Sonntag, 2. Dezember, 00:23 Uhr
„Wie geht's deinem Kopf?"
Ich brauchte eine Weile, um zu registrieren, dass Ryans Frage an mich gerichtet war – genau genommen an die Schramme, die ich von diesem peinlichen Zwischenfall in der biologischen Sammlung zurückbehalten hatte.
Achselzuckend veränderte ich meine Sitzposition ein wenig, um mich noch weiter an Liams Brust lehnen zu können, der halb hinter mir, halb neben mir auf der Couch saß. „Alles gut. Ich spüre es so gut wie gar nicht."
Vage nahm ich war, wie Liams Arm um meine Taille seinen Griff kaum merklich verstärkte. Die Finger seiner anderen Hand spielten abwechselnd mit dem Reißverschluss meiner Lederjacke und seinem Smartphone, das er auf meinem Bein abgelegt hatte.
Ich konnte sein Gesicht von meiner Position aus zwar nicht sehen, aber trotzdem spürte ich nur zu gut, wie er Ryan mit missmutigen Blicken erdolchte.
Obwohl wir nun schon fast eine Dreiviertelstunde zusammen im Bandraum verharrt hatten, Liam und ich auf der Couch und Ryan in etwas Distanz in einem der Sessel, war die Stimmung immer noch merkwürdig.
Ich hatte das Gefühl, für die beiden unfreiwillig Puffer und Streitpunkt zugleich zu sein: Einerseits musste ich darauf achten, mich immer wieder einzuschalten, damit die zwei einander nicht in einen Krieg verwickelten, andererseits schien mir jedes Gespräch mit Ryan eine Gratwanderung zu sein, wo ich ja ahnte, wie er zu mir stand. Oder stehen wollte.
Angesichts dessen versuchte ich, jede Interaktion auf ein Minimum zu begrenzen, um nicht womöglich falsche Signale zu versenden.
Ich verstand immer noch nicht, warum Ryan nicht einfach bei den anderen geblieben war und auf Harry und Louis gewartet hatte. Jedes Mal, wenn er sich um Konversation bemühte, erntete er von Liam lediglich schmale Augen und verbissenes Schweigen, und sobald dann ich selbst aus reiner Freundlichkeit und Anstand heraus darauf einging, begann Liam, dieser Trottel, innerlich zu kochen.
Recht machen konnte ich es hier definitiv niemandem.
Nun gut, Ryan hatte sich zwar deutlich seltener zu einem Kommentar der anmachenden Art hinreißen lassen, seit Liam und ich uns wieder zusammengerauft hatten, aber die Art und Weise, auf die seine Augen an mir hafteten, wenn er dachte, dass niemand hinsah, war ziemlich unmissverständlich.
Wovon Liam natürlich nur mäßig begeistert war.
Aber nun gut. Um diese blöde Situation zu beenden, mussten wir erstmal aus diesem Gebäude raus. Und das würde bekanntlich ja noch bis zum nächsten Morgen dauern.
Die paar Stunden würden wir auch noch überleben.
„Denkt ihr, Harry und Louis kommen überhaupt noch?"
Liam knirschte hörbar mit den Zähnen und ich widerstand mühsam dem Drang, die Augen zu verdrehen. Ryan schien nicht zu begreifen, dass es im Moment besser wäre, einfach die Klappte zu halten in Schweigen auszuharren, wenn er am Ende nicht doch noch einen Streit provozieren wollte.
Es sei denn ...
Wollte er womöglich einen Streit provozieren?
Darüber hatte ich mir noch gar keine Gedanken gemacht. Die Tatsache, wie offen er von Anfang an mit seinen Intentionen gewesen war, und dass er es sich nun nicht hatte nehmen lassen, uns Gesellschaft zu leisten, obwohl es anders auch gegangen wäre, würde durchaus für diese Theorie sprechen.
Aber wieso zum Henker sollte er das tun? Er wirkte auf mich nicht wie ein Arsch, der anderen Leuten gezielt ihre Partner ausspannte, um Stress zu machen. Und leichtläubig genug war er meiner Meinung auch nicht, um ernsthaft anzunehmen, dass ich Liam von einer Sekunde auf die nächste plötzlich fallenlassen würde, um mir einen Neuen zu suchen.
Meine Güte.
Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich ihn bemitleiden oder eher genervt von ihm sein sollte.
Wie auch immer. Jedenfalls versuchte er nun schon wieder, mit uns zu kommunizieren, und brachte Liam damit zur Weißglut.
Natürlich konnte ich es ihm nicht verübeln, die peinliche, feindselige Stille ein wenig auflockern zu wollen, nur leider erreichte er auf diese Art nur das Gegenteil. Liams Bereitschaft, ihm kurzerhand einen Kinnhaken zu verpassen, stieg vermutlich sekündlich.
Zu meiner Verblüffung machte mein Freund jedoch keine Anstalten, aus der Haut zu fahren. Stattdessen ließ er das Display seines Smartphones aufflammen, um die Uhrzeit zu prüfen.
„Du hast Recht." Seinem Tonfall nach zu urteilen, gab er das nur unter größtem Widerwillen zu. „Nicht einmal Louis könnte eine halbe Stunde brauchen, um die ganze Cafete einzusacken."
„Vielleicht haben sie sich doch umentschieden?", bot ich einen etwas lahmen Lösungsvorschlag an, doch Liam runzelte weiterhin wenig überzeugt die Stirn.
Ich konnte es ihm nicht verübeln.
Louis und Harry waren beide nicht die Art von Person, die andere warten ließen, ohne ihnen ein Update zu geben – zumal Louis vermutlich lieber gehungert hätte, als Liam und mich länger als nötig mit Ryan allein zu lassen.
Er war auffallend gut darin, die Gewaltbereitschaft anderer Leute wahrzunehmen (vermutlich, weil er selbst sehr leicht zu minimaler Aggressivität neigte), und die von Liam war aktuell immerhin ziemlich ... ausgeprägt.
„Das glaube ich nicht. Dann hätten sie uns definitiv einen kurzen Besuch abgestattet." Nachdenklich schürzte er die Lippen. „Vielleicht sind sie auf dem Klo. Zusammen."
Ich musste lachen. „Das waren sie doch schon."
Liam warf mir einen schrägen Blick zu. „Als ob die zwei das irgendwie abhält."
„Sollen wir nachsehen, wo sie bleiben?" Ich konnte den hoffnungsvollen Unterton in meiner Stimme nicht ganz verbergen.
Tatsächlich erschien es mir eine willkommene Gelegenheit zu sein, die aufgeladene Atmosphäre hier ein wenig zu lockern, indem wir uns aufteilten. Vor allem, indem ich für ein wenig Distanz zwischen Ryan und Liam sorgte.
Und ich musste ziemlich dringend aufs Klo.
„Ich kann mich anbieten. Ich würde bei diesem Anlass auch gleich einen Abstecher zu den Toiletten machen. Würdest du-..."
Bevor ich jedoch Liam zum Mitkommen einladen konnte, war Ryan schon aufgesprungen. „Ich komme mit, ich wollte ohnehin zur Cafete und mir ein paar Sachen holen."
Ich unterdrückte ein ernüchtertes Seufzen. War das sein gottverdammter Ernst? Vielleicht hatte ich mich in ihm getäuscht und er war wirklich einfach nur dumm. Oder naiv. Oder was auch immer.
Beruhigend drückte ich Liams Hand, als er seine Finger so fest im Saum meiner Jacke vergrub, dass ich befürchtete, er könnte das Lederimitat der Außenbeschichtung zerreißen.
Wenn Ryan unbedingt mit mir zur Cafete wollte, sollte er das doch tun. Nur weil er auf mich stand, hieß das noch lange nicht, dass wir ihn verteufeln mussten.
„Wir könnten alle zusammen gehen", schlug ich demnach vor. „Ein Spaziergang schadet keinem."
Liam schüttelte den Kopf, einen sauren Ausdruck im Gesicht. „Ja, genau. Und wenn ausgerechnet dann Harry und Louis eintreffen, ist das Chaos noch größer." Er zögerte. „Geht ihr ruhig. Ich bleib hier, falls sie auftauchen."
Überrascht sah ich ihn an. Damit hatte ich nach allem, was zwischen uns in den letzten Wochen gewesen war, nicht gerechnet. Ganz offensichtlich nahm er sich den Vorsatz, nicht bei jeder Gelegenheit zum Eifersuchtsfreak zu werden, zu Herzen.
Spontan beugte ich mich vor, um ihn zu küssen. „Okay."
Merkbar widerwillig ließ er die Arme von mir gleiten, damit ich mich aufrichten konnte. „Seid vorsichtig. Lasst euch nicht von den Ratten anfallen."
Strafend stieß ich ihn mit dem Ellbogen in die Seite. „Hör endlich auf damit. Das war nicht witzig. Es war höchst dramatisch."
„Stimmt." Endlich zupfte wieder dieses für ihn charakteristische, verschmitzte Lächeln an seinen Lippen. „Es war sogar so dramatisch, dass ich dich retten musste."
Ich verdrehte die Augen. „Bild' dir lieber nicht zu viel darauf ein, Payne. Ich bin mir sicher, ich hätte mich fabelhaft mit den Ratten verstanden. Aber natürlich war es auch ein Erlebnis, einen edlen Ritter zu haben."
„Das wir ich doch wohl hoffen." Er hob die Hand an meine Wange, um mich erneut zu küssen. „Okay, dann bis nachher. Ich liebe dich."
Er sagte das mit einer solchen Ernsthaftigkeit, dass es mir in Kombination mit dem treuherzigen Blick seiner schokoladenfarbenen Augen beinahe Tränen der Rührung in die Augen trieb. „Ich dich auch, Li. Bis später."
Bis zum letzten Moment, als wir die Tür des Bandraums schließlich hinter uns schlossen, spürte ich seinen bekümmerten Blick in meinem Rücken.
Ihm passte diese Konstellation natürlich überhaupt nicht, aber ich rechnete es ihm hoch an, dass er sich so offensichtlich darum bemühte, keinen Zoff zu veranstalten. Er wollte mir zeigen, dass er mir vertraute, nachdem ich ihm vorgeworfen hatte, das nicht genug zu tun, um mich mit anderen Leuten zu sehen.
Mal ganz abgesehen davon, dass es für diese Erkenntnis höchste Zeit geworden war.
„Na gut." Sichtlich verlegen vergrub Ryan die Hände in den Hosentaschen. Meinem Blick wich er aus und widmete sich stattdessen etwas umständlich seinem Smartphone, wobei er mehrere Anläufe brauchte, um endlich das Symbol der Taschenlampe zu finden. „Dann wollen wir mal. Ich ... ähm ..."
Etwas ungeschickt hielt er etwas empor und ich brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass es sich um einen Schal handelte. „Ich habe Ellies Schal mal mitgenommen, falls sie inzwischen zurück ist."
„Oh." Erstaunlich, dass er daran gedacht hatte, wo er Ellie kein bisschen kannte und nicht mehr als zehn Worte mit ihr gewechselt haben dürfte. Dennoch nickte ich ihm zu. „Gute Idee."
In recht angespanntem Schweigen machten wir uns auf den Weg – offenbar wusste Ryan ebenso wenig wie ich, wir uns verhalten sollten, und als sich beim Gehen einmal unbeabsichtigt unsere Hände berührten, entschuldigte er sich so hektisch, dass er mir leidtat.
Ich wand mich innerlich. Was für eine peinliche Situation. Wenn diese Nacht doch nur schon vorbei wäre und sich unsere Wege nur noch sporadisch kreuzen würden.
Ich räusperte mich. „Sollen wir uns aufteilen? Wenn du zur Cafete vorgehst, verkrümel ich mich aufs Klo."
Ryan zögerte sichtlich. Selbst im Licht seines Smartphones konnte ich den rötlichen Farbschimmer seiner Wangen erkennen.
„Wäre es ein Problem für dich, wenn wir zusammenbleiben?", erkundigte er sich dann kleinlaut. „Du kannst mich ruhig für eine Memme halten, aber ich bin nicht so der Typ dafür, allein irgendwo im Dunkeln herumzustolpern."
Na gut.
Damit hätte sich die Frage, warum nicht er allein im Bandraum zurückbleiben hatte wollen, auch erledigt.
Achselzuckend nickte ich. „Gar kein Ding. Du weißt ja, ich fürchte mich vor Ratten und Fledermäusen, wenn sie mit mir in einem Raum sind."
Der Scherz war nur halbherzig und genau genommen war es eigentlich auch gar keiner, aber Ryan lachte trotzdem, offenbar dankbar für jede noch so kleine Auflockerung, die er kriegen konnte. „Okay. Danke."
Einige Momente lang gingen wir in Schweigen nebeneinander her – Schweigen, für das ich unsäglich dankbar war. Allmählich hatte ich wirklich genug von peinlichem Smalltalk.
Leider hielt diese Ruhepause nicht lange an, denn als wir den Kellergang hinter uns gebracht und die Treppe erreicht hatten, meldete er sich erneut zu Wort, wenn auch etwas zurückhaltend.
„Also ... bei dir und Liam ..." Er kratzte sich am Hinterkopf. „Bei euch ist jetzt wieder alles gut, schätze ich."
Ich unterdrückte ein Seufzen.
Natürlich.
Ich hätte ahnen können, dass er dieses Thema anschnitt, sobald wir allein waren. Zwar formulierte er es nicht direkt als Frage, aber es war nur zu offensichtlich, dass er die Situation abchecken wollte. Ganz ungeachtet dessen, dass es für ihn nichts gab, das er ernsthaft abchecken hätte können.
Ich nickte nur. Was sollte ich auch sonst tun? Es war ja nicht so, als hätten Liam und ich uns mit uns hinterm Berg gehalten. „Alles gut."
Natürlich war noch nicht alles gut, bei Weitem nicht, aber ich hatte begründete Hoffnung, dass sich nach dieser Nacht alles klären würde. Oder zumindest das meiste.
„Okay." Nur zu offenkundig versuchte er, die Enttäuschung in seiner Stimme zu überspielen, aber es gelang ihm nicht vollständig. „Das ist ... schön."
Er fand es furchtbar.
„Danke."
Meine Wangen brannten. Scheiße, war das hier schrecklich. Wieso hatte ich nicht einfach allein gehen können?
Weil die beiden sich dann die Köpfe eingeschlagen hätten.
Guter Einwand.
Wenigstens hatte ich mich inzwischen so weit an die dunklen Gänge der Universität gewöhnt, dass ich nicht instinktiv um jede pechschwarze, bedrohlich wirkende Ecke einen Bogen machen musste. Zwar würden mich auch jetzt noch keine zehn Pferde mehr in die biologische Sammlung bringen, aber immerhin.
Draußen tobte noch immer der Sturm, wirbelte den Schnee gegen die Glasfront des Erdgeschosses, fegte heulend über das Dach des Gebäudes hinweg und rüttelte unnachgiebig an den Festern. Dafür schien der Schneefall jedoch inzwischen ein wenig nachgelassen zu haben, das hieß also, dass zumindest etwas Hoffnung auf Besserung bestand.
Als wir hinter der Biegung hervorgetreten waren, über die man vom Abschnitt des Treppenhauses auf den geradlinig verlaufenden, breiten Gang zur Cafete gelangte, tauchten in einiger Distanz vorne schon die flackernden Lichter der Kerzen auf.
Ich hörte, wie Ryan neben mir leise aufatmete, dann aber trotzdem noch ein wenig wartete, bis er die Taschenlampe seines Handys deaktivierte.
Ich versuchte, nicht zu amüsiert zu sein.
Der Gute schien tatsächlich Probleme mit der Dunkelheit zu haben. Aber wie gesagt, ich war der Allerletzte, der sich über irgendwelche Ängste das Maul zerreißen durfte. Ich konnte mich glücklich schätzen, dass niemand meinen Ausraster in der biologischen Sammlung auf Videoaufzeichnung festgehalten hatte. Diese Schmach würde mich sowieso noch mein ganzes Leben verfolgen, da brauchte ich nicht noch mehr Zeugen, die mich damit aufs Korn nahmen.
Es überraschte mich nicht, dass keine Stimmen durch die Halle schallten. Ich bezweifelte, dass Zayn viel mit Colin und Romy zu besprechen hatte. Und angesichts dessen, dass sowieso alle hundemüde und miesepetrig waren, bestand wohl auch nicht das Bedürfnis zu ausgelassenen Gesprächen.
Wir hatten gerade die riesige Feuerschutztür kurz vor den wenigen Treppenstufen, die zur Cafete hinaufführten, passiert, als Ryan einen Laut der Verwirrung von sich gab. „Wo sind sie denn alle?"
Ich, der ich damit beschäftigt gewesen war, den klemmenden Reißverschluss meiner Jacke noch ein Stück weiter hinaufzuziehen, um der Kälte noch weniger Angriffsfläche zu bieten, sah auf. „Was meinst-..."
Ein einziger Blick genügte, um mich abrupt abbrechen zu lassen.
Die Cafeteria war leer.
Nun gut, an sich wäre das noch nicht sonderlich merkwürdig gewesen.
Merkwürdig wurde das Ganze aber durch die Tatsache, dass die Teelichte nach wie vor in ihren Gläsern auf dem Tisch standen und ihr goldenes Licht in die Finsternis sandten.
Und als wir langsam die drei Stufen zum höhergelegenen Areal des Gangs erklommen, realisierte ich, dass nicht nur die Kerzen noch hier waren, sondern auch die ganzen Sachen, die die anderen bei sich gehabt hatten.
Rucksäcke, Trinkflaschen, Bücher, sogar ein Handy war am Tisch von Colin und Romy noch zu sehen.
Stirnrunzelnd trat ich näher. „Was zum ..."
Ich verstummte, als mein Schuh gegen irgendetwas stieß, das auf dem Boden herumlag.
Ich spürte Ryans beunruhigten Blick auf mir ruhen, als ich mich bückte, um den Gegenstand aufzuheben. Meine Verwirrung stieg ins Unermessliche, als ich ein vertrautes, dunkelgraues Smartphone erkannte, dessen Display nun jedoch angeschlagen war und von zahlreichen feinen Linien geziert wurde.
„Das ist Zayns Handy."
Ryan war unterdessen an an Colins und Romys Tisch herangetreten, um dort eine Wasserflasche aufzustellen, die umgefallen, im geöffneten Zustand dort gelegen und ihren Inhalt über die angrenzende Bank verteilt hatte.
Fassungslos ließ ich die Augen über das Chaos wandern. „Was zum Henker ist denn hier passiert?"
Ryan schluckte hörbar. „Ohne dramatisch sein zu wollen, aber ehrlich gesagt sieht es ein bisschen so aus, als hätten sie vor irgendetwas die Flucht ergriffen."
Eine Gänsehaut ließ die feinen Härchen auf meinen Armen zu Berge stehen, als ich feststellte, dass ich ihm insgeheim Recht geben musste.
Aber das war völliger Schwachsinn. Hier gab es nichts, vor dem man fliehen musste, schon gar nicht so überstürzt, dass man Handy und die wärmenden, lichtspendenden Teelichte zurückließ.
Oder?
Die Tatsache, dass die anderen jedoch ganz offensichtlich genau das getan hatten, versetzte meiner Überzeugung einen signifikanten Dämpfer.
Tatsächlich schienen sie ihr Lager sogar so überstürzt zurückgelassen zu haben, dass dabei Zayns Handy zu Boden und zu Bruch gegangen war. Und Zayn gehörte zu den süchtigen Leuten, denen die Unversehrtheit ihres Smartphones absolut heilig war, niemals würde er es leichtfertig fallen und dann auch noch zurücklassen.
Und als Ryan schließlich auch noch Romys quietschgelben, tischdeckengroßen Schal unter dem Tisch hervorzog, war es auch mit meiner Ruhe vollends vorbei.
„Okay, das ist seltsam." Einer Eingebung folgend, stieg ich über die aufgebrochene Absperrung des Verkaufsraums der Cafeteria hinweg. „Hey, Leute! Seid ihr hier?"
Ryans Hand, die mich am Arm packte, brachte mich zum Schweigen, und als ich verärgert herumwirbelte, wurde ich mit seinen weit aufgerissenen Augen konfrontiert.
„Was?!"
Unruhig huschte sein Blick umher. Sein Handy hielt er so fest umklammert, dass ich sogar im unruhigen Licht der Kerzen die Knöchel weiß hervortreten sah.
„Ich bezweifle, dass es eine gute Idee ist, laut herumzuschreien." Er zögerte. „Ohne Grund werden sie nicht geflohen sein."
„Geflohen?" Ich weigerte mich, dieser Theorie Glauben zu schenken, auch wenn ich nicht leugnen konnte, dass auch in mir allmählich leise Furcht aufkeimte. „Wovor zum Henker sollen sie denn bitte fliehen? Hier ist nichts! Buchstäblich nichts! Oder denkst du, sie sind vor den Ratten davongelaufen?"
Ryan hob die Schultern und fuhr sich mit der Hand durch seine roten Haare, die inzwischen nicht mehr ganz so sorgfältig frisiert wirkten, sondern in alle Richtungen abstanden. Seine Brillengläser reflektierten das Kerzenlicht, als er mich nervös ansah. „Ich weiß es nicht. Aber umsonst werden sie nicht alles stehen- und liegengelassen haben, oder?"
„Aber ... aber das ist doch Schwachsinn." Frustriert schüttelte ich seine Hand ab. „Wir sind hier nicht in einer Zombie-Apokalypse, Ryan."
Natürlich waren wir das nicht. Das hinderte die anderen aber auch nicht daran, wie vom Erdboden verschluckt zu bleiben.
Das gesamte Areal der Cafeteria war wie ausgestorben. Das flackernde Licht der Kerzen verlieh dem Ganzen eine gespenstische Atmosphäre, vor allem in Kombination mit den wild herumliegenden Habseligkeiten und den zerwühlten, chaotischen Verkaufsregalen.
Auch wenn ich das niemals laut zugegeben hätte, hatte die Lage hier durchaus Ähnlichkeit mit diversen apokalyptischen Szenarien.
Sorge kochte in mir. Was hatte die anderen dazu bewegt, so überstürzt einen Abgang hinzulegen? Und wo waren sie jetzt? Wir waren doch auch nur ein Stockwerk tiefer gewesen, hätten wir nicht hören müssen, wenn etwas Größeres passiert wäre?
Andererseits ... wenn man die Schalldämpfung des Bandraums unter Betracht zog, dann vielleicht auch eher nicht.
Liam war noch dort. Allein.
Die Gänsehaut wollte gar nicht mehr von mir weichen. Ruckartig machte ich kehrt, um Ryan einen Stoß zu versetzen.
„Komm. Lass uns zurückgehen. Was auch immer bei den anderen losgewesen ist, ich hab das Gefühl, dass es jetzt klüger wäre, zusammenzubleiben." Und Liam aufzusammeln, bevor er womöglich auch noch verschwand. Eine Vorstellung, die Panik in mir auslöste.
„Ganz deiner Meinung."
Während Ryan mit der aktivierten Taschenlampe voranging, schnappte ich mir noch ein zusätzliches Teelichtlgas vom Tisch. Irgendetwas sagte mir, dass wir jetzt gar nicht genug Licht bei uns haben konnten.
Und das war diese eine Sekunde, in der mich in dieser Nacht zum ersten Mal ernsthaft das Gefühl beschlich, dass irgendetwas hier nicht mit rechten Dingen zuging.
Plötzlich schien das Gebäude noch viel dunkler, viel kälter, viel bedrohlicher zu sein.
Ich ertappte mich dabei, wie ich auf dem Rückweg voller Paranoia in jeden Winkel leuchtete, jede Tür misstrauisch beäugte und mich an mein Teelichtglas klammerte, als wäre es mein letzter Überlebensanker.
Ryan schien es nicht recht viel besser zu ergehen, angesichts dessen, wie unruhig der Lichtkegel seiner Taschenlampe unablässig von einer Seite des Gangs auf die andere wanderte. Dabei zitterte er so sehr, dass ich das Bedürfnis verspürte, ihm das Handy aus der Hand zu reißen, bevor er mich mit dem tanzenden Licht noch komplett irre werden ließ.
Beinahe schon hektisch nahm ich auf der Treppe zum Keller hinab immer zwei Stufen gleichzeitig, ungeachtet der Tatsache, dass ich dabei mehrmals beinahe auf die Schnauze gefallen wäre.
Ryan hielt sich durchgehend so dicht an meiner Seite, dass es mir unter anderen Umständen durchaus unangenehm gewesen wäre, doch im Augenblick hätte es mir gleichgültiger nicht sein können. Jetzt in dieser Sekunde konnte es mir gar nicht schnell genug gehen, Liam zu erreichen und ihn über den seltsamen Verbleib der anderen zu informieren. Und einfach auch deshalb, um Beruhigung in seiner vertrauten Nähe zu suchen und zu verhindern, dass auch wir einander aus den Augen verloren.
„Niall, stopp!"
Ryans Stimme war so schrill und so panisch, dass ich fast eine Stufe übersehen hätte.
Im letzten Moment konnte ich mich mit der freien Hand am Treppengeländer festklammern, ohne das Teelicht fallenzulassen, das ich noch immer in der anderen bei mir trug.
Alarmiert wirbelte ich herum. „Verdammt, Ryan! Was-..."
„Sieh nur." Ryans Wangen waren plötzlich kreidebleich. „Da unten."
Zunächst konnte ich ihn nur verwirrt ansehen, bis ich seinen ausgestreckten Zeigefinger entdeckte, der auf etwas am Fuß der Treppe deutete, das nur noch wenige Stufen von uns entfernt war.
Langsam und mit erneut aufkeimender Nervosität folgte ich dem Fingerzeig, bis mein Blick schließlich an einem dunklen Fleck auf dem steinernen Boden hängenblieb.
Er war nicht besonders groß, wirklich nicht, aber als ich unwillkürlich noch zwei Stufen näherrückte und mein Glas mit der Kerze anhob, realisierte ich, dass er rötlich schimmerte.
Eine Lache roter Flüssigkeit.
Nur schleppend sickerte zu mir durch, worum es sich handeln könnte – und wovon Ryan offenbar auch ausging, worum es sich handelte, seinem entsetzten Gesicht nach zu urteilen.
Langsam schob ich mich noch weiter vorwärts, bis ich auf der letzten Stufe und damit unmittelbar vor der in Frage stehenden Flüssigkeit angekommen war. Sie war eindeutig tiefrot, nur kaum durchscheinend – und an einer Seite an den Rändern leicht verschmiert.
So, als hätte man etwas daraus weggezogen. Oder ... jemanden.
Plötzlich standen mir sämtliche Haare zu Berge.
Das war Blut. Ich wusste es einfach.
Und ich bezweifelte, dass es von den Ratten stammte.
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Yaaay, Drama.
Und es kommt noch mehr Drama. (yaaay)
Merci für Sternchen und Kommis und liebe Grüße!❤😇
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