= Watching As I Fall [Choi Seou] =
Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand Choi Seou kennt, ist, glaube ich, sehr gering. Deswegen stellte ich ihn euch vor.
Choi Seou ist südkoreanischer Skispringer (Nachname: Choi, Vorname: Seou) und einer der fünf im koreanischen Nationalteam.
Die Koreaner sind immer dabei, nur sieht man sie nicht oder selten im Fernsehen. Seou wurde dieses Wochenende überraschender Achter im COC in Sapporo, wo die Jungs sonst immer weiter hinten platziert sind bzw. gar nicht die Qualifikation schaffen.
Neben Seou springen auch noch Kang Chillgu, Choi Heungchul, Kim Hyunki und eine junge Frau namens Park Guylim (geb.: 1999) für Korea.
Immer auf die Olympischen Spiele werden die Springer aus dem Skiclub High 1 (einziger Verein) wettbewerbstauglich gemacht. 2012 wurde Wolfgang Hartmann (ehemaliger deutscher Skispringer) der Posten des Trainers übergeben, der sie für Pyeongchang fit machen soll. Doch es scheitert weitgehend an dem nötigen Geld, der Ausrüstung und geht soweit, dass sie sich sogar für das Training im Alpensia Stadium den Schanzenhang und die Schanze selbst präparieren müssen. Seou wurde einmal letzter, in einem Weltcupspringen, da sein Anzug zu klein war und er daran gehindert, richtig zu springen.
Es ist interessant die Jungs und Guylim zu verfolgen, wo bei ihnen noch der Spaß an der Sache an vorderster Front steht. Und auch ihre Trainingsmethoden sind einfallsreich. 2009 wurde sogar ein Film über Skispringer (basierend auf der wahren Geschichte des Teams) gefilmt. Take Off (2009) war ein Kassenschlager und kann sogar im Internet mit englischen Untertiteln gesehen werden. Er ist wirklich empfehlenswert!
Lange Rede, kurzer Sinn. Das koreanische Team ist nicht wirklich an der Spitze mit dabei, dennoch nicht im Schatten stehen zu lassen. In COCs und Winteruniversiaden mischen sie gerne mit.
Außerdem sind sie super sympathisch und Seou sowie Hyunki sprechen Deutsch. Ich habe mit Hyunki auf Instagram einmal geschrieben und er war sehr freundlich, hat sogar, wenn auch leicht kryptisch, in Deutsch geschrieben.
Instagram:
chilku_kang
seou_choi
traum3123 (Choi Heungchul)
topski1 (Kim Hyunki)
g_limile (Park Guylim)
https://youtu.be/uRAtk8owdTU
____________
Hattet ihr jemals das Gefühl vorher zu wissen, dass ihr fallen werdet? Egal was es war, ihr wusstet im Vorhinein schon, dass es passiert und egal was ihr auch dagegen unternehmen wollt, ihr könnt es nicht verhindern, weder noch unterlassen. Es war dieser sechste Sinn eines Menschen der sich entfachte. Der Sinn, der einem sagte, dass man versagen würde.
Aus welchem Grund auch immer wusste er es.
Mit einer Handbewegung schwang er sich die Ski auf die Schulter und trat aus dem Container. Er war der letzte seiner Nation, da er in den letzten Springen etwas besser und somit startnummerntechnisch etwas weiter hinten startete. Er schloss die Tür hinter sich und nahm die Sonne auf seinem Anzug war, die warm kribbelte. Das Wetter hier war schön beim Continental Cup in Sapporo. Das koreanische Team hat sich derzeit aus dem Weltcup zurückgezogen und war in den COC eingestiegen. Einen Gang zurückschalten, wie Wolfgang es beschrieben hat. Der Weltcup war doch eine Liga zu hoch für die einzigen vier männlichen koreanischen Nationalspringer, während sich Guylim tapfer durch die Weltcupwettkämpfe schlug und dort nicht schlecht abschnitt. Sie sahen sie weniger und trainierten nur im Sommer gemeinsam.
Langsam zog sich sein Magen zusammen, was er geschickt zu ignorieren versuchte. Er hatte diese im Bauch sitzende Nervosität seit gestern Abend, die nichts Gutes hieß. Außerdem hat er sich gestern mit seiner langjährigen Ehefrau gestritten. Neben dem achten Platz am Vortag im Bewerb, war dies die Kehrseite der Münze spät um Mitternacht gewesen, welche bittere Pille er geschluckt und in seinem Kopf die Gedanken zur Seite geschoben hat.
Auch wenn Seou sich bemüht hatte, die Diskussion leise zu führen und Chilgu nicht aufzuwecken, war dieser nach Beenden des Telefonats erwacht und aufgestanden, um den Grund für die halb gerufenen Worte herauszufinden. Vorgefunden hat er nur einen weinenden Seou, der den Kopf an die Wand gelehnt hatte.
Mit einem Seufzer schob er erneut die Gedanken zur Seite und setzte sich in den nächsten Sessel. Neben der Okurayama Schanze liegend, hier in Sapporo, brachte ein 2er-Sessellift die Menschen nach oben. Es war kein weiterer Springer oder Betreuer in Sicht, weswegen diese Fahrt ihm alleine gebührte. Er ließ sich auf den linken Platz fallen, nahm den Sicherheitsbügel herunter und legte die Ski quer über sich. Links und rechts an der schützenden Armlehne aufgelegt. Die Füße ließ er schlenkern, trotz der vorhergesehenen Fußstütze.
Er sah sich die Landschaft an.
Je höher er kam, je weiter er fuhr, desto mehr erkannte er von Chūō-ku, dem Bezirk in dem die Schanze stand. Ein kleiner Fleck mitten auf der Insel Hokkaido. Er sah über die vielen Dächer hinweg und bekam Heimweh, aus welchem Grund auch immer.
Der Streit saß tief in ihm, auch wenn er sich gesagt hatte, dass er nichts war. Sie haben sich seit Jahren nicht mehr gestritten, deswegen müsste es auch so in seiner Brust schmerzen. Er war dieses Gefühl nicht mehr gewohnt, dass die Welt Kopf stand.
Durch den sanft kalten Fahrtwind, spürte er die Tränen auf seinen Wangen, die er in den rechten Handschuh vernichtete.
Er war nun hier auf der Schanze, nicht zuhause und nicht im Hotel. Er mischte Privatleben nicht mit dem Beruf.
Erneut zog ein Krampf durch seine Magengegend, als würden seine Innereien sich zu seinem Knoten zusammenziehen. Seou hielt kurz die Luft an und unterdrückte den Schmerz. Er hatte dies noch nie gefühlt vor einem Springen.
Skispringen verband er mit Adrenalin, dies war sein Warnsignal für Nervosität aber keine Magenkrämpfe. Etwas anderes beschlich ihn, was er wohl später erst herausfinden würde.
Der Sprecher kündigte in Japanisch die Springer an und das einzige, was Seou nun veranlasste zum Schanzentisch zu blicken, war der Name seines Freundes Heungchul. Er war der Anführer des Teams und unzählige Jahre positiv gesonnen, als man glauben möge. Auch wenn sich seine Ergebnisse in den letzten Jahren verschlechtert haben, war er immerhin der südkoreanische Rekordhalter mit der weitesten geflogenen Weite in Planica. Heungchul war es immer, der die Jungs ermutigte, weiterzumachen.
Im schnellem Tempo marschierte der koreanische Springer über die Schanze und segelte an Seou vorbei, der sich sogar leicht umdrehte, um den Telemark noch zu sehen. Der Sprung reichte zur derzeitigen Bestweite und für einen vorläufigen Platz eins. Seou ließ sich wieder in den Sitz sinken und seufzte. Er wusste kaum, ob er heute noch einen guten Sprung schaffen würde.
Der erste Sprung war ihm gelungen, war derzeit auf Platz 14 und somit eine ausgezeichnete Ausgangsposition für seine Verhältnisse.
