07
Die Realität ist nur eine Illusion
Albert Einstein
"Es tut mir Leid, William, aber wer ist das?" Conrad hastete neben mir her, während Ich eiligen Schrittes der Dame in rot folgte. Ich kam mir vor, wie ein Kind, dass etwas ausgefressen hatte. Dennoch versuchte ich, mir meine Angespanntheit nicht anmerken zu lassen.
Wir betraten einen Hinterraum, der einzig einen Tisch und fünf Stühle beinhaltete.
"Setzen", sagte sie.
"Sie können mir gar nichts sagen", erwiderte ich trotzig.
"Na fein, dann bleiben Sie eben stehen, Whitney."
"Derryl. Wieso nennen Sie mich so?"
Sie lächelte erstmals. Ihre Zähne waren ein wenig schief, durcheinander, nicht perfekt. Und es schien, als stellten sie eine große Unsicherheit in ihrem Leben dar. Ich kannte nur eine Person, bei der das ebenso war.
"Das wissen Sie doch, oder etwa nicht? Haben Sie denn alles vergessen?"
"Ich denke ja", sagte ich mit einem Blick zu Conrad, der vollkommen ratlos aussah.
"Ich denke nicht", erwiderte sie und musterte meinen Lektor. "Sie müssen jetzt eine Entscheidung treffen."
"Und welche?"
"Darf Ihr kleiner Begleiter Ihr großes Geheimnis erfahren?"
Ich sah ebenfalls zu Conrad. "Ich lasse dich auf keinen Fall alleine mit der Irren", wisperte er.
"Schmeichelnd", seufzte sie.
"Welches Geheimnis? Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen!"
Sie holte ein Handy aus ihrer Tasche und tippte einige Momente lang recht unschlüssig darauf herum. Dann wendete sie den Bildschirm in meine Richtung. Ich trat einen Schritt an sie heran, um lesen zu können, was sie mir vor die Nase hielt.
Es war eine Kommentarspalte eines Zeitungsartikels über die BookExpo 2022. Genauer gesagt eines Artikels über mich, der vor rund einer Stunde veröffentlicht worden war.
Ich überflog einige der Kommentare.
Bin ich die Einzige, die ihm das mit dem Autounfall nicht ganz abkauft?
Ey, safe, prügelt seine Frau ihn.
Weiß wer, ob Derryl Single ist? Sieht mir schwer aus, als liefe bei dem Zuhause alles nicht ganz rund.
"Ihre Frau schlägt Sie. Geben Sie es zu!"
Ich verdrehte die Augen. "Ist das so?"
Sie kicherte. "Natürlich nicht, es ist Ihr Mann, der Sie schlägt."
"Entschuldigen Sie?" Ich sah zu Conrad, der sich ein Grinsen verkniff.
"Nein, nicht dieser, Ihr Mann in Dublin."
"Was soll das denn heißen?"
"Sie wollten wissen, wieso ich die Bar signiert haben wollte. Nun, ich musste sicherstellen, dass ich richtig lag."
"Recht womit denn, verdammt nochmal?"
"Das Sie es auch wirklich sind, Dawson."
"Derryl."
"Nein, William, Sie sind Dawson. Das ist ihr alter Ego, das wissen Sie doch. Tun sie nicht so scheinheilig."
"Mit Scheinheiligkeit hat das nichts zu tun, ich habe nichts verbrochen."
"Und genau deshalb hat Ihr Abteilungsleiter Sie auch geschlagen, nicht wahr?"
"Woher zum Teufel können Sie - ?" Wieder sah ich zu Conrad.
"William, was soll das hier?"
"Ich denke, da müssen Sie jetzt durch, Dawson ... Derryl."
Ich seufzte. "Woher kennen Sie Whitney Dawson? Ich habe sie umgebracht. Woher haben Sie ihr Autogramm?"
"Du hast jemanden umgebracht?", flüsterte Conrad hysterisch, seine Augen geweitet. Ich drehte mich zu ihm um.
"Sei still, Dummkopf."
"Aber was -"
"Ich kannte Whitney Dawson, besser, als jeder andere. Außer Ihnen vielleicht. Whitney hat mich geformt, mich zu der Person gemacht, die ich jetzt bin."
"Zu einer äußerst anstrengenden Person, mit der man nur aus der Ferne zu tun haben will?"
"Exakt."
"Ich verstehe das alles nicht", grätschte Conrad dazwischen. "Wer ist denn Whitney Dawson?"
Die Frau musterte ihn. "Ich dachte, Sie sind Lektor. Müssten Sie da nicht eigentlich belesen sein?"
"Whitney Dawson war eine Autorin in den Vierziger Jahren", antwortete ich schnell. Wie gesagt, Conrad Sanlow war nicht der Beste auf seinem Gebiet.
"Woher haben Sie das Autogramm?", fragte ich erneut.
"Ich habe es aus ihrem Schlafzimmer gestohlen, nachdem sie es zurückließ, um ihren dramatischen Abgang zu machen. Dabei hatte ich mit ihr noch eine Rechnung offen."
Ich schnaubte, wurde jedoch unsicher. "Sie sind also 1946 bei Whitney Dawson eingebrochen und haben ihr ein signiertes Buch gestohlen? Das glauben Sie ja wohl selbst nicht."
"Ich glaube Ihnen nicht, dass Sie nicht glauben, dass ich daran glaube, dass ich 1946 bei Whitney Dawson eingebrochen bin."
Ich blinzelte ein paar Mal.
"Ich glaube Ihnen aber gerne, dass Sie davon nichts mitbekommen haben."
Ich schluckte. "Und welche Rechnung hatten Sie mit ihr offen?"
"Derryl, Sie machen sich lächerlich. Wissen Sie denn nicht, wer ich bin?"
Ich schüttelte leicht den Kopf. "Sie kommen mir bekannt vor."
"Natürlich tue ich das, es ist nur 76 Jahre her, dass wir uns erstmals begegnet sind."
"76 Jahre? Seid ihr denn beide bescheuert?", fragte Conrad aufgebracht. "Du bist Siebenundzwanzig, man!"
Da traf es mich wie der Schlag. Ich stolperte einen Schritt zurück und scannte sie von Kopf bis Fuß ab. Das rote Kleid, die dunklen Haare, die noch dunkleren Augen. Der schwarze Lippenstift, ihre krummen Zähne, ihre heimliche Angst Fehler zu machen.
"Das kann nicht sein", entfuhr es mir.
"Dann erklären Sie es mir, Derryl."
"Michelle?" Es war so absurd, diesen Gedanken auszusprechen, dass ich mich unter andern Umständen selbst dafür ausgelacht hätte. Doch nun lachte niemand und das sanfte Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht.
"Michelle", sagte sie.
"Wer zum TEUFEL, ist Michelle?!", rief Conrad und warf die Arme in Luft. "Ich komme hier absolut nicht mehr mit. Ihr zwei kennt euch?"
"Ja", sagte sie.
"Nein", sagte ich. "Eigentlich nicht."
"Und ihr habt euch 1946 kennengelernt? Soll das ein Witz sein."
"Ich mache keine Witze", sagte Michelle. Michelle sprach.
"Sie macht keine Witze", nickte ich abwesend.
"William!" Conrad stieß mich an. "Klärst du mich bitte auf?"
Langsam schüttelte ich den Kopf. "Ich kann es nicht."
"Oh Derryl, Sie machen mir Sorgen. Sie haben sich das hier doch eingebrockt."
Ich schloss die Augen. Als ich sie wieder öffnete, stand sie weiterhin vor mir. Michelle lebte. Ich sah genauer hin. Michelle atmete auch.
"Wie kann das sein?"
"William!"
"Conrad!", rief ich zurück.
"Derryl!", sagte Michelle. "Ich habe ein Problem und Sie müssen es beheben."
Zackig drehte ich mich wieder zu der Frau im roten Kleid. "Ein Problem?"
Conrad nahm auf einem der Stühle Platz.
"Warte Mal", sagte er langsam. "Das Foto mit Jane Fonda 1974", setzte er an. "Ist es doch...echt?"
Er sah aus, als würde er jeden Moment anfangen, in Tränen auszubrechen. Mein Blick pendelte zwischen ihm und Michelle.
Michelle, die wahrhaftig vor mir stand und mich aus ihren bedrohlichen Augen musterte, so wie ich es ihr einst aufgetragen hatte. Auf dem Papier jedoch, nicht in der Realität.
Sie kam zwei Schritte auf mich zu, sodass nur wenige Zentimeter uns trennten.
"Ich brauche Ihre Hilfe, Derryl! Ich flehe Sie an. Ich weiß nicht, wie ich herkam. Bringen Sie mich zurück. Bringen Sie mich in die Bar!"
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro