralle an meiner Hand, die immer stärker zu schmerzen begann, aber ich ignorierte es. Nun reckte meine beste Freundin den Kopf und schaute mir in die Augen.
''Ich bin bereit'', nickte sie, ''Lass es uns einfach hinter uns bringen.''
Vorsichtig setzte ich die silbern schimmernde Kralle an ihrer linken Schläfe an.
Alice schloss die Augen, als ich ihr quer über die Stirn krazte und ein leises Wimmern kam ihr über die Lippen, aber mehr ließ sie sich nicht anmerken.
In diesem Moment zuckte ein brennender Schmerz durch meinen Finger, aber es war kein schlechter Schmerz, sondern irgendwie befreiend. Ein kurzer Blick verriet mir auch wieso. Die Kralle war verschwunden.
Länger konnte ich jedoch nicht darüber nachdenken, denn Alice's Körper wurde schlaff und sie sackte in sich zusammen.
Gerade bevor sie den Boden erreichte, fing ich sie auf. Sanft hob ich sie hoch und trug sie in ihr Zimmer. Dort legte ich sie in ihr Bett und deckte sie zu. Dann schaute ich mir ihre Stirn an.
Es blutete nicht, und man konnte keine offene Wunde sehen. Lediglich eine schmale helle Linie führte von der einen Schläfe zur anderen.
Zitternd ließ ich mich aufs Sofa fallen. Ich hatte es geschafft. Alice war nun eine Fairy. Ich war erleichtert, hatte aber dennoch Schuldgefühle. Warum wusste ich selbst nicht genau, immerhin hatte meine beste Freundin immer wieder betont, dass es in Ordnung für sie war.
Mit einem Seufzer ließ ich mich nach hinten ins Kissen sinken und schlief beinahe sofort ein. Nur um mich wieder auf der Wiese in meinem Traum zu befinden.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro