Kapitel 4
Zwei Stunden, eine erfrischende Dusche und ein Bier später, erspähte ich meine beste Freundin Tammi, die sich durch die kalte Abendluft in das warme Innere des Heat's geflüchtet hatte. Ihre Augen suchten nach mir, und als sie mich entdeckte, kam sie winkend auf unseren Tisch zu, den Ryan, Raphy und ich uns direkt neben der Dartscheibe gesichert hatten. »Hey Leute!« grüßte sie fröhlich und wurde mit einem einstimmigen »Tamara« empfangen.
»Ich freu mich, dass du es einrichten konntest, mir mit dem Gesindel –« Ich deutete auf meine Brüder „Gesellschaft zu leisten.« Tammi legte lächelnd den Kopf zur Seite.
»Ich kann eine Freundin wohl schlecht im Stich lassen, oder? Außerdem...« Sie warf einen flüchtigen Blick in Raphy's Richtung, den ich nicht übersehen konnte. »... ich kann mir durchaus schlechtere Gesellschaft vorstellen.«
Es war kein Geheimnis, dass Tammi heimlich in Raphael verknallt war. Nur Raphy und Tammi schien das nicht wirklich bewusst zu sein, was die gelegentlichen, vielsagenden Blicke zwischen ihnen bedeuteten. Leider schien die Schwärmerei einseitig zu sein – Raphy war einfach nicht der einfühlsamste Typ, was romantische Gefühle anging, jedenfalls nicht gegenüber Tammi.
Plötzlich wurden meine Gedanken durch lautes Jubeln von Ryan unterbrochen, der gerade das Bull's Eye mit seinem zweiten Dart getroffen hatte. Doch als er seinen dritten Pfeil versemmelte und nicht einmal die Scheibe traf, wandte sich die Aufmerksamkeit der Zuschauer wieder ab.
»Willst du auch mal?« fragte Ryan Tammi, die ihn mit großen Augen ansah.
»Oh Gott, nein, ich denke, das wäre keine gute Idee. Vermutlich würde ich jemanden verletzen« stammelte sie und lehnte ab.
»Kommt ganz drauf an...« scherzte Ryan und bekam eine Faust auf die Schulter von Tammi.
»Oder Raphy zeigt dir, wie es geht« ertönte eine Stimme hinter mir. Ich brauchte mich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass es Ben war, der sich an die Bar gelehnt hatte und uns ansprach.
»Stimmt, immerhin hat er es geschafft, unserer Schwester das Darts-Spielen beizubringen. Dann schaffst du das auch, Tamara« ergänzte Ryan Ben's Vorschlag.
Ben's Stimme kam näher, er stand direkt hinter mir, als er mir ins Ohr wisperte: »Nur wissen wir alle, dass Robin mit viel mehr als nur spitzen Pfeilen schießt«.
Ich drehte mich zu ihm um, versuchte, meine Überraschung über seine plötzliche Nähe nicht anmerken zu lassen. »Sagt der mit der Waffe im Holster«.
Einen Moment lang herrschte Stille, bis Raphy die Spannung aus der Luft nahm.
»Wow, wow, wow, immer ruhig mit den wilden Pferden, Cowboys«. Er stand auf, nahm Ryan die Darts aus der Hand und traf locker dreimal das Bull's Eye. »So gewinnt man ein Duell« prahlte er und übergab die Pfeile an Tammi.
»Komm her« forderte Raphy sie auf und positionierte Tammi vor seiner Brust mit Gesicht Richtung Scheibe. »Hier, stell dir einfach vor, dass die Scheibe...«, doch mehr bekam ich nicht mit, denn ein schwarzer Mercedes-Geländewagen hielt vor der Bar. Ein älterer Mann in grüner Jägerkluft stieg aus, gefolgt von einem jüngeren Mann, etwa in Raphy's und Ben's Alter. Die Ladentür öffnete sich, und alle Einheimischen hielten einen Moment inne, musterten die Fremden, bevor sie sich wieder ihren Gesprächen widmeten.
Der kalte Wind, der mit dem Eintreten der beiden Männer in die Bar hereinkam, ließ mich frösteln. Eine böse Vorahnung überkam mich: Vielleicht waren diese beiden nicht einfach nur Touristen. Vielleicht waren sie Hobbyjäger, die es sich leisten konnten, einen Senator zu bestechen, um ein Gebiet zu Freiwild zu erklären. Solche Typen machen Jagdausflüge, bei denen geschützte Arten wie Grizzlybären, Wölfe und Bisons als Trophäen enden – und das hat immer auch Konsequenzen für das gesamte Ökosystem.
»Bitte mach keinen Ärger« murmelte Ben der mich besorgt beobachtete.
»Ich wette, dass diese Männer« er deutete mit seiner Bierflasche auf die Fremden, »lassen sich nicht so einfach zufriedenstellen lassen wie der alte Owen.«
»Man muss doch irgendwas dagegen tun können?« bat ich fast flehend.
»Du weißt doch, wie der Hase läuft, Robin. Die Reichen haben alles und dürfen alles. Fressen oder gefressen werden«. Ben sagte das mit einer ironischen Note, aber ich wusste, dass er, wenn er könnte, die Wilderer von hier fernhalten würde. Auch er war, trotz seiner Position als Gesetzeshüter, machtlos, wenn keine rechtlichen Vergehen vorlagen.
»Töten oder getötet werden« murmelte ich.
»Ich warne dich. Lass es bleiben, Robin. Und das sage ich dir nicht nur als Freund!« Seine Warnung kam mit einem leisen Knurren.
»Aye, Aye, Sheriff.«
Ich trank mein Bier aus, hob die leere Flasche in die Luft und tat so, als wäre nichts gewesen. »Ich hol mir mal ein Neues. Willst du auch?« fragte ich, obwohl Bens Flasche offensichtlich noch nicht leer war. Er zeigte mir mit einer Handbewegung, dass er noch eine volle Flasche hatte.
Im Hintergrund jubelten meine Brüder, weil Tammi zum ersten Mal die Darts-Scheibe getroffen hatte.
Ich schlängelte mich durch die Bar, die für einen Donnerstagabend erstaunlich voll war. Als ich gerade einen Weg zur Bar bahnte, wurde ich von hinten angerempelt. Irritiert drehte ich mich um und blickte direkt auf eine breite Männerbrust.
Ich hob den Blick und sah in die Augen des jungen Mannes, der aus dem Geländewagen gekommen war. Er entschuldigte sich: »Verzeihung, ich wollte dir nicht zu nahetreten«.
Dabei machte er eine abwehrende Geste mit den Armen.
»Bist du nicht...« nuschelte ich, während ich mich wieder Sam, dem Barkeeper, zuwandte. »Kommst du von hier?« Die Frage des Fremden ließ mich innehalten.
»Wieso?» fragte ich misstrauisch.
»Ich hatte gehofft, du könntest mir etwas empfehlen« sagte er und lächelte mich freundlich an. Sein Lächeln ließ mich ihn erneut ansehen.
»Sam hat alles, was das Herz begehrt.« Ich ließ meinen Blick an ihm hoch und runter wandern. »Wenn es etwas Exklusiveres sein darf, musst du ihn selbst fragen.«
Er schien meine Bemerkung über sein Erscheinungsbild bemerkt zu haben und schmunzelte. Es gefiel ihm offenbar, dass ich meine Abneigung nicht versteckte.
»Und was darf es bei dir sein?« Er lehnte sich neben mich an den Tresen und beobachtete mich abwartend.
»Ein Bier...« murmelte ich, leicht überfordert. Flirtete der Typ etwa mit mir? Verwirrt sah ich ihm zu, wie er die Hand hob und Sam auf sich aufmerksam machte.
»Wir hätten gerne zwei Bier« sagte er, und schon hielten wir die Flaschen in der Hand.
»Na dann, Prost!« sagte er und stieß mit seinem Flaschenhals gegen meinen.
»Prost. Und danke« antwortete ich noch immer sichtlich verwirrt und nahm einen Schluck.
»Ich hoffe, dein Freund hat nichts dagegen, dass ich dich auf den Drink eingeladen habe« sagte er, als er sein Bier absetzte.
Ich runzelte die Stirn. »Wie meinst du?«
Er nickte in die Ecke, wo meine Brüder sich um die Dartsscheibe stritten. »Das? Das sind nur meine Brüder« erklärte ich, verwirrt und überrascht von seiner genauen Beobachtung.
»Ich meinte den Cowboy da« sagte er und deutete auf Ben, der wie gewohnt seinen weißen Cowboyhut trug. Der Hut war ein Erbstück seines Großvaters, den er gerne trug, besonders wenn er ausging. Als Teenager wurde er deswegen gerne belächelt, aber heute war es sein Markenzeichen. Ben war irgendwie nicht Ben, wenn er seinen Hut nicht trug.
»Ben?« ich schüttelte den Kopf. »Oh Gott nein!« Ich nahm einen weiteren Schluck Bier.
»Er ist hier Sheriff« versuchte ich zu erklären, warum Ben mich so intensiv ansah.
Der Fremde nickte erleichtert. »Und wieso starrt er dich dann so an?«
»Vermutlich, weil ich auf Bewährung bin« scherzte ich, und für einen Moment genoss ich, wie sich die Gestik des Fremden anspannte.
»Das war ein Scherz!« fügte ich schnell hinzu, erst dann entspannten sich seine markanten Gesichtszüge wieder ein wenig.
Vielleicht lag es am Alkohol oder daran, dass ich langsam Gefallen an der Unterhaltung gefunden hatte, aber ich begann zu überlegen, ob ich den Fremden vielleicht voreilig beurteilt hatte. Vielleicht waren er und sein Vater doch nicht hier, um zu jagen. Ich entschloss mich, dem Gespräch eine faire Chance zu geben und hoffte auf weitere Informationen, um eine Jagdabsicht auszuschließen.
»Also, du bist offensichtlich nicht von hier« stellte ich fest.
»Washington« bestätigte er.
»D.C.?« bohrte ich nach, doch er schüttelte den Kopf.
»Jetzt mach es schon nicht so spannend!« forderte ich und stieß ihn leicht an.
»Ich komme aus dem Bundesstaat Washington« erklärte er. Seine verwaschenen Antworten weckten meine Neugier.
»Ach was« antwortete ich ironisch.
»Also Seattle? «riet ich weiter und fand Gefallen an unserem kleinen Ratespiel.
»Hundert Punkte für Gryffindor!« prostete er mir zu, und ich stieß mit einem verzogenen Gesicht an.
»Auf die Gefahr hin, dass ich gleich gesteinigt werde, aber ich bin absolut kein Harry-Potter-Fan« gestand ich, und sein ungläubiger Gesichtsausdruck ließ mich lachen.
»Und ich bin der Grinch« behauptete er.
»Es freut mich, die Bekanntschaft zu machen, Mr. Grinch« sagte ich und machte eine verbeugende Geste, während ich lachte.
»Die Freude ist ganz meinerseits.« Sein helles Lachen hallte wie ein Fremdkörper durch die Bar. Ich war mir sicher, dass ich dieses Lachen überall wiedererkennen würde.
»Was treibt euch dann in den weißen Norden Montanas?« fragte ich und bemerkte, wie sich seine Miene für einen Moment verdunkelte.
»Mein Vater und ich verbringen hier die Feiertage« antwortete er.
»Weihnachten?« fragte ich verwundert.
»Oder kennst du noch weitere Feiertage zwischen Thanksgiving und Neujahr?« scherzte er. »Das sind fast sechs Wochen bis dahin« schlussfolgerte ich.
»Stimmt« bestätigte er und nickte.
Ich hatte das Gefühl, dass der Fremde nicht besonders begeistert war, hier sein zu müssen. Andererseits bedeutete das, dass sie nicht mit der Absicht zum Jagen hier waren. Ich überlegte nicht lange und fragte nach der Unterkunft.
»Wieso? Willst du mich dort besuchen kommen?« Er zuckte mit den Augenbrauen, und für einen Moment war es mir unangenehm, dass er die Frage so auffasste. Gerade als ich begann, vor mich hin zu stammeln, löste er die unangenehme Stimmung auf. »Meiner Familie gehört das Manor Hill.«
»Das Manor Hill am Stadtrand?« fragte ich, und als er nickte, fiel mir ein, dass das Anwesen jahrelang leer gestanden hatte.
»Ich dachte, die Besitzer wären gestorben...« flüsterte ich mehr zu mir selbst, aber der Fremde hatte es gehört.
»Ja« bestätigte er, und mir wurde klar, wie blind ich gewesen war.
»Shit!« stieß ich hervor und starrte ihn mit großen Augen an. Verlegen legte er den Kopf zur Seite und zupfte am Etikett seiner Bierflasche.
»Sie war meine Mutter« sagte er.
Mit offenem Mund starrte ich ihn an und wünschte mir, in einem Loch im Erdboden verschwinden zu können. »Das tut mir unfassbar leid. Mein Beileid« sagte ich aufrichtig.
»Danke« sagte er, und ein schwaches Lächeln zuckte über seine Lippen. Wir nahmen gleichzeitig einen Schluck aus unseren Flaschen.
»Es sind noch einige Abwicklungen bezüglich des Herrenhauses und des Erbes nötig. Wir wollen uns dafür die Zeit nehmen und Weihnachten dort verbringen, wo meine Mum aufgewachsen ist. Ein letztes mal« erklärte er, ohne dass ich nachfragen musste.
»Na dann« sagte ich und hielt ihm mein Bier hin, um anzustoßen. »Willkommen in Fairfield.«
Sein Vater kam aus dem hinteren Teil der Bar mit köstlich duftenden Bratkartoffeln und Burgern in Pappkartons zu uns, was das Stichwort zum Aufbruch war.
»Ich hoffe, man sieht sich mal, Potter« scherzte er und reichte mir den Rest seines Biers.
»Mr. Grinch« grinste ich zurück und nickte ihm zu.
Als ich zu den anderen zurückkehrte, war die Stimmung nach wie vor ausgelassen. Tammi sorgte für großen Jubel, als sie ihre Dartpfeile auf der Scheibe versenkte.
»Alles klar?« fragte Ben, als ich mich neben ihn an den Tresen lehnte.
»Alles bestens« antwortete ich und lächelte ihn herausfordernd an. „Alles bestens."
»Das will ich doch hoffen« sagte er und prostete mir zu.
»Du kannst deine Handschellen stecken lassen, Cowboy« scherzte ich und stieß mit ihm an.
Der Abend hatte sich in eine gemütliche Atmosphäre verwandelt. Als die Musik leiser wurde, und die Gespräche sich in auslaufende Unterhaltungen verwandelt hatten, lächelte ich mit Blick auf die leeren Gläser auf dem Tisch. Ich schloss die Augen um den Augenblick und die Stimmung um mich herum in mir aufzunehmen. Einer nach dem anderen verabschiedeten sich die Gäste, und die Bar begann sich zu leeren. Die letzten verbliebenen Besucher plauderten in gedämpften Tönen, während die Barhocker wieder an ihren Platz gerückt wurden. Als es an der Zeit war, sich von Sam zu verabschieden, machte ich mich mit meinen Freunden auf den Weg nach draußen. Die kalte Novemberluft empfing uns, als wir die Bar verließen, aber die Wärme der gemeinsamen Stunden begleitete uns noch ein Stück weit auf unserem Heimweg.
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