17. Angst
Mit wütenden Bewegungen wischte sich Lily die Tränen aus den Augenwinkeln, die entstanden waren. Ihre Füße führten sie automatisch in den Gryffindorgemeinschaftsraum und in ihren alten Lieblingssessel. Er war leer, denn die Schule war beim Abendessen und sie musste nicht versuchen, die aufwallenden Tränen aufzuhalten. Lily zog die Beine an den Körper und umklammerte ihre Knie. Es war nicht das erste Mal, dass sie nach einem Streit mit Jam – Potter in diesen Sessel geflüchtet war. Sie hatte sich immer damit abgefunden, dass er dieser arrogante und nervige Junge war, der sie seit Jahren nach einem Date fragte und sie bei jeder Gelegenheit, die sich ihm bot, ansprach und nervte. Sie hatte sich wirklich vorgenommen, diesem ganzen Idiotismus ein Ende zu bereiten. Sie hatte im letzten Jahr mitbekommen, dass es eine Phase in Jam – Potters Leben gab, in dem er nicht derselbe war. Er war kaum noch wahrzunehmen und zu Anfang hatte sie diesen Umstand sehr genossen, doch irgendwann hatte ihr sein lautes Lachen beim Mittagessen oder seine ständig verwuschelten Haare doch gefehlt. Sie hatte es nur zufällig mitbekommen, als sie ein Gespräch zwischen Sirius und Remus gelauscht hatte, die eine Reihe weiter in der Bibliothek gearbeitet hatten. Lily hatte dann, und diesen Gedankenzug den sie damals hatte, konnte sie immer noch nicht genau nachvollziehen, seinen Schlafsaal aufgesucht. James hatte mit platten, schwarzen Haaren und dumpfen Augen auf dem Boden neben seinem Bett gesessen und mechanisch mit einem Faden an seinem Pullover gespielt. Dem Pullover, den er ihr gegeben hatte, wie ihr gerade auffiel. Sie konnte sich noch sehr gut an damals erinnern.
„Hey", sagte Lily mit möglichst freundlicher Stimme, als sie sich neben ihn setzte. Er hatte kaum aufgeblickt. Und die Chance nicht genutzt, um Lily nach einem Date zu fragen. „Ich hab gehört, was passiert ist", sagte sie und blickte auf sein rabenschwarzes Haar, welches er ihr zugewandt hatte. Er zuckte nur mit der Schulter und riss dann den Faden aus und warf ihn dann auf den Boden. „Ich weiß, dass das schwer für dich ist -", fing sie an, wurde aber von einer heiseren und kratzigen Stimme unterbrochen. „Nein, tust du nicht." James hatte seinen Blick nicht abgewandt, aber sie wusste, dass seine Augen sich zusammengezogen hatten. „Du weißt gar nichts über mich. Ich bin doch nur der nervige Potter für dich." Der Schmerz in seiner Stimme verdoppelte sich fast, als er sprach und Lily spürte, wie ihre Brust sich verkrampfte.
„Das stimmt nicht", sagte sie sanft und sah, wie James Kopf kurz zuckte. „Ich mag dich nicht sehr gut kennen, aber ich weiß, dass du ein intelligenter Junge bist, der seine Freunde wie seine Familie liebt. Ich weiß, dass du jeden Morgen mindestens ein Glas Kürbissaft trinkst und dass Sirius seit den letzten Ferien bei dir wohnt. Ich weiß auch, dass du deine ZAGs mit perfekten Noten abgeschlossen hast." Lily zögerte kurz. „Und ich weiß auch, wie du fühlst." Sie legte eine Hand auf seine Schulter und versuchte sein Gesicht ihr zuzuwenden. James schnaubte kurz auf und begann dann, am Saum seines Umhanges zu ziehen.
„Du glaubst mir nicht", stellte sie nüchtern fest und die Muskeln in James Nacken spannten sich an. „Warum sollte ich?", fragte er mit bissigem Unterton. „Wenn du mich wirklich für das hältst, was du gesagt hast, dann verstehe ich nicht, wieso du mir nie eine Chance gibst." Lilys Hand fiel von seinem Arm und ihr Blick wurde schmaler, sowie auch ihre Lippen. „Diese Frage kannst du eigentlich auch selber beantworten, nicht wahr, Potter?" James lachte humorlos, aber Lily fuhr fort. „Du magst zwar ein intelligenter und vertrauenswürdiger Junge sein, aber größtenteils benimmst du dich wie ein riesiger Volltrottel! Du verhext zum Spaß Leute auf den Fluren, verwuschelst deine Haare zu jeder Zeit, damit sie aussehen, wie frisch vom Besen gekommen, und du bist ein Fiesling, zu Leuten die nicht so talentiert wie du sind. Ich habe nicht vergessen, dass du Severus die letzten Jahre bei jeder Gelegenheit bloßgestellt hast, die sich dir bot. Er mag zwar nicht mehr mein Freund sein, aber auch er hatte es nicht verdient, dass die ganze Schule regelmäßig über ihn lachen konnte. Meine Güte, Potter, du hast dich benommen, als würde dir die ganze Schule gehören!" Lilys Atem ging schneller und ihre Lippen bebten. James Kopf bewegte sich etwas und sie konnte seine haselnussbraunen Augen sehen, in denen kein vertrauter und schelmischer Glanz zu finden war. „Hast du dich denn nie gefragt, warum ich nicht mit dir ausgehen wollte?", fragte Lily und ihre Hand grub sich in ihren Rock. „Du bist ein arroganter, selbstverliebter, ignoranter und von sich selbst überzeugter Idiot, der mich einfach nur wahnsinnig macht, sobald ich dich sehe oder deine Stimme höre. Es ist mir egal, was andere sagen, ich kenne dich als den Potter, den du immer wieder spielst. Und es wird lange dauern, ehe ich meine Meinung über dich ändern sollte", schloss Lily und ihr Herz klopfte ihr gegen die Brust, als James sich ihr zuwandte und sie den Ausdruck ausmachte, der auf seinem Gesicht lag. Trauer, Wut und etwas, was sie nicht genau erkennen konnte.
„Dann denkst du also, dass du perfekt bist?", fragte er freudlos lachend. „Dann habe ich eine Mitteilung für dich, Evans, das bist du nicht." Lily wollte etwas erwidern, doch James sprach bereits weiter. „Du bist bestimmend, stur und ebenso selbstverliebt wie ich. Du analysierst alles, was dir unter die Nase kommt und dein Temperament ist die reinste Hölle. Außerdem bist du eine miserable Fliegerin", fügte er mit dem Anflug eines halben Lächelns hinzu und Lilys Mundwinkel zuckten kurz.
„Dann habe ich auch eine Mitteilung für dich, ich weiß, dass ich nicht perfekt bin. Ich kenne meine Makel sehr gut. Doch kannst du dir vorstellen, wie es für mich ist, als einfaches Schlammblut." Seine Augen weiteten sich und seine Lippen wollten sich schon für einen Protest öffnen, aber Lily warf ihm einem giftigen Blick zu. „Ich bin weder bei mir zu Hause, noch hier wirklich zu Hause. Meine Schwester redet seit Jahren nicht mehr als nötig mit mir und das alles nur, weil ich ein Freak und eine Missgeburt bin, wie sie immer wieder sagt. Hier werde ich, obwohl ich eine Hexe bin, als Dreck behandelt. Warum denkst du, strenge ich mich so sehr an? Warum meinst du, versuche ich seit Jahren, nur die besten Noten zu erreichen? Weil ich Anerkennung suche, die ich mir mit meinen Leistungen und nicht mit meinem Blut erarbeitet habe. Für dich ist das ganz einfach. Du bist mit der Zauberei aufgewachsen, stammst aus einer alten Zaubereifamilie und bekommst auch ohne große Anstrengungen nur die besten Noten. Schüler wie auch Lehrer bewundern dich und deine Fähigkeiten und ich muss mich hundert Mal mehr ins Zeug legen um überhaupt Anerkennung zu bekommen." Lily atmete schwer und blickte mit einem Hass in den Augen zu James. „Ich bin, egal was ich mache, nur ein wertloses Schlammblut!"
„Das bist du nicht!", rief James und ein altbekannter Glanz trat in seine Augen. „Du darfst nicht daran denken, Lily." Bei der Nennung ihres Namens zuckte sie etwas zusammen. Sie hatte schon Jahre nicht mehr gehört, dass James ihn benutzt hatte. „Du bist nicht wertlos, du bist die Klügste Hexe unseres Jahrganges. Es ist doch egal, was andere denken oder sagen, selbst wenn es deine Schwester ist. Du bist verdammt noch mal Lily Evans, eine kluge, mutige, liebevolle und wunderschöne Hexe!"
James schrie seine letzten Worte beinahe und eine leichte Röte schlich ihr in die Wangen. „Potter, du verstehst das nicht. Dir fällt alles einfach, du bekommst seit Kindertagen alles, was du dir nur wünschen kannst aber ich muss immer arbeiten. Meine Eltern sind einfache Muggel, wir sind nicht reich und ich bin auch nicht übertalentiert." Ihre Nasenflügel blähten sich auf. „Alles was ich kann, habe ich mir angeeignet. Ich habe tagelang Bücher in der Bibliothek gewälzt um Zauber zu beherrschen. Ich habe stundenlang geübt, damit sie perfekt funktionierten." James schloss für einen kurzen Moment die Augen und als er sie wieder öffnete, lag ein Schimmern in ihnen. Seine Hand bewegte sich einige Millimeter auf sie zu, dann stoppte sie.
„Das musst du nicht. Du musst nichts auf die Meinung dieser Menschen geben." Seine Stimme war ruhig, beinahe flüsternd. „Wenn sie nicht sehen, was für ein wundervoller Mensch du bist, ohne dass du Zaubertränke perfekt zusammenbraust oder eine schwierige Formel auswendig lernst, dann musst du sie auch nicht beachten." James zögerte kurz, dann bewegte sich sein Gesicht etwas näher und Lily konnte jede seiner Wimpern sehen. „Ich habe immer erkannt, was für eine bezaubernde Person du warst." Lily wurde sich seiner Nähe deutlich bewusst und sie versuchte etwas Abstand zwischen sich zu bringen. „Ich -"
Die Tür zum Schlafsaal sprang auf und Sirius kam gefolgt von Remus und Peter herein. Auf ihren Gesichtern hatte ein Lächeln gelegen, doch als sie Lily und James erblicken, tröpfelte es langsam ab. Sie tauschten einen Blick und Lily spürte, wie sich ihr komplettes Gesicht aufheizte. „Sorry, wir gehen wieder." Bevor sie noch etwas sagen konnte oder verschwinden konnte, war die Tür wieder zugefallen. James hatte sich wieder entfernt und seine Hand lag auf seinem Bein. Seine Wangen waren etwas pink, doch er wandte sein Gesicht schnell ab und räusperte sich.
„Es tut mir Leid", murmelte er und seine Hand legte sich an seinen Nacken, an dem seine Haare besonders abstanden. „Ich wollte nicht – du weißt schon." Lilys Lippen zuckten kurz und sie versuchte die Hitze aus ihrem Gesicht zu vertreiben. „Schon gut. Mir tut's auch Leid", fügte sie knapp hinzu und verschränkte ihre Finger. Nach einem Moment der Stille, räusperte sie sich. „Ich wollte dir eigentlich auch nur sagen, dass - wir dich alle vermissen." Sie schloss ihre Augen und atmete tief ein und aus. „Ich auch." Sie bewegte ihre Beine und stand auf, wobei ihre rechte Hand seine Schulter streifte. Sie wollte sich schon auf die Tür zu bewegen, als eine starke und etwas schwielige Hand nach ihr griff und sie kurz oberhalb ihres Handgelenkes festhielt. Eine angenehme und beinahe beruhigende Wärme ging von ihr aus und Lily wandte sich um. James sah sie nicht an, doch sie konnte ein warmes Lächeln auf seinen Lippen in der Reflektion des Fensters entdecken. „Danke"
Eine weitere Träne verließ ihren Augenwinkel und benetzte ihre ohnehin schon nasse Wange und sie konnte nur mit Mühe einen Schluchzer unterdrücken. Sie hatte James, nein, Potter, schon immer nicht leiden können, aber als sie ihn als Häufchen Elend in seinem Schlafsaal gesehen hatte, war sogar ihr das Herz weich geworden.
Doch alles hatte sich in diesen paar Monaten, die zwischen diesem Tag lagen, geändert. Er war einige Stunden später, als sie diese Unterhaltung geführt hatten, beim Abendessen aufgetaucht und seine haselnussbraunen Augen hatten kurz den Blick mit ihren gesucht. Seine Haare waren wieder eine einzelne Katastrophe und er lachte wieder mit seinen Freunden. Doch auch danach war Lily eine Veränderung aufgefallen. Er hatte nicht ein einziges Mal gefragt, ob sie auf ein Date mit ihm ginge und Lily hatte nicht eine Meldung erhalten, dass er jemanden verhext oder einen Streich gespielt hatte. Er hatte im Unterricht nicht mehr dazwischen gerufen sondern die Fragen, die die Lehrer gestellt hatten, mit einer Ernsthaftigkeit beantwortet, die sie noch nie bei ihm gesehen hatte. Er war zwar beim Essen noch immer der Lauteste, doch auf einmal störte es Lily nicht mehr. Sie wusste nicht warum, aber James Potter hatte binnen einiger Stunden eine beinahe komplette Typveränderung durchgemacht. Ihr gefiel der ernste und nette James wesentlich lieber, als der arrogante und angeberische, aber irgendwie vermisste sie beinahe seine täglichen Fragen nach einem Date und seine Angewohnheit, sich mit der Hand durch die Haare zu gehen, sobald er in ihrer Nähe war.
Diese Veränderung hatte sich bis jetzt gehalten und sie wurde das Gefühl nicht los, dass er es für sie tat. Die Dinge, die sie ihm gesagt hatte, mussten ihn tiefer getroffen haben, als sie es beabsichtigt hatte. James war am Ende des sechsten Schuljahres ein letztes Mal zu ihr gekommen und hatte sie, mit einem spielerischen Lächeln auf den Lippen und einem schelmischen Glanz in den Augen, nach einem Date gefragt. Er hatte jedoch nicht auf eine Antwort gewartet, sondern sich den Finger auf den Mund gelegt und war wieder gegangen. Lily hatte diese Aktion die ganzen Ferien über analysiert und darüber nachgedacht, aber sie wurde einfach nicht schlau aus ihm. Erst als Ellie ihr einen Brief geschrieben hatte, mit dem Inhalt, dass sie Vertrauensschülerin geworden war und dass Lily doch endlich mal über ihren Schatten springen sollte, um James seine bisherige Art zu vergeben, hatte sie verstanden. Er hatte sie keinesfalls veralbert, wie sie zuerst angenommen hatte. Er hatte sie wirklich und wahrhaftig gefragt, ob sie mit ihm ausginge und ihr so lange Zeit gegeben, wie sie brauchte um zu antworten. Sie wollte Ellie den Gefallen tun und sich mit dem neuen James anfreunden, aber mit den Geschehnissen während ihres ersten Kontrollganges mit ihm und der Verteidigung gegen die dunklen Künste Stunde, hatte sie die Angst gepackt.
Die Angst, dass sie James Potter verfallen würde.
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