In Ajas Händen lag ein dickes Buch, voller gedruckten Seiten. Sie kannte den Text darin fast auswendig, doch konnte sie sich auf kein einziges Wort konzentrieren. Die Buchstaben schienen vor ihren Augen zu verschwimmen. Egal wie sehr sie versuchte, egal wie sehr sie sich auf diese Worte konzentrieren wollte, sie verstand die Botschaft nicht. Der Stuhl knarzte leicht, als sie versuchte eine gemütlichere Position zu finden.
Ihre Gedanken kreisten nur um den Mann, der neben ihr im Bett lag. Ihretwegen hatte ihn ein schwerer Fluch am Bein getroffen. Nur weil sie an ihm gezweifelt hatte, waren sie nicht schnell genug voran gekommen. Aja gestand sich das nicht gerade ein, aber dieser mürrische und übellaunige Zaubertranklehrer hatte ihr das Leben gerettet.
In nächster Zeit werde ich etwas netter zu ihn sein, schwor sie sich.
"Wie lange sitzen Sie hier schon", fragte seine Stimme, die trotz der üblen Gedanken durchdringen konnte.
Sofort schlug Aja das Buch zu.
"Sie sind wach", stellte sie überflüssigerweise fest.
"Wie geht es Ihnen?", fragte sie.
Snape bewegte leicht sein eines Bein, wo ihn der Fluch getroffen hatte, verzog allerdings im nächsten Moment das Gesicht. Dann entspannte er sich sichtlich.
"Ich werde es überleben."
"Hören Sie, es tut mir leid, dass ich Sie in diese Lage gebracht habe. Ich hätte vielleicht nicht an sie zweifeln dürfen", erklärte sie mit niedergeschlagenen Kopf.
"Das ist nicht ihre Schuld. Ich war auch nicht immer nett", meinte er schulterzuckend.
Überrascht schaute Aja auf. Severus Snape, der gefürchtetste Zaubertranklehrer aller Zeiten, gestand, dass er all die Jahre unfreundlich war.
"Bilden Sie sich jetzt aber ja nichts darauf ein", zischte er.
Die Frau fing das Lachen an. Da war er wieder der mürrische alte Mann.
"Tue ich nicht. Versprochen!", sagte sie noch immer lachend.
Die bedrückende Stimmung, die im Krankenzimmer geherrscht hatte, war mit einem Mal komplett verschwunden. Übrig blieb Freude und Fröhlichkeit.
"Ich glaube, ich muss mich aber trotzdem bei Ihnen bedanken, denn ohne Sie würde ich hier wohl kaum stehen", sagte sie und hielt ihre Hand hin.
"Passen Sie beim nächsten Mal besser auf", sagte er und schüttelte die ihm dargebotene Hand.
"Wenn Sie wollen, können Sie mich Aja nennen und natürlich Duzen", erklärte sie.
Snape zog eine Augenbraue nach oben. Dies beeindruckte die Frau ungemein, denn sie konnte das nicht. Ihre beste Freundin Lou konnte das fast schon so gut wie er.
"Könnten Sie mir etwas erzählen?", erkundigte sich Snape bei ihr.
Ajas Innere zog sich zusammen. Sie hatte noch nie irgendjemand etwas erzählt, war sie bis jetzt eigentlich fast immer nur Zuhörerin gewesen.
"Klar, was wollen Sie denn hören?", fragte sie und versuchte ihre Stimme fest klingen zu lassen.
Der Mann kuschelte sich in das Krankenbett hinein, um es sich so gemütlich wie nur möglich zu machen. Am liebsten wäre er jedoch im Kerker in seinem eigenen Zimmer gewesen.
"Vielleicht erzählen Sie mir, wie sie zu ihrem Lieblingsfach Zauberkunst gekommen sind?"
Die Frau nickte etwas gezwungen. An sich war das Erlebnis dahin nicht allzu schlimm, doch trotzdem sprach sie nicht gerne darüber.
"Natürlich", kurz stoppte sie und versuchte sich zu fangen, um es am Besten zu erklären.
"In meinen ersten Jahren in Hogwarts habe ich mich unglaublich gerne für das Fach Verwandlung interessiert. Ich fand es erstaunlich, wie man Tiere in Gegenstände verwandelte. Damals saß ich öfters stundenlang vor meinem Buch, dass wir im Unterricht auch benutzen, und habe einfach nur gelesen, mich weiterinformiert. Zauberkunst gehörte nicht wirklich zu den Fächern, die meiner Meinung nach, ansprechend waren. Wieso sollte ich für dieses Fach lernen? Mir flog alles zu. Professor Flitwick meinte damals, ich hätte eine besondere Begabung, weshalb ich dafür nicht lernen müsse. In den Stunden habe ich öfters herumgealbert und mich nicht auf den Unterricht konzentriert. Mittlerweile bereue ich das zutiefst.
Die meisten aus meiner Klasse liebten das Fach Verteidigung gegen die dunklen Künste, doch für mich war es nie mehr als eine Stunde gewesen, die ich mehrmals die Woche hatte. Irgendwann merkte ich, dass mir Verwandlung als Fach nicht mehr gereicht hat. Ich wollte unbedingt mehr Zaubersprüche kennen", sagte Aja.
Die Erinnerung an damals schmerzte sie. Sie konnte ihren ehemaligen Lehrer nicht länger in die Augen sehen, weshalb sie aufstand und aus dem sauberen Fenster hinaus starte.
"Eines Tages kam Professor Dumbledore zu mir. In seiner Hand hielt er einen Brief. Ich glaube, ich wusste bereits schon damals, was der Text bedeutete. Meine Eltern waren tot. Getötet von den Todessern."
Ihre Stimme brach, doch trotzdem erzählte sie weiter.
"Albus meinte damals, ich sei hier sicher, egal was passieren würde. Allerdings war ich nicht alleine. In den Ferien kam ich zu meinen Großeltern, die auf den Land lebten. Sie haben sich liebevoll um mich gekümmert und sich um mich gesorgt. Das war mein neues Zuhause gewesen. Vor wenigen Jahren sind auch sie gestorben, jedoch an einer Krankheit. Zu dieser Zeit habe ich gerade studiert. Nach diesem Erlebnis war ich so wütend auf die Anhänger des dunklen Lords. Sollte ich ihn eines Tages über den Weg laufen, will ich nicht sterben, sondern in davon abhalten können, mich zu töten. Ich weiß, dass ich ihn nicht besiegen kann, aber ich kann darauf achten, dass er mich nicht umbringt", flüsterte sie.
Leise Tränen rannen ihr über die Wangen. All die Jahre hatte sie versucht stark zu bleiben und über den Tod ihrer Eltern hinwegzukommen. Sie hatte sich in Schulbüchern vergraben und so viel gelernt wie noch nie.
"Ich hatte ein klares Ziel vor Augen. Dieses habe ich verfolgt, niemals habe ich aufgegeben. Meine Neugier nach Zaubersprüchen konnte ich nur im Fach Zauberkunst stillen. In den wenigen Stunden der Woche habe ich mich gefühlt, als könnte ich etwas schaffen und nicht nur zusehen müssen. So wurde aus einem Fach, mein Lieblingsbeschäftigung. Es hat in gewissen Maßen Verwandlung ersetzt."
Ihre Stimme war immer noch sehr leise. Die ganze Aufregung, die sie in den letzten Tagen gehabt hatte, die ganze Unsicherheit, war für sie schrecklich. Sie vermisste nun ihre Eltern so sehr wie niemals zuvor.
"Das tut mir leid", hörte sie eine Stimme von hinten.
Aja drehte sich um.
"Ist schon gut, Sie können ja nichts dafür."
Dann spürte sie, wie sich eine warme Hand auf ihre legte. Sie fühlte sich raus, aber gleichzeitig auch beschützend. Mit Tränen in den Augen sah sie den Tränkemeister an. So etwas hatte sie an ihm noch nie gesehen, doch diese neue Seite, gefiel ihr.
"Danke", murmelte.
Aja nickte.
"Kein Problem. Sie sollten sich nun ausruhen. Schließlich erwarten die Schüler doch, dass sie schnellstmöglich wieder in den Unterricht kommen können", sagte sie.
Snape sah sie gespielt überrascht an.
"Als ob denen es stört, dass ich nicht da bin", rief er.
"Sie vielleicht nicht, aber uns im Lehrerkollegium", erklärte sie.
Dann befreite sie ihre Hand aus seiner und stand auf.
"Dumbledore wird später nochmal nach Ihnen sehen. Vielleicht bringt er auch Zitronenbonbons mit", witzelte sie.
Obwohl sie gerade eine traurige Geschichte erzählte hatte, konnte sie nicht lange darüber weinen. Egal, wie sehr sie Snape in ihrer Vergangenheit nicht gemocht hatte, in diesem Moment stieg seine Meinung über ihn.
Aja wusste nicht, wieso sie ihrem Kollegen das erzählt hatte. Es hatte sich einfach nur richtig angefühlt und ein guter Zuhörer war er auch gewesen.
"Na, danke!", sagte er ironisch.
"Gern geschehen. Ich muss jetzt allerdings gehen. Die Proben von den Schülern korrigieren sich nicht von alleine", meinte die Frau schulterzuckend und griff nach ihrem Buch, das sie am Anfang gelesen hatte.
Er nickte.
"Also, dann wünsche ich Ihnen einen angenehmen Aufenthalt hier und hoffe, dass Sie schnell wieder gesund werden", sagte sie.
Als er nichts sagte, ging sie in Richtung Tür. Der Professor war für seine wortkarge Art bekannt. Das er gerade ein paar Witze gerissen hatte, bedeutet ihr viel, da konnte sie nicht von ihm verlangen, weiter zu machen.
"Das hoffe ich auch. Bis morgen, Aja!", flüsterte er leise, doch die Frau hörte es, ehe sie den Raum verließ.
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