Kapitel 2
Am Morgen wurde Riley vom Stampfen und Schnauben der Pferde geweckt. Auch Braveheart wurde unruhig und so stand der 22-Jährige schnellstens auf, bevor sein Wallach ihn in Grund und Boden trampeln konnte. Normalerweise benahm der sich nicht so, aber die fremde Umgebung machte das schwere Kaltblut nervös.
Riley schüttelte sich Stroh aus den Haaren und schwankte zur Boxentür, so richtig wach war er noch nicht. Das lag weniger daran, dass die Nacht zu kurz gewesen war, als an der Tatsache, dass ihn wieder dieser Traum geplagt hatte. Seit dem schrecklichen Unfall vor mehr als zehn Monaten fand er nachts keine Ruhe mehr. Dabei war es weder seine Schuld noch war er überhaupt darin verwickelt gewesen, allerdings war Tyler, sein Lebensgefährte der letzten vier Jahre, dabei ums Leben gekommen.
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Am Unfalltag war Tyler, trotz Regen und Kälte, mit seiner Harley zur Arbeit gefahren.
Riley saß zu Hause, mit der Nase in den Büchern für sein Studium, als das Handy klingelte. Es war Tys Boss, der wissen wollte, ob sein Mitarbeiter krank sei, weil er nicht zur Arbeit erschienen war. Das sähe dem zuverlässigen Junggrafiker gar nicht ähnlich und darum hätte er nachfragen wollen, ob alles okay sei.
Riley wurde es abwechselnd heiß und kalt ... sollte sein Lebensgefährte etwa wieder ...? Nein, daran wollte er gar nicht erst denken, aber wo war sein Freund dann?
Der 22-Jährige stammelte eine Notlüge, etwas über einen wichtigen Termin, den Tyler wohl vergessen hatte weiterzuleiten.
Zum Glück gab sich dessen Boss damit zufrieden und beendete das Gespräch.
Voller Panik stürmte Riley aus dem Haus. Er rannte zu seinem Auto, ohne zu wissen, wo er eigentlich hinwollte und war gerade dabei, die Tür zu öffnen, als ein Polizeiwagen auf den Hof fuhr.
Was dann passiert, kam ihm heute noch wie ein Alptraum vor.
Tyler war auf halber Strecke mit einem Lastwagen kollidiert, der ihm die Vorfahrt genommen hatte. Zwar lebte sein Freund noch, war aber so schwer verletzt, dass er ins Koma gefallen war.
Riley hörte die Worte des Polizisten wie durch Watte, als stünde dieser nicht unmittelbar vor ihm.
Sein ganzer Körper fühlte sich taub an.
»Es tut mir sehr leid«, diese Worte rissen ihn schließlich aus seiner Benommenheit und er hob den Blick.
»In ... welchem ... Krankenhaus ...?«, stammelte er, kreidebleich im Gesicht.
Nachdem der Polizist ihm die gewünschte Information gegeben und noch mehrfach gefragt hatte, ob alles mit ihm okay sei, was der junge Mann bejahte, verließen die Beamten das Gelände.
Riley sprang in seinen Wagen und raste, fast blind vor Tränen, Richtung Krankenhaus.
Die nächsten zwei Wochen verbrachte er, fast vierundzwanzig Stunden jeden Tag, bei seinem Lebensgefährten auf der Intensivstation. Die Ärzte machten ihm von Anfang an keine Hoffnungen, dass sein Partner je wieder aus dem Koma erwachen würde und sie behielten recht. Mitte Februar starb Tyler in seinen Armen.
Die Beerdigung ertrug Riley wie in einer Art Trance, seine seelischen Schmerzen betäubte er mit Arbeit und sein einziger Trost war Braveheart.
Aber die Alpträume wollten nicht enden und so entschloss sich Riley schließlich schweren Herzens, den Ort mit den vielen Erinnerungen für immer zu verlassen ...
~
»Guten Morgen«, rief Johanna gutgelaunt, während sie die Pferde mit Heu versorgte. Als diese zufrieden kauten, kam sie zu Riley herüber, der sich auf einem Ballen Stroh im Gang niedergelassen hatte.
»Guten Morgen. Sorry, ich bin noch nicht wirklich wach«, brummelte der Angesprochene leise und zwang sich zu etwas, das ein Lächeln darstellen sollte. Johanna strahlte ihn an: »Ist doch kein Problem. Die Nacht war ja auch relativ kurz.«
Riley schaute auf seine Uhr und nickte ... gerade mal sieben.
»Also du kannst gerne mit ins Haus kommen zum Frühstücken und 'ne Dusche gibt's da auch«, fuhr Johanna fort.
Ihr Gegenüber schaute auf seine Stiefelspitzen: »Nein, das kann ich nicht annehmen. Du hast schon genug für mich getan ... trotzdem danke für das Angebot.«
»Also, wenn du keine Almosen annehmen willst«, Johanna lachte, »kannst du das gerne hier abarbeiten. Ich kann Hilfe gebrauchen, weil unser Stallbursche im Winter immer mit aufs Festland geht. Helfende Hände sind immer willkommen. Überleg's dir.« Damit drehte sie sich um und ging langsam Richtung Stalltüre.
Nun befand sich Riley in einer Zwickmühle. Einerseits brachte der Hunger ihn fast um, andererseits wollte er sich hier nicht verpflichten und sesshaft werden. Aber vielleicht sollte er das Angebot doch erst mal annehmen?! Dann hätten er und sein Pferd ein Dach über dem Kopf und er konnte zudem noch Geld verdienen. Außerdem stand der Winter ins Haus und da war man besser gut untergebracht, die Tage und vor allem Nächte hier auf der Insel, waren um einiges kälter als auf dem Festland. Also gab er sich einen Ruck, erhob sich von dem Strohballen und folgte, nach einem letzten prüfenden Blick auf Braveheart, Johanna aus dem Stallgebäude.
Zwei Stunden später kehrte er satt und gut gelaunt in den Stall zurück, wo ihn Braveheart mit einem leisen Wiehern begrüßte. Riley öffnete die Box und führte sein Pferd in die Stallgasse, wo er den Wallach anband. Dann schnappte er sich das Putzzeug und fing an das Fell des Tieres zu striegeln und zu bürsten. Zu guter Letzt kratzte er die Hufe seines Pferdes aus, bevor er es sattelte. Er führte Braveheart auf den Hof und schwang sich auf seinen Rücken. Es schien ein schöner Tag zu werden, denn die Sonne hatte die Oberhand über die Wolken gewonnen. Für einen Moment schloss Riley die Augen und genoss die Wärme der Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht.
»Na, wo soll es denn hingehen?«
Johannas Stimme brachte ihn in die Realität zurück, er öffnete die Augen wieder und sah sie an.
»Ich wollte mich etwas in Visby umsehen und danach vielleicht noch einen Ausritt durch die Umgebung machen.«
»Na dann: Viel Spaß und bis später. Genieße deinen letzten freien Tag.« Johanna winkte ihm zu und verschwand im Stall. Ein wenig schlechtes Gewissen ihr gegenüber hatte Riley jetzt doch. Sollte er nicht hier bleiben und ihr bei der Arbeit helfen? Schließlich hatte er ein richtig üppiges Frühstück vorgesetzt bekommen und würde heute Abend auch noch etwas zu essen kriegen, wenn er denn wollte. Aber Johanna hatte auch gesagt, er solle sich erst einmal erholen und ein wenig einleben, bevor er seine Arbeit auf dem Hof aufnahm. So schüttelte Riley seine Bedenken ab, schnalzte mit der Zunge und Braveheart zuckelte im Schritt los in Richtung Visby.
Der Weg war nicht allzu weit und als er durch die schweren Holztore in die Stadt ritt, kam der junge Mann sich vor, wie in ein anderes Jahrhundert zurückversetzt.
Ganz Visby war von einer hohen, dicken Stadtmauer umgeben, die Gebäude schienen uralt zu sein und die Straßen waren allesamt mit Kopfsteinpflaster bedeckt - dies alles war ganz nach seinem Geschmack. Bravehearts Hufschlag hallte von den Häuserwänden wieder, als sie am Stadtwächter vorbeiritten, der ihnen freundlich zunickte. Ein Stück weiter lenkte Riley sein Pferd schließlich links um die Ecke und ritt auf einen Marktplatz zu, in dessen Mitte sich ein großer Brunnen befand.
Da schien der Haupttreffpunkt der Einwohner zu sein, denn es herrschte reges Treiben.
Der junge Mann stoppte seinen Wallach kurz vor dem Platz und ließ seinen Blick schweifen.
Hier spielten einige Kinder Fangen, dort standen ein paar ältere Frauen plaudernd am Brunnen und circa zehn kräftige Männer waren dabei, einen riesigen Weihnachtsbaum aufzusetzen.
Kaum einer beachtete Riley, dazu waren alle zu beschäftigt.
Braveheart stupste ihn mit der Nase an.
»Sorry Junge, du hast bestimmt Durst, komm wir gehen zum Brunnen«, damit führte er sein Pferd über den Platz und musste dabei den geschäftigen Weihnachtsbaumschmückern ausweichen.
Bravehearts halber Kopf verschwand im kalten Wasser. Riley lehnte sich an sein Pferd und sah sich weiter um, dabei fiel sein Blick auf einen jungen Mann, der auf der anderen Seite des Brunnens stand, etwas abseits von den anderen Leuten.
Auch er hatte ein Pferd bei sich und Rileys Blick glitt über das schöne Tier, dann zurück zu seinem Besitzer. Dieser mochte wohl so ungefähr in seinem Alter sein, vielleicht etwas jünger. Er hatte blonde Haare, die ein ganzes Stück länger waren als seine eigenen, und die er zu einem Zopf gebunden trug.
Das Faszinierendste an dem Typ waren jedoch seine Augen. Noch nie hatte Riley ein so intensives Grün gesehen, wie dieses.
Minutenlang stand der 22-Jährige da und starrte den Fremden wie hypnotisiert an, als ihm plötzlich klar wurde, dass sein Gegenüber ihm genau in die Augen sah ...
Die Schamröte schoss Rye ins Gesicht, so peinlich war ihm mit einem Mal sein Starren. Was sein Gegenüber jetzt wohl von ihm dachte? Der hielt ihn bestimmt für einen Freak ...
Eigentlich war es gar nicht Rileys Art, andere Menschen so penetrant mit Blicken zu fixieren, aber irgendwas hatte dieser Typ. Selbst jetzt hatte er Mühe, seine Augen von dem Fremden abzuwenden. Was zum Teufel ist denn mit dir los? Reiß dich zusammen! rief Riley sich selbst zur Ordnung und wandte sich Braveheart zu, der fertig mit Trinken war und seine nasse Nase an der Jacke seines Besitzers trocken rieb. Dieser schob seinen Wallach sanft zur Seite und sagte leise: »Na, dann lass uns mal verschwinden und ein bisschen die Gegend erkunden.«
Damit warf er einen letzten, kurzen Blick hinüber zur anderen Brunnenseite, aber der Fremde hatte sich mit seinem Pferd aus dem Staub gemacht.
So schwang Rye sich auf den Rücken seines Nordschweden und ritt im Schritt über den Marktplatz, um die Geschäfte zu inspizieren.
Zwei Stunden später waren Riley und sein Pferd unterwegs im schönen Umland von Visby.
Zuvor hatte er für sich ein Café am Marktplatz gefunden, um noch einen Tee zu trinken. Somit war er zwar jetzt pleite, aber morgen würde er seinen Job bei Johanna antreten und er hoffte, dass dabei doch die eine oder andere schwedische Krone herausspringen würde.
Nach einer Weile erreichten sie einen Wald, den sie im leichten Trab durchquerten, bis sie wieder auf einer Straße landeten.
Langsam wurde es dunkel, was aber mehr daran lag, dass sich die Sonne hinter dicken Wolken verzogen hatte.
Für einen Moment schloss Riley die Augen und sog die eisige Winterluft in seine Lungen, während Braveheart im Schritt unter ihm weiterlief. Sein Pferd hatte sich instinktiv in Richtung Stall orientiert. Riley öffnete die Augen wieder und kraulte das Kaltblut unter der Mähne.
»Du hast recht, wir sollten sehen, dass wir nach Hause kommen.«
Damit trieb er den Wallach an und der fiel in einen, für ihn typischen, gemütlichen Galopp.
Eine weitere Stunde später durchquerten sie das Tor zum Visby-Stall. Johanna, die gerade den Hof kehrte, winkte ihm zu, »Denk dran, um sechs gibt es Essen.«
Eigentlich wollte Riley ablehnen, denn er war hundemüde, aber er wollte seine zukünftige Chefin nicht enttäuschen. Während er von Bravehearts Rücken glitt, antwortete er: »Okay, dann sehen wir uns später.«
»Prima, bis gleich«, rief Johanna und verschwand in dem großen Wohnhaus auf der linken Seite des Hofs.
Währenddessen brachte Riley sein Pferd in die Box, nahm ihm Sattel und Zaumzeug ab und ging dann los, um etwas Heu für seinen vierbeinigen Freund zu holen. Als er sich mit einem halben Ballen auf dem Arm zurück auf den Weg zu seinem Wallach machte, wurde ihm bewusst, dass in der Box neben Braveheart, die bei seiner Ankunft noch leer gewesen war, ein Pferd stand. Es musste wohl noch jemand auf der Suche nach Unterkunft gewesen sein. Als er an der Box vorbeiging, schob sich ein schwerer Kaltblutkopf über die Türe und stibitzte etwas von dem Heu auf Rileys Arm.
»Hey«, lachte dieser und kraulte dem Braunen die Nase, »das ist für meinen Dicken. Aber warte 'nen Moment, ich hol dir auch was.«
Er warf das Grünfutter neben Bravehearts Krippe und dieser vergrub sofort seinen halben Kopf darin. Riley drehte sich um und holte auch für das fremde Tier eine große Ladung, öffnete die Box, drängte das wuchtige Pferd etwas zurück und legte das Heu auf den Boden neben der Tür. Auch hier verschwand der dicke Kopf sofort bis zu den Augen im Futter, was bei Riley für ein Lächeln sorgte. Er betrachtete den braunen Wallach genauer und ihm wurde schlagartig klar, dass er dieses Pferd kannte: Es gehörte dem Typ vom Marktplatz, der mit den tollen Augen, die Riley so fasziniert hatten. Das konnte doch nicht wahr sein.
»Essen wäre fertig.« Johannas Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Schnell schloss er die Boxentür und antwortete: »Ich bin schon unterwegs.«
Mit einem letzten Blick auf den Braunen verließ er den Stall.
Nach dem Abendessen bedankte Riley sich noch einmal für die spontane Hilfe und die Gastfreundschaft, die Johanna ihm hatte zukommen lassen, dann fragte er: »Ich war wohl nicht der Einzige auf der Suche nach einer Bleibe, wie es aussieht?«
»Oh ... du meinst das Pferd in der Box neben deinem?«, antwortete seine Chefin lächelnd, »das gehört einem jungen Mann namens Eric. Er stand am frühen Nachmittag plötzlich auf dem Hof und suchte nach einer Unterkunft, genau wie du. Platz ist ja genug da und so hab ich ihm auch eine Box zur Verfügung gestellt." Johanna lächelte ihm zu, aber das bekam Riley gar nicht mit, denn er hatte sich bei »Eric« schon aus der Konversation verabschiedet.
Jetzt hatte er wenigstens einen Namen zu der Person.
»Hallo? Hörst du mir überhaupt noch zu?«
Der Angesprochene schreckte aus seinen Gedanken auf.
»Es ... es tut mir leid. Ich hab im Moment so viel im Kopf und bin echt hundemüde. Könntest du bitte wiederholen, was du gesagt hast?«, murmelte er verlegen.
Johanna grinste ihn an: »Ich möchte, dass ihr bitte morgen früh um sieben Uhr den Pferden Heu füttert. Ich komme gegen acht und dann können wir alle Tiere auf die Paddocks bringen. Anschließend werden wir misten und danach schauen wir mal, was ihr noch tun könnt.«
»Ihr?«, erstaunt hob Riley eine Augenbraue.
»Ich erwähnte ja schon, dass ich immer eine helfende Hand brauchen kann und irgendetwas sagt mir, dass Eric auch dankbar für einen Job wäre. Nenn es innere Eingabe«, damit trat Johanna ans Fenster und sah hinüber zum Stallgebäude, aus dem ein schwacher Lichtstrahl auf den Hof fiel. Sie stand einen Augenblick reglos da, dann drehte sie sich zu Riley um. »Sag ihm einfach von mir, dass er dir morgen früh beim Füttern helfen soll und ich werde anschließend mal mit ihm reden.«
»Werde ich ihm ausrichten«, erwiderte der junge Mann, »ich werde dann auch langsam verschwinden. Vielen Dank nochmal für das tolle Essen.«, lächelnd stand er vom Tisch auf.
»Einen Moment noch«, warf Johanna ein, verschwand in der Küche, kam aber kurz darauf zurück und drückte Riley eine Tupperdose nebst Gabel in die Hand.
»Nimm das bitte für Eric mit. Der Junge sah ja halb verhungert aus, aber als ich vorhin im Stall war, um ihn auch zum Essen einzuladen, war nur sein Pferd da. Ich hoffe, er ist mittlerweile zurück.«
Nickend nahm Riley das Essen entgegen. »Okay, dann bis morgen früh. Gute Nacht«, damit machte er sich auf den Weg zum Stall.
Als er die schwere Holztüre öffnete, wieherte ihm sein Pferd laut entgegen. So sehr er diese Art der Begrüßung durch den Wallach sonst auch mochte, jetzt gerade hätte er lieber darauf verzichtet. Er hoffte, dass Eric nicht schlief und Braveheart ihn mit seinem Geschrei geweckt hatte, denn anwesend war sein potenzieller Kollege offenbar.
Vor der Tür zum Reiterstübchen lag ein Rucksack, der vorhin noch nicht da gewesen war. Riley ging die Stallgasse hinunter, blieb vor der Box des braunen Nordschweden stehen und fragte leise: »Bist du da, Eric?«
Doch er bekam keine Antwort. So stellte er die Tupperdose mit dem Essen auf einen Strohballen vor der Box, legte eine Notiz dazu, was Johanna gesagt hatte und zog sich in die Box zu seinem Pferd zurück.
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