Er blickte kurz auf seine Hand, die sich vor körperlichen Schmerzen an die Metallstange des Sicherheitsbügels klammerte und die Knöchel eine weißliche Farbe annahmen. Anscheinend begann sein Körper langsam zu streiken. Doch er musste den Sprung über die Bühne bringen. Würde er es nicht versuchen, fand er nie heraus, ob es für einen Stockerl-Platz gereicht hätte und dies würde er dann sein Leben lang bereuen.
Seou nahm die Ski ab, schlängelte sie geschickt unter den Bügel hindurch und öffnete diesen. Die Fahrt war schneller verflogen, als vorhin und war zu Tode mit Gedanken gequält worden. Er sprang vom Sessel und machte einen Schritt zur Seite, um nicht vom Lift mitgenommen zu werden. Langsam trottete er nun Richtung Schanze, an der er mit einem Lift nach oben kam. Seine Füße hielten vor den geschlossenen Türen und er erwartete.
Seine Finger trommelten einen leichten Rhythmus auf den Skiern und seine Augen fuhren konzentriert die Kanten der Aufzugtüren entlang. Er hatte Angst davor, hineinzusteigen.
Als würde sie selbst handeln, boxte seine Hand, geballt zu einer Faust, auf seine Brust. Der Klang des Schlages auf seinen eigenen Körper hallte in ihm noch nach und löste ein kurzes Husten los.
Warum hat er dies gerade getan.
Etwas verwunderte, musterte er sich selbst, in dem weiten Regelmantel in Blau, welchen er über den komplett weißen Skisprunganzug geworfen hat. Die Enden des Mantels zitterten leicht und er stellte fest, dass er es war, der zitterte. Ihm war schlagartig kalt. Und besonders kalt war eine Stelle an seinem Finger.
Er zog sich den linken Handschuh von der Hand und betrachtete das schimmernde Etwas. Seelenruhig verharrte es dort schon seit mehreren Jahren und hatte an Glanz verloren, dennoch schimmerte es. Bei jedem noch so kleinen Sonnenstrahl, fing es diesen auf und reflektierte ihn. Wie das Lächeln seiner Ehefrau.
Langsam kam seine zweite Hand näher, die Ski an die Wand gelehnt und umklammerte den Ring. Er war drauf und dran das einzige Erinnerungsstück, welches er mit sich trug, zu entfernen. Der Glücksbringer, mit dem er ohne ein Springen sich nicht mehr vorstellen konnte. Doch er scheint nun der Pechträger für ihn zu sein. Der Ursprung seiner Nervosität.
Seou zog sich den zweiten Handschuh ebenfalls aus und klemmte beide zwischen seine Knie. Der Aufzug scheint noch etwas zu brauchen, worauf er den Reißverschluss des Mantels und des Anzugs ein klein wenig öffnete, um seine Halskette abnehmen zu können. Auf diese fädelte er den Ring, den er sich mit aller Kraft abgezogen hat und schloss die Kette wieder im Nacken. Die Reißverschlüsse verschlossen, nahm er Handschuhe und Ski und trat in den Aufzug.
Auch dort war er wieder alleine, was er lieber nicht wäre. So holten ihn nur wieder Gedanken ein. Gedanken, die er nicht wollte.
Ein Kribbeln zog sich von seiner Brust über seinen Hals, als würde es alles dort auf ihren Weg betäuben. Er schnappte kurz nach Luft und glaubte den Verstand zu verlieren, als sich langsam seine Umgebung zu drehen begann. Mit zwei Fingern zerrte er an seinem Kragen, um etwas Freiraum zwischen Stoff und Kehle und dadurch auch mehr Luft zu bekommen. Die Ski ließ er elegant, wenn auch durch Zufall, an die Liftwand sinken und hielt sich mit der anderen Hand fest. Er hatte das Gefühl jeden Moment zusammenzubrechen.
Das sanfte Klingeln des Aufzugs öffnete die Türen und ließ ihn nach draußen stolpern. Er machte nochmals einen Schritt zurück, um seine Ski zu nehmen und wandelte danach zum Aufwärmraum.
Im warmen Sammelraum ließ er sich auf den erstbesten Stuhl nieder und atmete tief durch. Ohne wirklich darüber nachzudenken, riss er sich die Kette vom Hals und legte sie auf den freien Stuhl neben sich. Er rieb sich die müden Augen und sah auf den Monitor, wo das Springen übertragen wurde. Startnummer 27 stürzte sich gerade in die Tiefe, worauf er sich noch für ein paar Aufwärmübungen entschlossen hat.
Er warf den Mantel auf seinen Platz und begann sich zu dehnen.
Würde er diese indirekte Panikattacke kurz vor seinem Sprung bekommen, würde er das Zeitliche segnen. Den Sprung am Schanzentisch zu verfehlen, war mit der Todesstrafe gleichzusetzen, die er um jeden Preis verhindern wollte. Stilvoll streckte er seine Hände den Zehenspitzen entgegen und atmete tief durch. Das Kribbeln hatte sich gebessert. Stattdessen breitete sich um sein Herz eine taube Gegend aus. Mehrmals hat er sich an das Herz gefasst, den Puls am Handgelenk überprüft, doch es war alles da. Nur die Haut fühlte sich bei jeder Berührung dort eigenartig an. Adrenalin hingegen, floss mangelhaft durch seinen Körper.
Als nun der Norweger Kenneth Gangnes am Balken saß, schnappte Seou die Ski und begab sich nach draußen. Er hatte sich diesen Namen eingeprägt, um noch neun Springer Zeit zu haben, sich vorzubereiten.
Seou trat nach draußen und stieg ein paar Stufen nach unten, bevor er hinter einem slowenischen Springer hielt. Der Koreaner zog sich seine Handschuhe wieder an und schloss die Reißverschlüsse an den Ärmeln. Die Temperatur war ein wenig gesunken als am Schanzenauslauf und das Frösteln hatte er immer noch nicht unter Kontrolle.
Seine Hand ballte sich schon wieder zu einer Faust, konnte sie aber mit einer kleinen Zeile Gedanken noch vor dem vorhergesehenen Schlag in Schach halten. Wie langsam verging die Zeit, bis er dran war.
Gute zehn Minuten später und das Kribbeln war wieder zurück. Kaum eine Sekunde verging, in der Seou sich nicht über die Brust rieb und auch schon ein paar schräge Blicke von den Vorspringern einkassiert hatte. Es tastete sich langsam über das Schlüsselbein, war an der Kehle angelangt. Nur noch zwei Springer waren vor ihm und er hatte das schlechte Gefühl, bis dorthin die nächste, fragwürdige Attacke zu bekommen. Und sein Magen zog sich wieder zusammen, erfüllt seinen Körper mit Schmerz und verkürzte die quälende Wartezeit um weitere Sekunden. Seou stand kurz davor, sich zu übergeben.
Seine Hände zitterten wie Espenlaub und brachten sich kaum ein, als er kniete, um sich die Schnürsenkel zu binden. Er legte die Ski auf die Stufe und schlüpfte in die Bindung, wobei er beim Sicherheitsbindung anbringen so seine Probleme hatte. Durch das Zittern schaffte er es nicht, den Verschluss dort anzubringen, wo er hingehörte. Dann sprang er eben ohne. Früher haben sie so etwas auch nicht besessen und sprangen erst seit einem guten Monat damit. Seou hatte so viel Vertrauen in sein Material, dass er auch ohne Sicherheitsband sprang. Der letzte Springer vor ihm stieß sich ab und rauschte die Schanze entlang. Wenige Sekunden darauf, rutschte der koreanische Springer auf den Balken.
Er war der letzte seiner Nation.
Seine schüttelnden Hände versuchten sich an der Metallstange des Balkens festzuklammern. Seine Augen sahen nach unten auf die kleine Menschenmenge, die sich zu diesem Bewerb um die Banden des Schanzenauslaufs versammelt hat. Er schluckte hart und versuchte seine übrige Konzentration auf den vor ihn liegenden Sprung zu fokussieren. Glaubte es zu schaffen, einen Tunnelblick auf diesen einen Sprung zu bilden. Doch es gelang nicht.
Als würde er sich ärgern über die sekündlich wechselnden Windverhältnisse, schüttelte er den Kopf. Doch diese Geste galt eigentlich seiner verwüsteten und chaotischen Gedankenwelt, die es nicht einmal schaffte, ihm den Ablauf des Sprungs zu zeigen. Als hätte man ihn von seiner Trainingsfestplatte gelöst. Alles wegradiert.
Seine Augen starrten noch auf die Menschenmenge, jetzt auf den Schanzentisch und schließlich zur Flagge, die sanft geschwungen wurde. Doch dieser Fahnenschwung löste in Seou so etwas wie Panik aus.
Auch wenn sein Glücksbringer, welchen er diese Funktion abgeschrieben hat, ihm nicht mehr wichtig war, fühlte er sich dennoch nicht bereit, ohne ihn zu springen. Er riss den Kopf zur Seite und war kurz davor gestanden, wieder zurück auf die Stufe zu rutschen, doch seine Hände hielten ihn dort fest, wo er war. Auf dem Balken.
Etwas verdutzt sah er auf seine klammernden Hände. Dachte er daran zu springen, lösten sie sich leicht, dachte er daran den Ring zu holen, verkrampften sie sich. Kleine Wolken erschienen vor seinem Mund, da sein Atem nun auch aus der Kontrolle geriet. Sein Herz schlug auf Hochtouren. Er hörte es pochen.
Und zum ersten Mal in seinem Leben empfand er Angst, am Balken zu sitzen. Dort hinunter sehen zu müssen. Er hatte unbeschreibliche Angst.
In seinem Kopf sah er sich schon wegrennen, sein gerade vertrautester Gedanke, doch es geschah nur in seinem Kopf. Nicht hier und nicht jetzt, denn er konnte nicht. Seine Hände waren sein Verstand während seine Gedanken sein Herz widerspiegelten.
Seine Hände verweigerten ihn jede andere Handlung als den Absprung.
Sein Kopf sagte ihm, dass der Sprung seine Fahrt in die Hölle war.
Und aus irgendeinem Grund wusste er, dass sein Kopf recht behielt. Sein Verstand machte ihm nur weis, was er zu tun hatte. Zeigte ihm seine Verpflichtungen als Profisportler. Sein Herz war die Stimme der Vernunft, die ihm sagte, dass er der Leichtsinnigkeit nicht nachgeben sollte.
Doch warum war es Leichtsinnigkeit.
Es war seine Berufung, für die er jeden Tag hart arbeitete, trainierte.
Warum war es also leichtsinnig, nicht das zu tun, weswegen er überhaupt in diesen luftigen Höhen saß.
Seou verstand die Welt nicht mehr.
Langsam begann er durchzudrehen, den Verstand zu verlieren.
Seine Augen flogen durch die Gegend und er wusste sich nicht zu entscheiden. Die Flagge des Trainers wurde nochmals gewedelt, als glaubte er, dass Seou sie nicht gesehen hat. Das hatte er und der Abstand zwischen den beiden Fahnenschwüngen hat sich wie Stunden angefühlt.
Er wollte nicht mehr. Er wollte nicht springen.
Er wollte nur mehr. Er wusste nicht was er wollte.
Der Stoff der Handschuhe gab ein kurzes Knarzen von sich, als seine Hände sich nochmals fester an das Metall klammerten. Er atmete tief durch, spürte das wandernde Kribbeln um seinen Hals, in seinen Nacken, schnürte sich vorsichtig um seine Kehle, um den ganzen Hals wie zwei kräftige Hände. Mit einer verängstigten Seufzen fuhr eine Hand blitzschnell an seinen Hals und rieb diesen. Heiße Tränen flossen hinter der Brille über seine Haut und wurden von der Brillendichtung aufgesaugt.
"naneun deo isang wonhaji anhneunda", murmelte er hauchend vor sich hin und sah erneut zum Trainerturm, auf dem sich schon mehrere Betreuer untereinander unterhielten. Der koreanische Trainer hingegen, lehnte sich über das Geländer und fuchtelte ein drittes Mal mit der Fahne.
Seou fühlte sich wie eingesperrt in einen Raum, dessen Wände langsam näher kamen. Ohne einen Lichtpunkt als Aussicht. Seine Stirn wurde heiß, sein Kopf stand kurz davor, zu überhitzen. Die Hand, die vorhin noch an seinem Hals gewesen war, klammerte sich nun immer fester an seine linke Schulter. Sein Atem wurde immer schneller und vermixte sich mit dem hörbaren Blutrausch in seinem Körper zu einem Geräusch wie eines Schneesturms, als würde er um seine Ohren ziehen. Doch es war klarer Sonnenschein. Für Seou war der Himmel bewölkt und erdrückend grau.
Er sah erneut um sich, bis ein bebender Schrei in den Himmel losgelassen wurde. Mit geschlossenen Augen.
Alles um ihn verstummte.
Die Trainer, dessen gemurmelt er glaubte zu verstehen.
Das Stadion, mit den Zuschauern und dessen Stadionsprecher.
Das Gerede, der Vorspringer und anderen Athleten.
Die verzerrten Worte, aus dem Funkgerät des Mannes neben dem Balken.
Alles verstummte. Sogar sein Blutrausch, die Kurzatmigkeit.
Einen Weg zurück gab es nicht, auch wenn er noch jede Option durchdacht hatte. Der Lichtblick am Ende des Tunnels war neunzig Meter vor ihm. Der Schanzentisch.
Auch wenn Seou nicht glauben wollte, dass es seine einzige Möglichkeit war, fand er sich damit ab. Wenn er keine andere Möglichkeit gefunden hat, müsste es die richtige sein. Doch ob er sich selbst vertraute, war wieder ein eigenes Thema welches in seiner derzeitig körperlichen, sowie seelischen Lage nicht hinterfragt werden sollte.
Er löste die Hand von seiner Schulter und sah hinab, als wäre es das letzte Mal.
Er hatte das Gefühl zu wissen, dass er fallen wird.
Das Vertrauen in die Luft war nicht vorhanden.
Er wusste es einfach.
Und dennoch stieß er sich vom Balken ab, ging langsamer als sonst in die Hocke und lugte nach vorne. Sekunde um Sekunde kam er immer näher dem Schanzentisch entgegen. Seine Angst kam wieder zurück, die Angst davor, springen zu müssen.
Auch wenn er sich noch so krampfhaft einen Ablauf in den Verstand zaubern wollte, konnte er nicht. Eine Barriere hatte sich nun vor seine Gedanken geschoben, ein kleines Testbild mit der Bitte um Verständnis. Seou sah nur die Kante vor sich, die immer näher kam und wusste einfach, wie am Balken zuvor, dass er heute fallen wird. Nicht wie immer, viel härter und schmerzvoller.
Den Schanzentisch passiert, machte er keinen Sprung, rauschte einfach über den Tisch und schoss auf die Schanze los. Ohne ausgebreitete Ski, ohne aufrechten Oberkörper. In der einfachen Hockestellung, die er verkrampft behalten hatte.
Langsam verflog diese Anspannung aus seinen Muskeln und er fühlte diese Müdigkeit einsetzen. Die Menge erschien vor ihm, der Hang ging steil nach unten.
Seou schloss nur noch seine Augen, ließ es auf sich zu kommen. Etwas Besseres konnte er kaum machen und um es zu verhindern, war es bereits zu spät. Er spürte förmlich, wie die Menschen den Atem anhielten und bei seinem Auftreffen auf den Kunstrasen erschrocken stöhnten.
Choi spürte nur, wie gewaltvoll die Ski aus seiner Bindung gerissen wurden. Sie müssten irgendwo landen. Mit aller Gewalt der ehrenvollen Schwerkraft, landete er auf dem Rücken und überschlug sich ein zweites Mal, worauf ihm für kurze Zeit das Bewusstsein genommen wurde.
Mit schmerzendem Kopf kam er am Schanzenauslauf wieder zu sich. Mit der linken Breitseite war er zum Stillstand gekommen und starrte an die Bande in der Ferne. Wie ferngesteuert, hob er seine Hand und musterte sie drehend. Sie war mit Gras- und Erdflecken übersäht, sowie Schürfwunden und Kratzer.
Sie griff nun an seine Brust und versuchte seinen Herzschlag zu ertasten, als hätte er Angst, tot zu sein. Die Hand zitterte dennoch zu sehr und er brachte zu wenig Kraft auf, um sie an den Anzug zu pressen, damit er den Rhythmus fühlen konnte.
Leicht panisch, nahm er nun einen tiefen Atemzug und musste husten. Sein Hals fühlte sich an, als hätte er Gras während seines Sturzes verschluckt.
Vorsichtig stützte er sich auf und verharrte. Er drehte den Kopf leicht nach links und rechts. Mit einer erstaunten Miene machte er deutlich, wie sonderlich es ihm vorkam, keine Schmerzen zu empfinden. Entweder, hatte er Glück gehabt oder sein Körper war mit soviel Adrenalin vollgepumpt, dass er nichts von den Verletzungen spürte.
Er fuhr sich über das Gesicht und ertastete ein paar Kratzer. Auch sein Anzug war verwüstet und die Startnummer halb zerfetzt. Sein Blick fiel zum Hang hinauf.
Er glaubte nicht, ihn mit dieser Leichtigkeit überlebt zu haben.
Im Augenwinkel erkannte er die roten Männer, Sanitäter auf ihn zu hasten und hob seine Hand. Er wank um zu zeigen, dass ihm, bis auf ein paar Kratzer und Prellungen, nicht viel passiert war. Dennoch blieben die Zuschauer noch verstummt.
Als hätten die Mediziner auf das Handzeichen von Seou nicht geachtet, beschleunigten sie und setzten geraden Kurs auf ihn. Je weniger die Entfernung dazwischen wurde, desto mehr Angst kam in ihm auf, dass sie ihn über den Haufen rennen würde.
Er wollte einen Schrei von sich geben, schlang aber schließlich seine Arme schützend um den Kopf. Ein sanfter Windhauch rauschte an ihm vorbei und er löste sich aus seiner Starre.
Wie aus dem Nichts sind die Sanitäter verschwunden, doch er hörte dennoch aufgebrachtes Japanisch um sein Ohren schwirren. Er drehte den Kopf leicht nach rechts und ließ einen unkontrollierten Schrei aus seiner Kehle entweichen, einen stummen Schrei.
Er zog sich mit den Händen am Gras aus dem blutgetränkten Gras und versuchte vergebens das Rot von seiner rechten Hand zu bekommen. Es klebte daran und fühlte sich warm an.
Immer noch leicht panisch, versuchte Seou sich zu beruhigen. Irgendwo müsste dieses Blut herkommen, aber keinesfalls von ihm. Er war zu unversehrt, als dass dies sein Blut sein könnte. In der Blutlache, von der Seou panisch geflohen war, knieten die Sanitäter in einem kleinen Kreis. Gelbe Ski lagen zerbrochen ein paar Meter entfernt von der Gruppe, weswegen der Springer entschloss, aufzustehen und sie zu holen, gleichzeitig zu zeigen, dass er unverletzt war.
Vorsichtig stellte er sich auf seine Beine, wackelte umher. Sein Gleichgewicht scheint etwas gestört, da er sich fühlte, als würde ihn etwas nach hinten ziehen.
Die wenigen Schritte nun geschafft, bückte sich Seou und griff nach dem Ski, doch seine Hand huschte durch die Ausrüstung hindurch. Erneut griff er danach, glaubte noch leicht benebelt zu sein und somit die Entfernungen nicht abschätzen zu können. Diesmal streifte das Gras an seinen Fingerspitzen, doch als er am Ski ankam, huschte seine Hand erneut mit Leichtigkeit hindurch.
Fragend betrachtete er seine Finger und erkannte Narbengebilde anstatt der Kratzer, die er sich vor Minuten zugefügt hatte. Auch sein Handrücken war frei von Kratzern und Wunden.
Leicht unkonzentriert, stolperte er nach hinten und eine Feder huschte über seine Schulter nach vor. Geschickt fing er diesen aus dem nichts erschienenen Gegenstand, zwischen Zeige- und Mittelfinger eingeklemmt.
Als er wieder festen Boden unter seinen Füßen und einen guten Stand hatte, ließ er die weiße Feder in seine Hand gleiten. Jedes einzelne Härchen war mit feinen Goldpartikeln geschmückt und schimmerte ungemein schön in der Sonne, so schön wie sein Ehering.
Doch wie konnte es möglich sein.
Seou nahm die Feder in seine rechte, während er die linke Hand der Sonne entgegenstreckte. Dort an seinem Ringfinger befand sich sein besagter Glücksbringer, der eigentlich im Aufwärmraum auf einem Stuhl liegen müsste. Nur in matter und mit mehr so schimmernder Ausführung, wie gewohnt.
Er hat ihn sich nicht geistesgegenwärtig angesteckt, er müsste noch dort oben sein.
Was wurde hier gespielt.
Die eigenartigen Ski.
Die verschwindenden Kratzer.
Die schimmernde Feder.
Der matte Ring.
"Wach aus diesem Traum auf, Seou", hauchte es durch seine Gedanken, die zum ersten Mal still und ruhig waren.
In was war Seou geraten, was er noch nicht in seinem Kopf realisiert hatte.
Im Augenwinkel konnte er nun einen weißen Gegenstand vorbeihuschen sehen. Schnell riss er den Kopf zur Seite und versuchte zu erkennen, was es war. Es brauchte Sekunden, um es zu realisieren, während seine Füße darauf ihn auf den Kreis aus rot gekleideten Menschen zu trugen. Er hielt einen knappen Zentimeter vor der Lache und beugte sich leicht nach vor, um sehen zu können, was sich dort befand.
Erneut wollte er am liebsten einen Schrei loslassen. Vor sich sah er nur sich selbst.
Als wäre es ein Schutzmechanismus, schlossen sich seine Augen um das Blutbad nicht mehr sehen zu müssen. Den Ski, der sich unschön in seine Rippen gebohrt hatte.
Tränen flossen über seine Wangen und er begann zu schluchzen.
Warum war er so blind gewesen, hatte sich seinem eigenen verwirrten Verstand geglaubt. Diese Flügel an seinem Rücken waren nicht um sonst dort, dass sie ihm zeigen würden, dass sein Aufenthalt in der ewigen Unsichtbarkeit nicht für einen kurzen Moment sein wird.
Erneut legte sich Stille.
Die Sanitäter haben aufgehört zu versuchen, dem Athleten noch zu helfen.
Die Menschen, die nur noch paralysiert in den Auslauf starren.
Die Trainer, die nichts wissend und bangend auf dem Turm standen.
Seine Teamkollegen, die sich nicht mehr halten konnten und auf die roten Männer zu rannten.
Die restlichen Springer, denen ihr Leben am inneren Augen vorbeizog, jedem einzelnen ein Schauer über den Rücken lief.
Und er alleine zwischen der chaotischen Welt, schluchzend und kaum mit der Situation klarkommend. Das Klirren wie kleine Glöckchen der aneinanderkratzenden Feder auf den Flügeln an seinem Rücken ihn in die Irre trieben und die heißen Tränen auf seinen Wangen brannten.
Er hörte das Schimmern seines Ringes, durch die tropfenden Tränen dem Metall wieder etwas Glanz verlieh. Es hörte sich genauso an, wie das Brechen eines Herzes.
Eines hier in Hokkaido, Sapporo und eines irgendwo in einer kleinen Wohnung inmitten von Seoul, Südkorea.
______________
[ 나는 더 이상 원하지 않는다. ] - naneun deo isang wonhaji anhneunda
"Ich will nicht mehr."
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro