Eᴘɪʟᴏɢ
Die Wahrheit. So hat man mich einst genannt.
Die grausame Wahrheit, die Dinge flüstert, die für immer ungesagt bleiben sollten. Die Geheimnisse offenbart und Lügen aufdeckt, die nicht ohne Grund in die Tiefen der Gedanken verbannt worden sind.
Ich habe lange darüber nachgedacht, was Wahrheit eigentlich bedeutet. Denn einserseits wollen die Leute Ehrlichkeit und doch beschuldigen sie dich der Grausamkeit, wenn du ihnen die Wahrheit zeigst, die sie nicht sehen wollen.
Doch gibt es einen Unterschied zwischen grausamer und guter Wahrheit? Gibt es eine Linie, die man fein säuberlich mit Bleistift ziehen kann, um die eine Wahrheit zu preisen und die Andere zu verurteilen?
Gibt es eine falsche und eine richtige Wahrheit? Sie kann schließlich Glück bedeuten, aber auch Schmerz ausdrücken.
Man könnte meinen, dass ich nun, nachdem meine Seele endgültig verstummt ist, nachdem all die Grausamkeit vorbei ist und ich friedlich mit meinen Liebsten in einer Hafenstadt lebe, die Frage der Wahrheit hinter mir gelassen habe.
Doch das habe ich nie.
Jedes Mal, wenn ich alleine in meinem Garten sitze und den selbst errichteten, kleinen Gedenkstein neben der Gartentür betrachte, lege ich drei Blumen, die ich zuvor auf dem großen Blumenfeld gepflückt habe, auf die kühle Oberfläche.
Eine frohe Sonnenblume für meine Mutter, die ich nie kennengelernt habe.
Eine zarte Rose für meine Adoptivmutter, die mich das Leben gelehrt hat.
Und eine Tulpe für Juliett, mit so roten Blütenblättern, wie die Farbe des Mantels, den sie bei unserer ersten Begegnung in der Waldhütte trug. Juliett, die starke, unabhängige Frau, die für ihre Liebe starb.
Man fragt sich nun wahrscheinlich, inwiefern ich mich mit der Wahrheit beschäftige.
Doch man muss bloß einen Blick auf unsere Welt werfen, auf unsere wunderschöne und zugleich grausame Welt, denn das Fundament einer jeden Gesellschaft sind Transparenz und Ehrlichkeit. Jeder weiß die Wahrheit zu schätzen und doch verabscheuen wir sie.
Ich habe gelernt, dass die Kunst darin liegt, die richtige Wahrheit auszusprechen.
Und das ist der Fehler, den ich mein Leben lang begangen habe. Ich habe die Wahrheit über alles gestellt, habe den Schmerz Anderer in Kauf genommen, denn es war schließlich im Namen der Wahrheit und daran kann nichts falsch sein, oder?
Doch bevor man die Wahrheit mit den Lippen formt, bevor man Worte ausspricht, die nicht zurückgenommen werden können, muss man sich der Folgen bewusst sein. Ist diese Wahrheit wirklich so wichtig, dass sie den Schmerz eines Menschen wert ist? Ist es wirklich richtig, diese verletzenden Worte hier und jetzt zu sagen?
Ja, wenn Juliett mich noch einmal, wie damals im spärlich beleuchteten Gang des Hauses, fragen würde: „Ist es besser in einer Lüge zu leben oder an der Wahrheit zu zerbrechen?“, dann würde ich dieses Mal nicht betroffen schweigen, sondern lächelnd erwiedern:
„Weder noch. Am besten ist es, in der Wahrheit zu erstrahlen, zu ihr zu stehen und sie für das Gute zu nutzen, und doch niemals zu vergessen, dass manchmal die ehrlichsten Worte mehr Schmerz verursachen als jede Waffe der Welt.“
Wenn Juliett heute noch am Leben wäre, dann würde ich ihr nun meine Hand reichen und all den Zorn und Neid und Hass, der zwischen uns lag, vergessen. Ich würde ihr zeigen, dass selbst hinter unseren zerbrochenen Fassaden, wunderschöne Blumengärten wachsen können.
„Die Wahrheit tut weh“, flüstere ich jedes Mal, wenn ich den Gedenkstein für die drei Frauen betrachte. „Aber ich kann mit ihr leben.“
Ja, früher bin ich mit dem Gedanken eingeschlafen, gehasst zu werden, obwohl ich mich doch bloß nach der Wahrheit gesehnt habe.
Und nun, nun schlafe ich jede Nacht lächelnd neben David ein, lausche unseren Atemzügen und sehe Farben in der Dunkelheit. Denn ich bin zum ersten Mal in meinem Leben glücklich.
Zerbrochen, verletzt, aber dennoch glücklich.
Wunden heilen mit der Zeit, das weiß ich nun. Wenn ich aus Alpträumen voller Blut und Tod aufwache, ist dort immer Davids wärmende Umarmung, die mir Trost spendet. Wenn ich plötzlich in Tränen der Erinnerung ausbreche, ist dort immer Nora, die liebevoll meine Hand hält. Ja, wenn ich alleine auf der Fensterbank sitze und in Gedanken versinke, weiß ich dennoch, dass ich leben kann, dass ich leben will.
Denn ich lebe ein Leben, das von Glück und Wahrheit gezeichnet wird.
Und in meinem Fall ist beides das Gleiche.
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