Samstag, 1. Dezember, 21:47 Uhr
Mir war langweilig.
Einfach nur sterbenslangweilig.
Mürrisch kratzte ich mit den Fingern an der Tischkante herum, wobei ich prompt einen angetrockneten Kaugummi berührte und sie schnell wieder zurückzog. Angewidert wischte ich sie an meiner Hose ab, einen verstohlenen Blick zu meinen Leidensgenossen werfend, doch die waren viel zu sehr mit Dahinvegetieren beschäftigt, um sich an meinem Unglück zu ergötzen.
Ich wiederhole: Langweilig.
Wo wir uns zu Beginn noch einigermaßen darum bemüht hatten, die Konversation aufrechtzuerhalten und uns die Zeit wenigstens halbwegs sinnvoll zu vertreiben, lungerten wir nun auf vier Tische verteilt vor der Cafeteria herum und schwiegen einander an.
Ich saß mit Louis, Harry und Ellie als eingeschworener Kern unserer Band an einem Tisch, während es sich an einem anderen ein Stück weiter entfernt die Studentinnen aus der Bibliothek bequem gemacht hatten.
Die vier jungen Frauen waren schon die ganze Zeit über mit Tuscheln beschäftigt (ihnen ging der Gesprächsstoff offenbar nicht so schnell aus), während sie immer wieder verstohlene Blicke in unsere Richtung waren, doch wir waren alle viel zu müde, um groß eine Miene zu verziehen.
Sollten sie doch tratschen, wenn es ihnen so viel Spaß machte.
Liam und Zayn kauerten an einer anderen Sitzgruppe zu zweit beisammen, und Ryan, mit seinen flammend roten Haaren sogar im Dunkeln gut erkennbar, hatte sich sichtlich widerwillig zu Romy und Colin gesellt.
Fast hätte er mir leidgetan.
Aber eben nur fast.
Die Taschenlampen hatten wir nach einiger Zeit deaktiviert, als wir bemerkt hatten, dass das Leuchten der Straßenlaternen von draußen und der weiß schillernde Schnee genug Helligkeit spendeten, um wenigstens schemenhaft sehen zu können.
Außerdem hatte uns Liam (wer auch sonst) ins Gewissen geredet, doch besser die Akkukapazitäten unserer Handys zu schonen. Liam, der Vernunftsbrocken.
Nun gut, Recht hatte er ja, auch wenn ich es nur äußerst unwillig zugab – wer wusste schon, wofür wir die Handys sowohl als Taschenlampen als auch als Kommunikationsmittel an sich noch brauchen konnten?
Richtig, die Dinger könnten noch wichtig werden. Ihr Akku war also heilig.
Unerwünschter Nebeneffekt Heiligkeit war aber leider, dass wir nun im Halbdunkel saßen, was vermutlich einer der Gründe war, wieso wir jegliche Unterhaltung eingestellt hatten.
Das Dämmerlicht war bedrückend, kalt und erstickte jede Energie zu lockerer Konversation im Keim. Die daraus resultierende Stille war unangenehm und angespannt, während jeder gedankenverloren auf den Tisch, den Boden oder aus dem Fenster starrte, immerzu dem Rauschen des Unwetters und den zahlreichen Sirenen in der Ferne lauschend.
Mehrere Male war ein Rettungshubschrauber über den Campus hinweg in Richtung Uniklinikum geflogen, doch mit immer weiter zunehmendem Wind waren die Abstände immer größer geworden, bis wir nun seit einer guten halben Stunde keinen mehr zu Gesicht bekommen hatten.
Vermutlich hatte das Unwetter nun eine Windstärke erreicht, bei der es sich nicht verantworten ließe, über einer Stadt (oder überhaupt) irgendein Fluggefährt abheben zu lassen.
Das Schweigen zerrte an meinen Nerven und ließ mich in steigender Unruhe auf meinem Stuhl umherrutschen.
Die Lage war vollkommen aussichtslos. Uns würde nichts anderes übrigbleiben, als die Zeit hier abzusitzen und irgendwie totzuschlagen, nur um irgendwann, sobald sich die Wetterlage beruhigt hatte, vermutlich trotzdem den Notruf zu wählen.
Morgen war immerhin Sonntag und die Universität damit offiziell geschlossen – niemand, der auch nur halbwegs sein Leben unter Kontrolle hatte, würde sich an einem Feiertag hierherbequemen.
Wenn wir uns also nicht selbst irgendwo meldeten, würde man uns hier wohl erst am Montag entdecken. Oder unsere Leichen. So lange wollte ich beim besten Willen nicht Däumchen drehend in der Cafeteria herumsitzen und womöglich kläglich verhungern.
Missmutig starrte ich Liams Hinterkopf an.
Vielleicht sollten wir einfach noch einmal streiten. So würde die Zeit sicherlich ein wenig schneller vergehen und die anderen hätten garantiert großes Kino, auch wenn sich meine Lust, sich vor Publikum mit meinem Ex zu prügeln, ordentlich in Grenzen hielt.
Lautes Quietschen ließ mich hochschrecken.
Colin hatte seinen Stuhl zurückgeschoben und sich erhoben. „Ich hol mir was aus dem Automaten."
Ich war amüsiert. Konnte der Kerl vielleicht Gedanken lesen?
Aber dann fiel mir ein, dass es da eine klitzekleine Tatsache gab, die diesem Plan mit dem Automaten wohl einen Strich durch die Rechnung machen würde, woraufhin mir das Grinsen schlagartig verging.
Irgendwann räusperte sich Harry. „Stromausfall. Schon vergessen? Der Automat ist tot."
Kurz trat Stille ein.
„Fuck", sagte Colin dann und setzte sich wieder hin, einen verzweifelten Ausdruck im Gesicht. „Ich habe seit heute Morgen nichts mehr gegessen."
Hätten wir uns nicht in einer solchen Situation befunden, hätte ich ihn nun wahrscheinlich ausgiebig ausgelacht, schon allein deshalb, weil ich selbst niemals von morgens bis spätabends ohne Essen durchhalten würde.
Es gab eben Dinge, die einfach unmöglich waren. Und eine so lange Zeitspanne ohne Nahrung gehörte für mich definitiv dazu.
Louis gab ein Grunzen von sich. Er, ganz das schlaue Kerlchen, hatte seinen Stuhl so weit zu dem von Harry hinübermanövriert, dass er sich mit dem Rücken bequem an dessen Brust lehnen und einen Teil seiner Körperwärme für sich abzwacken konnte.
Harry wiederum hatte von hinten seine Arme um seinen Freund geschlungen, ihre Finger miteinander verschränkt und das Kinn auf seiner Schulter abgelegt, sodass er seine Nase in dessen Nacken vergraben konnte.
Die beiden waren als Paar so rührselig, dass es schon fast wehtat.
„Wie hast du überhaupt so lange überlebt?", sprach Louis die Frage aus, die auch mir sehr berechtigt zu sein schien. „Ich wäre schon lange zur Diva mutiert."
Harry schnaubte so laut, dass Ellie, die mit auf den Tisch gebettetem Kopf beinahe eingeschlafen wäre, erschrocken emporfuhr. „Komm schon, Lou. Du bist sowieso eine Diva, ganz egal, wie viel Futter man dir gibt."
Empört stieß Louis im Versuch eines etwas merkwürdigen Kinnhakens von unten seinen Hinterkopf gegen Harrys Kiefer, während Ellie kicherte.
„Pass auf, was du sagst, Harold", warnte er, einen so drohenden Unterton in der Stimme, dass ich selbst an Harrys Stelle vermutlich das Weite gesucht hätte. „Glaub es oder glaub es nicht, aber ich habe Handschellen dabei."
Sein darauffolgendes Grinsen war einfach nur dreckig.
Kollektives Protestgeheul erschallte aus mehreren Kehlen, aber am lautesten war das von Ellie, die sich zusätzlich auch noch die Hände auf die Ohren gepresst hielt. „Tomlinson, du Schwein! Niemand hat nach Details aus eurem Sexleben gefragt."
„Wer sagt denn, dass es um unser Sexleben geht?", gab Louis unschuldig zurück. „Mein Großvater war Polizist. Ist es wirklich so überraschend, dass ich Handschellen besitze?"
„Die Frage ist eher, wofür du sie benutzt."
„Willst du diese Details immer noch?" Unschuldig lächelte er sie an und ich musste dem Drang widerstehen, ihm eine Kopfnuss zu geben.
Dieser Idiot genoss Gesprächsthemen dieser Art viel zu sehr.
„Verschon mich." Ellie wandte sich mir zu. „Niall, kannst du ihn nicht mit deiner Gitarre erschlagen?"
Welch hervorragende Idee.
„Na ja, wenn du mich so fragst..."
„Apropos Gitarre", mischte sich wieder einmal Ryan ein, der über den schmalen Gang zwischen den Tischen hinweg ausgerechnet neben mir saß, und das aller Wahrscheinlichkeit nicht zufällig.
Liams Reaktion auf diese Tatsache hatte ich mir nicht zu Gemüte geführt, aber ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie diese ausgefallen war. Zayn, der ihm gegenübersaß und sich nun mit seiner miesen Laune herumschlagen musste, tat mir aufrichtig leid.
Ryan sah uns der Reihe nach hoffnungsvoll an. „Wieso spielt ihr nicht akustisch ein bisschen? Es ist öde."
Ellie grummelte ungehalten vor sich hin, während Harry sichtlich erleichtert war über den rapiden Themawechsel. Im Gegensatz zu Louis war er nicht ganz so freigiebig, was ... private Informationen betraf.
„Seh ich so aus, als hätte ich ein Schlagzeug in der Hosentasche?"
Ich verdrehte die Augen und stieß meine Kollegin unter dem Tisch mit dem Fuß an. Ryan musste sich allmählich ziemlich veräppelt vorkommen, so wie er grundsätzlich von allen am laufenden Bande angemotzt und veräppelt wurde. Dabei konnte er nun wirklich nichts dafür, zwischen die Fronten eines Band- und Beziehungskrieges geraten zu sein.
Dementsprechend warf ich ihm einen entschuldigenden Blick zu. „Ich bezweifle, dass irgendjemand Lust darauf hat, die ganzen Songs noch einmal durchzukauen. Außerdem ist die Gitarre das einzige Instrument, das jetzt brauchbar ist. Den E-Bass kannst du ohne Strom vergessen. Und das Klavier steht im Keller."
Enttäuscht verzog Ryan das Gesicht, während er nachdenklich meinen Gitarrenrucksack musterte. Dann hellte sich seine Miene wieder auf. „Du könntest mir doch ein paar Griffe zeigen."
Moment. Was?
Als ich ihn irritiert anstarrte, hob er schief grinsend die Hände. „Ich meine, ich bin ein hoffnungsloser Fall, aber ... das wäre auf jeden Fall spannender, als dumm herumzusitzen und Löcher in die Decke zu starren."
Da hatte er allerdings Recht.
„Hm. Okay." Achselzuckend griff ich nach der Gitarrentasche und machte mich daran, das Instrument auszupacken. Alles war jetzt besser, als tatenlos Däumchen zu drehen. Vermutlich hätte ich jetzt sogar freiwillig ein hyperaktives Kindergartenkind unterrichtet, um mir die Zeit zu vertreiben. „Erwarte aber keinen Crashkurs. Ich bein ein ganz miserabler Lehrer."
Ryan strahlte mich an. „Das wage ich zu bezweifeln."
Peinlich berührt unterbrach ich den viel zu intensiven Blickkontakt.
Liam würde mich umbringen. Nein, zuerst Ryan und dann erst mich.
Dennoch kam ich nicht umhin, im Stillen meine Gedanken kreisen zu lassen. Was waren denn nun meine Beweggründe hierbei? Warum hatte ich Ryans Idee denn wirklich zugestimmt? Tatsächlich zum Zeitvertreib? Oder vielleicht einfach nur deshalb, weil ich Liam gegenüber ein Zeichen setzen wollte?
Ich war mir nicht sicher, aber da es nun ohnehin schon zu spät war für einen Rückzieher, schob ich die Selbstzweifel beiseite.
Während ich ein wenig unbeholfen damit begann, ihm die Spielhaltung zu erklären, nahmen auch die anderen wieder leise ein Gespräch auf und diskutierten über den Verlauf der Prüfung am Montag. Zum Glück. Ich war zwar wirklich nicht gerade auf den Mund gefallen, aber wenn ich etwas hasste, dann waren es viele Zuhörer, wenn ich jemandem etwas erklären musste.
Zu meiner Erleichterung verfügte Ryan über eine beachtlich schnelle Auffassungsgabe, sodass er nach nur wenigen Minuten praktisch reibungslos den Akkordwechsel zwischen E-Moll und D-Dur auf die Reihe bekam und diesen noch dazu in das klassische 4/4-Takt-Schlagmuster integrieren konnte. Und das, wo er – nach eigenen Angaben – noch nie eine Gitarre in der Hand gehalten hatte.
„Sehr cool", lobte ich ihn, ehrlich beeindruckt. „Wenn du dich dahintersetzen würdest, könntest du mit der Gitarre durchaus durchstarten."
Ryan grinste breit, bevor er mir das Instrument wieder reichte, um wehmütig seine wunden Fingerkuppen zu mustern. „Nett von dir, das zu sagen, aber ich glaube trotzdem nicht, dass ich im musikalischen Bereich sonderlich gut aufgehoben wäre."
„Das-..."
Lautes Knirschen ließ uns zusammenzucken und als ich mich umdrehte, sah ich, dass Liam unnötig heftig seinen Stuhl zurückgeschoben und sich erhoben hatte.
„Wir sollten uns in der Cafete bedienen." Sein Tonfall verhieß nichts Gutes. „Ich habe Hunger und wage zu behaupten, dass das hier eine Art Notsituation ist. Verhungern können wir schließlich nicht. Will sonst jemand etwas?"
Als hätte er nur auf dieses Signal gewartet, sprang Colin voller Elan auf. Etwas, das man von ihm für gewöhnlich absolut nicht kannte. „Da fragst du noch?"
Liam streifte Ryan mit einem unfreundlichen Blick, bevor er sich mit Colins Hilfe an der metallenen Absperrung der Cafeteria zu schaffen machen begann. Auch Louis und Harry erhoben sich schwerfällig und unter unnötig vielen Berührungen, während Ellie halb auf dem Tisch liegend weiter vor sich hindöste.
Ein dumpfes Gefühl machte sich in mir breit, während ich aus den Augenwinkeln Liams angespannte Schultern in mich aufnahm.
Ich hatte bewusst und mit Absicht genau das getan, von dem ich wusste, dass er es am allermeisten hasste. War das in Anbetracht der Situation zwischen uns noch vertretbar gewesen oder war ich damit bereits zu weit gegangen? Und worauf hatte ich eigentlich abgezielt? Hatte ich ihn eifersüchtig machen wollen? Wollte ich ihm auf den Keks gehen?
Meine Güte.
Die Tatsache, dass ich mir all diese Fragen nicht einmal selbst beantworten konnte, sorgte dafür, dass sich schlechtes Gewissen in Form eines Knotens in meiner Magengegend ansiedelte.
Passend zu meiner Stimmung hatte in den letzten Minuten auch das Unwetter an Heftigkeit zugenommen. Mittlerweile rüttelte der Wind so wütend an den Fenstern, dass ich nachvollziehen konnte, wieso man die Fenster in weiser Voraussicht allesamt verriegelt hatte. Vielleicht hatte dieser ganze Bullshit hier doch irgendwo seinen Sinn.
Weise Voraussicht. Fast hätte ich gelacht.
Die sollte ich mir wohl auch mal aneignen.
Ich schrak hoch, als wie aus dem Nichts etwas auf mich zuflog, und nur durch eine erstaunlich gut ausgeprägte Reflexreaktion meines Körpers schaffte ich es, das Flugobjekt abzufangen, bevor es an mir vorbeidüsen konnte.
Überrascht starrte ich es mehrere Sekunden lang an, bevor ich endlich begriff, worum es sich handelte.
Es war eine Tafel Vollmilchschokolade mit Haselnüssen, meine Lieblingssorte.
Verblüfft sah ich auf und wurde prompt mit Liam konfrontiert, der sich genau in dieser Sekunde mir gegenüber auf den Platz setzte, an dem Harry vorher gesessen hatte. Louis' Stuhl schob er langsam ein Stück zur Seite, deutlich um Ruhe bemüht, bevor er die Ellbogen auf dem Tisch abstützte.
Ich kam nicht umhin, gerührt von dieser Geste zu sein. Obwohl unser Streit vorhin alles andere als harmlos gewesen war, ließ er es sich nicht nehmen, mich mit Essen zu versorgen – vermutlich wusste er genau, dass ich mich aus purem Trotz heraus nicht an der Plünderaktion beteiligt hatte.
„Danke." Wie von selbst hoben sich meine Mundwinkel zu einem Lächeln, brachte es jedoch nicht über mich, ihm direkt in die Augen zu sehen. Wie sehr ich mir doch wünschte, dass zwischen uns alles so sein könnte wie vor einem halben Jahr. Bevor alles so ... seltsam geworden war. „Du hättest das nicht tun müssen."
Liam zuckte die Schultern. „Ich dachte, du kannst sicherlich ein wenig Nervennahrung brauchen."
Mit konzentriertem Gesicht zupfte er so lange vorsichtig an der Verpackung seiner eigenen, weißen Schokolade herum, bis seine Finger das Papier ohne einen einzigen noch so winzigen Riss von dem essbaren Inhalt gelöst hatten.
Obwohl ich ihn nach all den Jahren bestimmt schon an die hundert Mal dabei beobachtet hatte, war ich immer noch beeindruckt von seinen feinmotorischen Fähigkeiten. Meine eigene Verpackung sah nach dem Öffnen meistens aus, als wäre eine Horde wilder Rhinos darüber hergefallen.
Prüfend musterte ich Ellie, die ihre Jacke auf den Tisch gelegt hatte und nun ihr Gesicht darin vergraben hielt, aber sie atmete ruhig und gleichmäßig, also ging ich davon aus, dass sie wohl tatsächlich eingeschlafen war.
„Li ...", begann ich demnach zögerlich und legte die noch immer fest verpackte Schokoladentafel behutsam vor mir auf den Tisch. Vielleicht würde der Appetit zurückkehren, wenn ich mein Gewissen ein wenig erleichtert hatte. „Das mit Ryan vorhin tut mir leid. Es war dumm, das Ganze auch noch zusätzlich zu provozieren, wo es im Augenblick ohnehin schon ... schwierig ist."
Überrascht hielt Liam inne, um mich anzusehen. „Du musst dich für gar nichts entschuldigen."
Seufzend nestelte er an der inneren Aluschicht herum. „Es ist dein gutes Recht, dich mit anderen Leuten zu unterhalten. Ich sollte mich einfach in den Griff kriegen."
Jetzt war es an mir, ihn völlig überrumpelt anzustarren.
War das sein Ernst?
Monatelang hatten wir über ein und dasselbe Thema gestritten – verzweifelt hatte ich versucht, ihm zu verstehen zu geben, dass seine Kontrollneigung einen Keil zwischen uns trieb, ich hatte ihn praktisch angefleht, mir anzuvertrauen, woher dieser plötzliche Umschwung kam.
Und jetzt saßen wir uns mitten in der Nacht an der Uni-Cafete gegenüber, jeder von uns mit einer Tafel Schokolade in der Hand, und plötzlich gab er genau jene beiden Sätze von sich, von denen ich seit Monaten geträumt hatte?
Bevor ich mich jedoch weit genug gesammelt hatte, um zu einer Erwiderung anzusetzen, kamen meine Gedankengänge zum Erliegen, als plötzlich ein merkwürdig knackendes Geräusch über unsere Köpfe hinwegfegte.
Es war unfassbar laut, dröhnte durch die riesige Aula und hallte unzählige Male in den gähnend leeren Gängen wider, bis es sich in nur noch vage spürbaren akustischen Schwingungen verlief.
Die leisen Gespräche aus dem Einkaufsbereich der Cafeteria verstummten schlagartig.
Ellie war wie vom Blitz getroffen hochgefahren, einen gehetzten Ausdruck im Gesicht, und nur eine Sekunde später erschienen Harry, Louis und Colin am Eingang der Cafete, die Hände mit Kekspackungen und allerlei anderem Zeug beladen. Die Mädels, die sich noch immer abseits hielten, saßen kerzengerade auf ihren Hockern und starrten zur Decke, ebenso Liam, einen Klecks Schokolade im Mundwinkel.
„Kam das ... aus den Lautsprechern?", ergriff schließlich Harry mit dumpfer Stimme das Wort. „Aus denen für die Durchsagen?"
Automatisch wanderten alle Blicke zu dem großen grauen Lautsprecher empor, der an die fünfzig Schritte entfernt in der Ecke der Halle angebracht war und nun jedoch keinen Mucks mehr von sich gab. Wobei ich sehr stark anzweifelte, dass es sich bei ihm um den Übeltäter handelte.
Ich hatte in meinen ganzen sieben Semestern noch keine einzige Durchsage erlebt, daher wäre es zugegebenermaßen ziemlich abstrus, ausgerechnet jetzt Zeuge davon zu werden, wie diese unscheinbaren, sonst so stillen Geräte plötzlich zum Leben erwachten.
„Ähm." Die Rothaarige der vier Studentinnen drüben räusperte sich nervös. Zwischendurch hatte ich mich schon gefragt, ob ihre Freundinnen vielleicht aufs Maul gefallen waren, aber vielleicht war die mit den roten Haaren auch einfach die Anführerin der Clique, der die anderen das Reden überließen. „Wie kann der Lautsprecher knacken, wenn er keinen Saft hat?"
Sie wollte noch etwas hinzufügen, doch eine ihrer Freundinnen unterbrach sie mit einem aufgeregten Quieken, anscheinend waren sie doch nicht alle taubstumm.
„Vielleicht sitzt jemand am Mikrofon und versucht, eine Durchsage zu machen?" Auffordernd sah sie in die Runde. „Vielleicht ist außer uns doch noch jemand hier und möchte alle Eingeschlossenen sammeln."
Verblüffte Blicke wurden getauscht. Diese Theorie klang tatsächlich gar nicht mal so dumm, auch wenn sich dadurch natürlich trotzdem nicht erklären ließ, woher der Strom für eine Durchsage stammen sollte.
Da das im Moment aber niemanden so richtig zu interessieren schien, beschloss ich, diese Tatsache vorerst zu ignorieren.
„Von wo aus werden die Durchsagen denn gemacht?", erkundigte sich Harry nachdenklich, während Liam sich weiterhin damit abmühte, einen Streifen geschmolzener Schokolade von seiner Wange verschwinden zu lassen. „Dann sollten wir dort vorbeischauen."
Er hatte den Satz kaum vollendet, da war Ellie auch schon aufgesprungen. Keine Spur der Müdigkeit war mehr in ihren nun vor Aufregung glänzenden Augen zu sehen.
„Vom Sekretariat im dritten Stock aus", verkündete sie. „Ich habe die Anlage gesehen, als ich eine Hausarbeit persönlich abgeben musste."
„Im dritten Stock gibt es ein Sekretariat?", fragte Colin etwas dümmlich.
Niemand hielt es für nötig, das zu beantworten. Wenn man auch nach sieben (nein, in seinem Fall waren es acht) Semestern noch nicht wusste, wo sich das Sekretariat befand, war einem vermutlich ohnehin nicht mehr zu helfen.
Ellie verdrehte die Augen und schnappte sich ihre Jacke. „Ich schau mal hoch."
Ehe ich einen weiteren Gedanken daran verschwenden konnte, schoss ich kurz entschlossen ebenfalls von meinem Stuhl empor. „Ich komme mit. Wenn ich noch länger tatenlos hier herumsitze, verrotte ich."
Das Rascheln von Kleidung ließ uns umsehen und erstaunt feststellen, dass auch die vier Mädels ihre Sachen gepackt hatten.
„Wir gehen in die Bib zurück", erklärte eine von ihnen, die offenbar ebenfalls nicht stumm war. „Hier wird es uns langsam echt zu kalt."
Ellie und ich tauschten einen Blick. Was für ein Schwachsinn.
Da die vier unsere Antwort nicht abwarteten und auch keiner von uns recht erpicht darauf war, ihnen aus freien Stücken eine zu geben, pilgerten die Mädels ohne ein weiteres Wort davon, ihre riesigen, pelzigen Wollschals fest um sich geschlungen.
Louis grunzte amüsiert, als er erst einen Berg Kekspackungen auf den Tisch und dann sich selbst in meinen eben freigewordenen Stuhl fallen ließ. „Endlich. Aus irgendeinem Grund haben sie mich aggressiv gemacht."
„Aggressiv", wiederholte Ellie zweifelnd. „Du."
Mit schmalen Augen sah sie ihm dabei zu, wie er gierig eine der Schachteln aufriss und sich gleich zwei Cookies auf einmal in den Mund stopfte. „Hoffentlich hast du das alles bezahlt. Wir befinden uns nämlich noch nicht in einer Apokalypse, falls du davon ausgegangen sein solltest."
Louis zeigte ihr den Mittelfinger.
Ich wollte schon genervt einschreiten, doch bevor ich auch nur Luft holen konnte, hatte Ellie sich schon meinen Arm geschnappt und mich daran in Richtung der Treppen davongezerrt. Unwillkürlich warf ich einen Blick zurück zu den anderen, insbesondere zu Liam, dessen Augen mich eindringlich verfolgten, während er selbst unruhig an der Verpackung der Schokolade friemelte. Sorge stand ihm übers ganze Gesicht geschrieben.
Abrupt wandte ich mich ab, um meiner Kollegin weiter ins nächtliche Herz der Universität zu folgen.
Liam sowie das begonnene Gespräch würden eben noch ein Weilchen warten müssen. Es war ja nicht so, als würden wir einander nicht in rund zehn Minuten wieder auf der Pelle sitzen.
-------------------------------
Was im Sekretariat wohl auf die beiden warten mag? Oder ... nun ja. Ob sie überhaupt so weit kommen...?
Damn.
Vielen lieben Dank für all eure Sternchen und Kommis!🥺❤
Liebe Grüße!🎀
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro