08
Der Sinn des Lebens liegt darin, dass es aufhört
Franz Kafka
Ich hatte nicht mehr eine derartige Enge in meiner Brust verspürt, seit das Jahr 1875 geendet war. Panik, nackte Angst, die sich um mein Inneres wickelte, wie eine giftige Schlange.
Doch hier saß ich nun, hing beinahe auf einem Klappstuhl in einem Hinterzimmer der größten Buchmesse New Yorks und hatte Schwierigkeiten, meinen Atem so zu regulieren, dass dieses Gefühl nicht auffiel.
Michelle stand noch immer vor mir, sie betrachtete mich weiterhin mit diesem Blick, dem markanten Blick, der nur ihr allein gehörte. Genauso, wie ich ihn einst vor Augen gehabt hatte. Und doch wirkte sie nun etwas weicher.
"Ich...", japste ich. "Ich weiß nicht wie...wie kann das..."
Mir war bewusst, dass ich in einem Kreisel der immergleichen Fragen gefangen war, doch was nützte mir diese Erkenntnis, wenn die Fragen unbeantwortet blieben.
"Sie...Sie wissen es wirklich nicht? Sie haben nichts damit zu tun?" Michelle sprach leise, fast schon verschreckt, ein Ausdruck, den ich in ihrem Wesen nie erahnt hätte.
"Moment, stop, was ist hier überhaupt los?", mischte Conrad sich ein. Er sah äußerst irritiert aus, sein Gesicht rot und verschwitzt. "Wer sind Sie denn jetzt? Woher kennt ihr euch? Ich verstehe das nicht?"
"Ich auch nicht", murmelte ich und starrte ins Nichts, hoffend, dass ich Michelle den Schmerztabletten zu verdanken hatte, die noch vom vorherigen Tag durch meinen Körper flossen.
Sie schritt langsam um den Tisch herum, zog einen der Stühle ab und setzte sich. Ihr Kopf fiel in die aufgestützten Hände und ein Seufzer entwich ihr. Dann holte Michelle das Buch aus ihrer Tasche.
Sie legte es auf die Tischplatte und schob es Conrad entgegen. Dieser warf einen fragenden Blick zu mir, als benötigte er eine Erlaubnis meinerseits, um es zu berühren. Ich zuckte mit den Schultern.
"Schlagen Sie es auf!", forderte Michelle meinen Lektor auf. Ich konnte ihre Stimme in meinem Nacken spüren, von hinten kroch sie über die Haut und brachte mich zum zittern. Conrad tat wie ihm geheißen und zog das Buch an sich.
Ich hob den Kopf, um ihn zu sehen, um zu verfolgen, wie seine Gedanken rasten, als er die erste Seite überflog.
"Whitney Dawson", murmelte er, als sei dieser Name allein genug, um ihn aus der Fassung zu bringen.
"Sehen Sie, Mr. Derryl hat auch unterschrieben", sagte Michelle. "Fällt Ihnen da etwas auf?"
Langsam schüttelte Conrad den Kopf. "Er hat zwei mal das Selbe geschrieben...Warum hast du zwei mal das selbe geschrieben?"
Ich stieß ein hohles Lachen aus. Er lag nicht falsch, ich hatte wirklich zwei mal das Selbe geschrieben.
"Lesen Sie doch mal vor", sagte Michelle. Sie klang ein wenig genervt. Aber andererseits sollte sie das immer tun.
"In Liebe und dann deine Unterschrift."
"Jup", nickte ich, das P poppend.
Conrad sah gerade zu hilflos aus.
"Conrad", sagte ich. "Die eine Unterschrift ist von heute." Er nickte, als ich weitersprach. "Die andere ist von 1946."
Seine Gesichtszüge entgleisten. Kurz erwartete ich, dass sein Kopf an Ort und Stelle explodieren würde. Dann öffnete er den Mund und sagte, was ich in der Situation kaum erwartet hätte, vermutlich aber am wohl angebrachtesten war: "Hä?"
"Ja", murmelte ich wieder.
"Aber das kann doch gar nicht sein, du wurdest 1994 geboren. Du warst noch gar nicht geboren, als..."
"Conrad, ich habe dieses Buch geschrieben."
"Wie?"
Unter anderen Umständen hätte ich über sein ratloses Gesicht geschmunzelt. Jetzt war ich jedoch ernst. "Die Bar, das Buch, das du in der Hand hälst, es ist von mir."
"Ich dachte, es ist von 1946?"
"Ja, aber ein Jahr kann ja kein Buch schreiben, oder?"
"Hä?"
Ich seufzte in Synchronisation mit Michelle.
"Gott, Sie sind ja wirklich nicht die hellste Kerze auf dem Leuchter", sagte sie. Ich drehte mich zu ihr um. "Mr. Derryl ist Whitney Dawson. Sehen Sie nicht, dass die Unterschriften exakt gleich sind? Und ich meine exakt? Das fällt doch jedem auf, Sie Idiot."
"Kein Grund, ausfällig zu werden", mahnte ich. Conrad starrte mich an.
"Du bist...über achtzig?"
"Mhm", machte ich.
Michelle krallte sich das Buch zurück. "Kurzfassung, damit es auch alle verstehen. Mr. Derryl - sorry, nein, Mrs. Dawson - hat dieses Buch vor 76 Jahren geschrieben und veröffentlicht. Und zwei Wochen nachdem der Roman in die Läden kam...boom, Selbstmord. Das sagten die Behörden zumindest, denn ihre Leiche wurde nie gefunden."
Conrad zuckte zurück.
"Aaaaber" Michelle hob einen Zeigefinger. "Whitney hinterließ einen Abschiedsbrief, in dem sie ihre Gründe erklärte. Sie fühlte sich wohl verfolgt, litt unter Schlafparalyse und hielt es nicht mehr aus. Also verfasste sie ein Buch über eine mysteriöse Bar und sprang dann in die Themse."
Mein Lektor wirkte ein wenig verängstigt. Und ich fühlte mich so ertappt wie nie zuvor.
"Whitney lebte in London, aber ursprünglich stammte sie aus Irland. Sie war eine sehr hübsche Frau, wundervolle Augen, aber sie sprach nie mit den Menschen. Sie verlor kein Wort an ihr Umfeld. Die Nachbarn hielten sie für stumm."
"Wie sah sie denn aus?", wollte Conrad wissen.
"Zauberhaft", sagte Michelle grinsend. "Blonde Haare, wundervolle Augen, so blau, wie das Meer. Sie war etwas größer, als andere Frauen und recht schlank. Sie trug immer ein paar feiner Lederschuhe. Die waren alles, was man auf der Richmond Bridge fand."
Dann richtete sie sich an mich. "Schade drum meinen Sie nicht? Hätten Sie sich nicht einfach zurückziehen können?"
Ich schluckte. "Das wird auf Dauer langweilig", murmelte ich. "Außerdem hat es etwas befreiendes, in Dramatik zu schwinden, finden Sie nicht? Gibt dem zuvor Erlebten einen gewissen Wert."
"Naja, das Buch machte sie posthum extrem bekannt. Die Bar war ein Phänomen der Literatur und wissen Sie auch, wieso, Sir?"
Conrad zuckte mit den Schultern.
"Dann schlagen Sie jetzt einmal die letzte Seite auf."
Er befolgte die Anweisung.
"Lesen Sie die letzten Sätze."
Conrad räusperte sich. "Die Welt hatte sich nie schneller gedreht, als Clay die Tür durchschritt, die Giacomo ihm mit einem aufmunternden Blick aufhielt. Er spürte den eiskalten Blick in seinem Nacken und wandte sich um. Michelle nickte langsam, ohne das tödliche Spiel ihrer Finger abzubrechen und er wusste, dass es falsch war, doch dann fasste er einen Entschluss. Er - "
Er zögerte, bevor er umblätterte. "Äh...da fehlt eine Seite", stotterte er.
"Nein, Herzchen, nicht nur eine Seite. Das ganze Buch ist unvollständig. Es wurde gedruckt, ohne dass die Autorin es beendet hätte. Und genau darum war es so erfolgreich. Weil die Leute sich ausmalten, was Clay wohl tat, was es war, zu dem er sich entschlossen hatte."
Sie zuckte mit den Schultern. "Nicht einmal ich kenne das Ende."
"Wieso, wer sind Sie denn?"
"Ich bin Michelle."
"Was? Die aus dem Buch?"
Michelle nickte lächelnd.
"Ja, natürlich, das glaube ich Ihnen sofort."
Sie ignorierte ihn. "Es gibt in diesem Raum nur eine Person, die weiß, wie die Bar endet, die weiß, was passiert. Und sie sitzt genau da." Überdramatisch deutete sie auf mich. Ich seufzte erneut.
"Weil du...weil du Whitney Dawson bist?", fragte Conrad, vollkommen überfordert.
"Nicht mehr", sagte ich. "Wie schon gesagt, ich habe sie umgebracht."
Michelle kicherte. "All die Verschwörungen, die Theorien, wieso Whitney ihr Buch unbedingt veröffentlichen wollte, bevor sie sich das Leben nahm. Wieso sie es drucken konnte, ohne es fertiggeschrieben zu haben."
"Ich hatte gute Kontakte", zischte ich.
"Und die größte aller Fragen: Was hatte es mit den neun signierten Ausgaben der Bar auf sich, die sie in ihrem Zimmer zurückgelassen hatte?"
"Zehn", sagte ich. "Es waren zehn, die ich zurückgelassen habe."
"Oh Gott", stammelte Conrad. "Oh Gott, was? Du hast das Buch wirklich geschrieben!"
"Ich bin eines morgens aufgewacht und fand mich in den Armen eines Geschäftsmannes, der davon ausgegangen war, ich sei auf der Straße in Ohnmacht gefallen. Aber das war ich nicht. Ich hatte in meiner eigenen Welt gelebt oder sagen wir in Whitney's Welt. Eine Welt in der eine Stadt wie London nicht existierte. Und meine Schöpferin war tot."
Michelle lächelte freudlos.
"Ich wusste nichts von dem Buch, ich musste es selbst herausfinden. Doch schlimmer noch: Whitney Dawson war tot und es gab niemanden, der mich retten konnte...bis jetzt."
Conrad schluckte.
"Also, Derryl, bringen Sie mich zurück! Egal, was es kostet."
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