Kapitel 24
Am nächsten Abend war Zoey nervös. Richtig nervös. In zwei Stunden mussten wir schon los und die schwarzhaarige Fairy war ein einziges Nervenbündel. Ständig tigerte sie im Aufenthaltsraum hin und her, schaute auf die Uhr und kaute auf ihrer Unterlippe herum.
Heute Vormittag war sie noch einmal in der Stadtmitte gewesen und war bei einer Kunstausstellung gewesen, aber nicht, weil sie sich wirklich dafür interessierte, sondern weil Liyana dort aushalf und Zoey sich entschieden hatte sie vorab schon mal kennen zu lernen. Jetzt war sie aber noch mehr davon überzeugt, dass sie so Liyanas Leben zerstören würde. Ich kannte das Gefühl nur zu gut und wollte ihr helfen, aber ich wusste ebenfalls aus eigener Erfahrung, dass nichts, was ich sagen könnte, ihr helfen würde.
Wenigstens konnte ich heute Abend mitkommen und ihr beistehen. Denn das würde ihr helfen, das wussten wir alle. Zoey mochte mit ihrer direkten Art vielleicht vorlaut und manchmal sogar etwas gefühllos wirken, aber sie brauchte ihre Freunde in so einer Situation genau so sehr, wie jeder andere auch. Wenn nicht sogar noch mehr, was zu einem großen Teil auch mit ihrer Vergangenheit zu tun hatte, zumindest vermutete ich das, sie gab nur sehr wenig von der Zeit vor ihrer Verwandlung preis. Alles was ich wusste war, dass ihre Eltern zwar noch lebten, sie aber wenige Wochen bevor sie sechzehn wurde rausgeworfen hatten. Diese Narben waren noch nicht verheilt und Zoey hatte Angst noch einmal verlassen zu werden und allein zu sein.
Darum war es gut, dass der Rat (ich konnte mich noch immer nicht wirklich dazu zählen) mir erlaubt hatte, sie zu begleiten. Natürlich nur um mehr über die Flügel rauszufinden, aber das war mir eigentlich mehr oder weniger egal.
"Zoey, beruhig dich, es wird alles gut", redete Zack ihr gut zu und sie nickte.
"Wahrscheinlich hast du recht, was ist schon groß dabei? Jeder schafft das, es ist ein Kinderspiel! Okay, was machen wir jetzt?"
Sie wollte sich ablenken. Eine gute Taktik. Einfach ignorieren was kommen würde, wie oft hatte ich selbst das schon getan? Leider hielt die Wirkung nie besonders lange an.
"Du solltest was essen", meinte Alice, ''In den letzten Tagen hast du kaum was runterbekommen.''
Zoey nickte. ''Gute Idee.''
Zu viert gingen wir in die unfassbar große Küche des HoF, machten Sandwiches und suchten Limonade in den hellbraunen Schränken.
''Limo gibt's zwar keine, aber ich hab Cola und Kekse gefunden'', verkündete Zoey schließlich.
''Die Sandwiches sind auch fertig'', meinte ich.
Wir luden alles auf ein kleines Tablet und gingen in Zoeys Zimmer. Dort setzten wir uns auf ihr Bett und begannen zu essen. Währenddessesn redeten wir über die unterschiedlichsten Dinge um Zoey abzulenken, auch wenn sie vor Aufregung wahrscheinlich kaum zuhören konnte.
''Wir müssen gleich los'', stellte ich nach einer Weile fest. Es war bereits 23 Uhr und um Mitternacht wäre es soweit.
''Okay, dann lass uns gehen'', sagte sie und stand auf, ''Ich bin bereit.''
Sie nahm das Schmerzmittel für Liyana vom Tisch und verstaute es in einem kleinen Rucksack, den sie dann aufsetzte. Ich stand ebenfalls auf ud ging zur Tür.
Alice und Zack umarmten Zoey noch kurz und nahmen dann das Tablet mit um es wegzuräumen. Die schwarzhaarige Fairy und ich verließen unterdessen das HoF und fuhren mit Zoeys Auto zu Liyanas Haus. Das heißt, sie fuhr und ich versuchte eine halbwegs bequeme Position für meine Flügel zu finden, ohne sie meiner Freundin ins Gesicht zu schlagen oder abzubrechen. Obwohl ich mir bei beidem nicht ganz sicher war, ob es überhaupt möglich war. Lebendige Wesen konnten die Flügel warum auch immer ja nicht berühren, und ob Letzteres passieren konnte, wollte ich lieber nicht rausfinden.
Zum Glück dauerte die Fahrt nicht all zu lang und wir befanden uns bald bei einem Feldweg, wo Zoey anhielt. Weit und breit war kein Haus zu sehen, es gab nur Felder, bei denen ich nicht genau sagen konnte, was dort wuchs. Im Anbetracht meiner Verbindung zu Pflanzen sollte ich mich wohl etwas mehr mit Botanik beschäftigen.
Auf meine unausgesprochene Frage hin erklärte Zoey: ''Liyana wohnt mit ihrer Mutter auf einem Bauernhof weiter hinten im Feld. Mit dem Auto können wir nicht näher ran fahren, sonst merkt sie etwas.''
''Ach so.'' Wir stiegen aus und ich stieß erleichtert die Luft aus. Autofahren mit Flügeln war nicht die angenehmste Art der Fortbewegung. Ein Grund mehr Fliegen zu lernen.
Die Nacht war sternenklar, aber kühl. Ich merkte, dass es langsam Herbst wurde. Wie schnell die Zeit vergehen konnte.
Während wir den vom Halbmond beleuchteten Weg entlangliefen merkte ich, dass Zoey wieder nervös auf ihrer Unterlippe herumkaute. Ich beschloss sie abzulenken. ''Was läuft eigentlich zwischen Alice und Zack.''
Offensichtlich erleichtert über etwas anderes nachdenken zu können erzählte sie: ''Es hat kurz nach dem Kampf angefangen, als alles noch so chaotisch war. Zack ist die ganze Zeit wie ein aufgescheuchtes Huhn zwischen der Krankenstation und den Versammlungen hin und her gerannt, irgendwann hat Alice ihn dann gezwungen sich auszuruhen. Meine Güte, sie hätte ihn fast irgendwo festgebunden! Aber wie Zack nun mal ist hat er schnell einen Weg gefunden sie auszutricksen. Keine Ahnung wie er das geschafft hat, aber irgendwann sind sie dann zusammen durch die Gegend gerannt und haben sich um alles gekümmert. Die meisten anderen waren ja noch verletzt. So sind sie sich irgendwie näher gekommen, aber sag es ihnen nicht, sie streiten alles ab.''
''Ja, das klingt definitiv nach den beiden.'' Mittlerweile waren wir vor einem kleinen Haus aus rotem Backstein angekommen. Es hatte ein ebenfalls rotes Dach und daneben stand eine große Scheune, in der ich Pferde oder Kühe vermutete. Hin und wieder gab es kleine Grasflächen, die nicht extra bepflanzt waren. Dort wucherte das Gras und Unkraut, aber es war eine passende Abwechslung zu dem sonst sehr ordentlichen Grundstück. Etwas weiter hinten entdeckte ich eine Schaukel. Ob Liyana wohl ein kleines Geschwisterchen hatte? Oder war das Spielgerät aus Kindheitstagen übrig geblieben?
Wir gingen leise um das Haus herum und Zoey öffnete ein Kellerfenster, durch das sie ins Haus gelangte. Wieder etwas, bei dem die Flügel stöhrten. Ich passte mit ihnen nicht hindurch. Sobald ich mit ihnen den Fensterrahmen berührte, schoss ein brennender Schmerz duch meinen Rücken.
''Ich mache die Haustür auf'', flüsterte Zoey und verschwand.
Ich ging wieder zur Vorderseite des Gebäudes, wobei ich darauf achtete, mich bei den Fenstern zu ducken. Ich wusste ja nicht, ob noch jemand wach war.
Als ich bei der Tür ankam, hatte Zoey sie bereits geöffnet. Ich trat ein und stellte fest, dass es innen genau so gemütlich war wie außen. Auch wenn mir der Gedanke in ein fremdes Haus eingebrochen zu sein ganz und gar nicht gefiel. Aber wenn es mir schon so ging, wie musste es dann für Zoey sein?
''Alles okay?'', fragte ich.
''Klar, alle schlafen.''
''Das meine ich nicht, bist du okay?''
Sie seufzte. ''Ich muss es sein, oder?''
''Nein, es ist okay, nicht okay zu sein.''
''Na gut, aber es macht sowieso keinen Unterschied. Wir müssen uns beeilen, es ist fast soweit.'' Damit lief sie weiter. Ich folgte ihr. Sie wollte es wohl einfach so schnell wie möglich hinter sich bringen.
Wir kamen an einem kleinen Wohnzimmer vorbei, in dem die Wände mit Holzlatten und ein paar Bildern geschmückt waren, ein Sofa in einem undefinierbaren Farbton zwischen blassgrün und cremefarben stand, und der größte Teil des kleinen Fernsehers von einem Blumenstrauß verdeckt war. Der Gang, durch den wir gingen, war relativ schmal und es gab nur wenige Türen, die davon abzweigten. Wir gingen durch keine davon, stattdessen jedoch die Treppe am Ende des Flures hoch. Dort war der Gang kürzer, und es gab nur eine einzige Tür. Sie war wie vieles in dem Haus aus altem Holz und es hing ein rosafarbenes Namenschild daran, über dem eine rosafarbene Krone angebracht war. Beides war ziemlich alt und splitterte an ein paar Ecken bereits ab, aber es war bestimmt eine schöne Erinnerung. Unwillkürlich musste ich lächeln.
''Hier ist es'', sprach Zoey das Offensichtliche aus und zuckte im nächsten Augenblick zusammen. Auch ohne hinzusehen wusste ich, woran es lag. Zoey schaute kurz auf ihre rechte Hand, an der sich der Zeigefinger zu einer Kralle gewandelt hatte. Schnell guckte sie wieder weg, vergrub die Hand in ihrer Hosentasche und öffnete die Tür.
Das Zimmer, das dahinter lag, war ähnlich eingerichtet wie der Rest des Hauses. Altmodische Vorhänge, hölzerne Möbel und einige Bilder, wobei ich mir nun ziemlich sicher war, dass Liyana sie gemalt hatte, denn es gab eine Staffelei und einige Farbpalletten, die überall verteilt waren. Kreatives Chaos war hier wohl die passsendste Beschreibung.
''Wer ist da?'', ertönte eine verschlafene Stimme aus der Ecke des Zimmers, wo das Bett stand. Aus einer riesigen Masse an Kissen und Kuscheltieren richtete sich eine Gestalt auf. Das musste Liyana sein. Langsam hob sie den Kopf und gab sie einen leisen Schrei von sich.
Ich machte das Licht an und schloss die Tür, hielt mich dann aber, wie mit Nayla besprochen, weitestgehend im Hintergrund.
''Es ist alles in Ordnung, Liyana, du musst keine Angst haben'', versuchte Zoey die panische Jugendliche zu beruhigen.
Mittlerweile hatte sie sich aufgesetzt und war nach hinten gewichen. Ihr goldblondes Haar fiel ihr in Strähnen in das zierliche Gesicht und in den sturmgrauen Augen spiegelte sich nichts als Angst. ''Wer seid ihr? Was wollt ihr von mir?'', fragte sie panisch.
''Beruhig dich erst mal, dann können wir dir alles erklären'', bat Zoey und hob beschwichtigend die Hände. Ein Fehler, denn so sah Liyana die Kralle. Sofort sprang sie auf und rannte zur Tür um zu fliehen. Schnell stellte ich mich ihr in den Weg.
''Bitte tut mir nichts!'', flehte sie und krümmte sich wie zum Schutz zusammen.
''Das haben wir nicht vor'', versicherte ich ihr.
"Das haben die damals auch gesagt!", rief Liyana und versuchte sich vergeblich an mir vorbei zu drängen, "Aber das waren auch nur Lügen. Wieso sollte ich euch vertrauen?"
"Was meinst du mit 'die damals'? Bist du schonmal jemandem wie uns begegnet?" fragte ich. Das konnte schließlich eigentlich nicht sein. Die wichtigste Regel für uns Fairy war, dass Menschen nichts von unserer Existenz erfahren durften.
''Psychopathen? Ja.''
''Wir sind keine Psychopath...'' Zoeys Stimme brach, als sie sich nach Luft schnappend krümmte. Die Verwandlung war dabei verzögert zu werden.
Sobald sie sich beruhigt hatte, setzte sie erneut zum Sprechen an. ''Wir sind keine Psychopathen, das verspreche ich dir. Und ich weiß, dass du Angst hast, deshalb erwarte ich nicht, dass du uns vertraust, aber...''
Diesmal unterbrach Liyana sie. ''Genau, ich vertraue euch nicht. Ich kenne euch nicht und ich will nicht wissen wer ihr seid, also bitte, bitte geht einfach! Lasst mich einfach mein Leben leben wie bisher!''
''Tut mir leid, aber das geht nicht'', sagte Zoey, ''Es ist zwar ein bisschen viel auf einmal, aber wir sind Feenwesen, Fairy um genau zu sein, und ich muss dich verwandeln, sonst sterben wir beide.''
Liyana wurde blass. Nicht so ein bisschen blass als hätte sie sich erschreckt, sondern richtig weiß. ''Verwandeln? Fairy? Sterben? Ihr seid doch beide irre!''
''Das... erkläre ich dir... morgen'', brachte Zoey mit schmerzverzerrtem Gesicht hervor.
''Aber...'', begann Liyana, konnte aber nicht weitersprechen, da nun auch sie von einer Welle aus Schmerz überrollt wurde und erstickt aufschrie.
''Zoey, du musst dich beeilen'', sagte ich und sorgte dafür, dass Liyana nah genug bei Zoey war, damit diese sie verwandeln konnte. Vorsichtig strich sie Liyana das Haar aus der Stirn.
"Ich will nicht!", rief die und startete einen letzten Fluchtversuch. Ich packte sie an den Schultern und versuchte sie zu beruhigen. "Du musst keine Angst haben. Es wird alles gut."
Sie wollte etwas sagen, wurde aber wieder von heftigen Krämpfen geschüttelt. Zoey fuhr mit der Kralle blitzschnell über Liyanas Stirn und verwandelte sie so. Liyana schrie noch einmal kurz auf, fiel jedoch beinahe sofort in Ohnmacht. Ich legte sie vorsichtig ins Bett und deckte sie zu.
''Du hast es geschafft'', sagte ich zu Zoey.
''Ich hab es geschafft'', bestätigte sie mit einem erleichterten Lächeln.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro