Aufwachen (Teil 2)
Nachdem ich die Strecke wieder zurückgelegt hatte und nun vor der Haustür stand, hielt ich an. Unsicher, was mich nun erwarten würde, drückte ich die Klinke hinunter. Es war eine Angewohnheit von Mom, die Tür immer offen zu lassen, obwohl ich ihr schon mehrmals klargemacht habe, dass Einbrecher die Wohnung leer räumen könnten.
Als ich meine Schuhe auszog, hörte ich schnelle Schritte und musste nicht nach oben blicken, um zu erraten, dass sie es war. "Amy! Gott sei Dank, es geht dir gut! Ich habe mir solche -" Mit einer gleichgültigen Miene ignorierte ich die Rede und stampfte wortlos in mein Zimmer.
Ich versicherte mich, dass die Zimmertür abgeschlossen war und öffnete das Geheimfach in meiner Kommode. Ein Buch mit dickem Umschlag lag darin, etwas abgegriffen, jedoch der wertvollste Gegenstand für mich. Ich kroch unter die Bettdecke und blätterte bis zum aktuellsten Eintrag.
19. Oktober
An diesem Tag hatte sich mein ganzes Leben verändert.
Tagebucheintrag, 19.10.2018 - Krankenhaus
Ich bin so verzweifelt, dass ich mir die Seele aus dem Leib brüllen könnte!
Vor einer halben Stunde teilte mir ein Arzt mit, dass sich sein Zustand nach der Operation verschlechtert hatte. Dann fing er an, alle Verletzungen aufzuzählen, die Loyd bei diesem Unfall erlitten hatte. Nach einer Weile schaltete mein Gehirn automatisch ab und ich brach wieder in Tränen aus, obwohl ich in letzter Zeit schon so oft geheult habe, dass eigentlich keine Tränen übrig sein müssten. Dieser Arzt - Herr Steinmeier - versuchte mich zu trösten, indem er mir sagte, dass seine Überlebenschance ungefähr bei 30% liegt. Dann liess er mich allein.
Allein mit meiner Trauer und Verzweiflung.
Und einem kleinen Fünkchen Hoffnung.
Obwohl ich alles dafür gegeben hätte, ihn zu sehen. Doch der Arzt meinte, dass er strenge Ruhe bräuchte, um sich zu erholen.
Ich hoffe, er hat Recht.
Die Uhr zeigt jetzt 2 Uhr morgens an, und ich weiss nicht, wie lange ich mich schon auf diesem harten, unbequemen Plastikstuhl befinde. Mir gegenüber sitzen Loyds Eltern, Rebecca und Steve. Sie klammert sich leise schluchzend wie eine Ertrinkende an ihm fest, während er apathisch auf seine polierten Schuhe starrt. Beide müssen direkt von der Arbeit gekommen sein, ihrer Kleidung nach zu beurteilen.
Ich mache mir solche Sorgen... Doch tief in meiner Brust empfinde ich auch tiefe Schuld, die sich mit jedem Atemzug immer fester um meinen Hals klammert. Aber Loyd wird es schaffen. Er MUSS es schaffen.
Er ist ein Kämpfer.
Psychisch und physisch.
Meine Gedanken schwirren nur um ihn und obwohl ich nicht gläubig bin, bete ich zu Gott, dass er am Leben bleibt.
Ich weiss einfach nicht, was ich machen soll. Mom ist auf dem Weg, doch sie steckt vorläufig im Stau. Loyds Eltern haben seit ihrer Ankunft kein Wort von sich gegeben. Rebecca schluchzt immer noch leise und Steve streicht ihr nun abwesend über den Rücken.
Ich bringe nicht den Mut auf, sie zu trösten. Weil ich weiss, dass nichts auf dieser Welt den Verlust ihres einzigen Sohnes wieder gutmachen kann.
Es ist alles meine Schuld.
Ich hätte an seiner Stelle sein müssen.
Das rasende Auto hätte mich treffen sollen, nicht ihn.
Ich werde bis an mein Lebensende vor Augen haben, wie die quietschenden Reifen über den Asphalt schlitterten. Wie sein Körper mitgerissen wurde und mit einem entsetzlichen Geräusch hart auf dem Boden aufprallte. Das viele Blut, das in Windeseile eine riesige Lache bildete. Seine Arme waren in einem unnatürlich verdrehten Winkel, sein Gesicht immer noch von Schock gezeichnet, seine Augen geschlossen. Mit tränenerstickter Stimme wimmerte ich, dass er mich nicht in Stich lassen sollte. Mir kam es wie eine Ewigkeit vor, bis die schrille Sirene den Krankenwagen ankündigte und ich auch schon von seinem leblosen Körper weggerissen wurde.
Minuten später waren wir mit Höchstgeschwindigkeit und Blaulicht unterwegs ins nächste Krankenhaus, wo alles so schnell ging und Ärzte Loyd in den Operationssaal brachten.
Dies war vor ungefähr vier Stunden. Vier Stunden, in denen ich meinen Schock verarbeiten musste und mir den Kopf darüber zerbrach, wieso das Schicksal gerade Loyd ausgewählt hatte. Vier Stunden, in denen ich den Gedanken, ihn nicht mehr bei mir zu haben, zu verdrängen versuche.
Denn diese Vorstellung ist ebenso unerträglich wie Rebeccas Schluchzen.
Herr Steinmeier ist gerade ins Wartezimmer eingetreten. Ich kann seinen Gesichtsausdruck nicht deuten. Scheint so, als müsste er uns etwas Dringendes mitteilen...
Hoffentlich ist Loyd aufgewacht...
< < < > > >
Im Gegenteil.
Mit zitternden Fingern klappte ich das Buch zu und starrte abwesend aus dem Fenster. Das, was danach geschehen war, hatte mir nebst dem Unfall die meisten Alpträume verursacht. Fast jeden Tag wachte ich schweißgebadet und mit klopfendem Herzen auf, nur um herauszufinden, dass es real war. Ich befand mich in der Realität.
Im Krankenhaus hatte uns der Arzt mit trauriger Miene mitgeteilt, dass Loyd es nicht geschafft hatte.
Diese Worte trafen mich so hart, dass ich innerlich zusammenbrach. Dr. Steinmeier vermied es, uns in die Augen zu schauen und liess uns mit einem gemurmelten "Mein Beileid" alleine. Aus dem Augenwinkel erkannte ich Mom, die durch die Eingangstüren auf mich zu stürmte. Sie erstarrte, als sie unsere bedrückten Mienen sah und seufzte hilflos.
Sie nahm mich in den Arm. "Schätzchen, du kannst nichts dafür... ", flüsterte sie und verstummte, während ihre Augen feucht wurden. Rebecca lehnte sich mit geschlossenen Augen an Steve an, dessen gerötete Augen auf mir ruhten. Auch als ich wegschaute, spürte ich seinen mit Blick, der mich förmlich druchbohrte.
Und langsam verstand ich.
Er gab mir wirklich die Schuld an Loyds Tod.
Mit langsamen Schritten näherte er sich mir, während ich mich nicht von der Stelle bewegte. Seine Hände waren zu Fäusten geballt, so fest, dass die Knöcheln weiss hervortraten. "Du...", sprach er mit einer gebrochener Stimme und packte plötzlich mein Handgelenk. "Du hast mir meinen Sohn genommen!", brüllte er und verstärkte den Druck. "Steve! Hör auf!", schrie Rebecca und versuchte ihn wegzuzerren. Mom schaffte es, seine Finger von meinem Handgelenk zu lösen und zog mich hinter ihr. "Amy trägt keine Schuld! Es war ein Unfall!", verteidigte sie mich.
"Mein Sohn hätte nicht sterben müssen!", schrie er aufgebracht. Zahlreiche neugierige Köpfe drehten sich zu uns, um das Geschehen mitzuverfolgen. Die Worte blieben in meinem Hals stecken, und ich blinzelte angestrengt die Tränen weg. Mit ausgestrecktem Zeigefinger deutete Steve auf mich. "Das ist alles deine Schuld-", wisperte er bedrohlich, bevor er von Mom unterbrochen wurde. "Das hast du jetzt nicht gerade behauptet!" Ihr Gesicht glühte vor Zorn. "Du weisst ganz genau, dass Amy nichts dagegen tun konnte. Sie hatte unglaubliches Glück, dass sie rechtzeitig auf die Seite gesprungen ist. Schämst du dich nicht, ihr so etwas Gemeines zu unterwerfen? Denkst du etwa nicht, dass sein Tod ihr auch zusetzt?"
Steves Gesichtszüge wurden weicher und er schüttelte fassungslos den Kopf. Er atmete tief durch. "Es... Es tut mir leid...", begann er stotternd, "Für mein Verhalten gibt es keine Entschuldigung. Aber i-ich..." Er seufzte und verbarg sein Gesicht in seinen Händen. "Bitte, geht... Wir brauchen etwas Zeit für uns." Wortlos nahm Mom mich am Arm leitete mich zum Ausgang.
Eine Woche später fand die Beerdigung statt.
Seit dem Vorfall im Krankenhaus hatte ich kein Wort mit Rebecca und Steve gewechselt. Ich konnte ihnen nicht unter die Augen treten, ohne dass ich automatisch an meine 'Schuld' denken musste. Zwar wusste ich ganz genau, dass ich in der Unfallssituation absolut machtlos gewesen war, doch Steves Worte belasteten mich schon seit einem halben Jahr. Ich musste schleunigst etwas tun, bevor seine hasserfüllte Stimme die Oberhand über meinen Verstand gewann.
Kurzerhand riss ich die Schranktür auf und fand Loyds T-Shirt, das er mir vor kurzer Zeit spontan zu meinem Geburtstag geschenkt hatte. Ich vergrub meine Nase in dem weichen Stoff und sog den schwachen Geruch nach ihm auf. Dann sammelte ich alles andere, was mich an Loyd erinnerte und verstaute es in einer Schachtel.
Mit der Schachtel unter dem Arm eilte ich aus dem Haus und ging schnurstracks zu einem Blumenladen, wo ich mein übriges Taschengeld für den schönsten Blumenstrauss im Laden ausgab. Dieser legte ich mit einer Notiz an der Türschwelle von Rebecca und Steve, klingelte, und lief weg. Es war Zeit, von ihnen Abschied zu nehmen. Und vielleicht war das auch besser so.
Mein Vorhaben war eigentlich sinnlos. Da ich Loyd nicht vergessen konnte, musste ich einen anderen Weg finden, die Erinnerungen an ihn in den hintersten Winkel meines Gehirns zu verbannen. Sonst würde ich ewig in diesem Teufelskreis feststecken, mir und anderen Menschen in meinem Umfeld Leid zufügen und irgendwann in meinen Gedanken ertrinken.
Es gab viele Möglichkeiten, doch für mich kam nur ein einziger Weg infrage, über das Geschehene hinweg zu kommen. Eigentlich wäre das ein Kinderspiel. Wenn das unzählige Millionen Menschen schafften, weshalb konnte ich das nicht?
Wieso konnte ich nicht weiterleben?
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