
06
Egal, was die Leute einem sagen, Worte und Ideen können die Welt verändern.
N.H. Kleinbaum, Dead Poets Society
Vorsichtig blickte ich auf. Über mir lehnte ein junge Frau, Dame wohl eher, in einem roten, bodenlangen Kleid mit tiefem Ausschnitt. Ihre braunen Haare fielen ihr ins Gesicht, ich konnte eine Note von Haarspray und Rosenwasser ausmachen, die über mich hinweg waberte.
Ihre Lippen waren von einer dicken Schicht schwarzem Lippenstift benetzt, ein Thema, das sich in ihren Augen widerspiegelte, die tiefbraun und voller Worte waren, die ich nicht verstand, so als sprächen sie eine fremde Sprache, von der ich noch nie etwas gehört hatte.
Ohne den Blickkontakt abzubrechen, schlug sie das Buch auf und tippte auf die erste Seite.
"Ich hätte gerne ein Autogramm", säuselte sie. Ich schluckte.
"Wie-Wieso sollte ich das unterschreiben? ", fragte ich zaghaft. Mir wurde heiß. Mein linkes Auge begann zu pochen.
"Das ist eine Signierstunde, oder nicht?", fragte sie zurück.
Ich nickte. "Ja, aber doch von einem ganz anderem Buch."
"Nein, Mr. Derryl, von Ihnen. Und ich wünsche mir Ihre Unterschrift in diesem Buch. Sie haben es doch geschrieben, oder?"
Sie haben es doch geschrieben, oder?
Langsam ließ ich meinen Blick wieder sinken. Die erste Seite des Romanes war bereits gefüllt, obwohl nicht mehr, als Titel und Autorin darauf zu sehen hätten sein sollen.
In Liebe - W.D.
Ich griff nach dem Kugelschreiber, mit dem ich bis zum jetzigen Augenblick rund zweihundert Exemplare beschrieben hatte und drehte ihn auf.
"Wo...soll ich schreiben?", fragte ich.
"Sie finden schon Platz", drängte sie.
"Soll ich etwas bestimmtes schreiben?"
"In Liebe, bitte."
Ich quetschte meine Unterschrift und die gewünschten Worte auf die bereits signierte Seite und sah erneut auf.
"Wie ich sehe, haben Sie einen Buchstaben hinzugefügt...Wozu?"
"Sieht besser aus", presste ich hervor, bevor ich aufsprang und meine Kundin am Pult stehen ließ.
"Ich muss kurz auf die Toilette", rief ich Toni zu, der sich beeilte, die Menschen in der Schlange darauf hinzuweisen, dass sie sich nun etwas gedulden würden müssen.
Ich hastete hinter den weißen Vorhang, wo Conrad auf der Couch saß und wie wild auf sein Telefon eintippte. Als ich den Vorhang hinter mir zuzog, sah er auf.
"Gott, du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen. Was ist dir denn widerfahren? Wieder ein Kind mit halbgeschmolzenem Schokoriegel?"
Ich brauchte einen Augenblick, um auf seine Fragen einzugehen. Zittrig atmete ich ein. "Ich..."
Ja, was denn? Was war passiert. Ich hatte ein Buch unterschrieben. Das war doch normal, nicht? Aber ich hatte es schonmal unterschrieben. Aber auch das war keine Seltenheit. Die Leute sammelten Autogramme in ihren Büchern, gerne auch mehrfach die selben.
Ich fuhr über meine Stirn. Nein, das hier war höchst merkwürdig, es jagte mir einen Schauer nach dem nächsten über den Rücken.
Ich hatte dieses Buch schon einmal unterschrieben. Vor rund Siebzig Jahren. Aber nicht William R. Derryl hatte es signiert. Es war Whitney Dawson gewesen.
Und sie war gestorben. Gestorben zwei Wochen, nachdem sie 1946 ihr erstes und einziges Werk veröffentlicht hatte: Die Bar.
Ein Phänomen der Literatur. Ein Bestseller und das, obwohl sie den Roman nie beendet hatte. Unvollständig veröffentlicht, bevor sie sich in ihren Tod stürzte.
Ich hätte nie gedacht, ihren Namen je wieder lesen zu müssen, zu dürfen, doch vor nicht einer Minute hatte ich das getan. Hatte ich ihre Schrift vor Augen gehabt, ein Original, eine Ausgabe von 1946, eines von nur etwa dreißig signierten Kopien.
"Ich muss wieder raus", stammelte ich meinen nichtssagenden Satz zu Ende und riss den Vorhang auf, stakste auf meinen Tisch zu und setzte mich. Die Frau war verschwunden.
Eine Stunde später war es vorbei. Mich hatte ein Gefühl gepackt, dass ich nie zuvor gespürt hatte. Zufall, es musste Zufall gewesen sein. Ein harmloser Streich, der die falsche Person traf. Aber was war es schon für ein Streich.
"William! Gott Verdammt, was ist denn los mit dir. Ich versuche hier gerade auf mühsamste Weise, eine Unterhaltung mit dir am Laufen zu halten."
Conrad schlug mir sanft auf die Wange, doch ich konnte seinem Blick entnehmen, dass er es gerne fester getan hätte. Ich blinzelte.
"Nichts ist los", fauchte ich ihn an und rieb mir die Schläfen. Wir saßen im leersten Café des Messegeländes an einem Klapptisch. Wir waren bei weitem nicht die einzigen Gäste, doch allein die Tatsache, dass Conrad uns den Sitzplatz ergattert hatte, war ein Wunder gewesen.
"Du starrst ins nichts, hast völlig glasige Augen und - Oh Shit, doch eine Gehirnerschütterung? Haben die dich im Krankenhaus nicht gründlich untersucht? Soll ich den Arzt rufen?"
Er zückte sein Handy. Schnell schnappte ich es ihm aus der Hand.
"Nein, spinnst du? Mir geht es hervorragend."
Conrad musterte mich mit einem merkwürdigen Blick.
"Hat deine Frau sich gemeldet?", fragte ich angespannt und verschränkte die Arme, das Telefon weiterhin fest umklammert. Er schüttelte den Kopf.
"Nein, aber das interessiert dich doch gerade überhaupt nicht!"
"Wohl!"
Marylin Weber bezeichnete Conrad und mich hin und wieder als ein langverheiratetes Ehepaar. Und manchmal musste ich ihr recht geben. Auch jetzt sah Conrad mich kopfschüttelnd an.
"Komm schon, sag mir was passiert ist, bei deiner Signierstunde. War jemand gemein zu dir? Oh Gott, hat jemand womöglich gesagt, dass dein Schreibstil ihm nicht zugesagt hat?"
"Halt die Klappe, das hat mir noch nie jemand gesagt."
"Das war dir wichtig, zu erwähnen, oder?"
Ich kniff die Augen zusammen.
"Hast du..." Ich zögerte, bevor ich erneut ansetzte. "Du hast nicht zufällig eine Frau in einem roten Kleid gesehen? Schwarzer Lippenstift und..."
"Jetzt macht es Klick", sagte Conrad.
"Bitte?"
"Du bist ein wenig verknallt, nicht wahr?"
Ich blicke meinen Lektor so lange strafend an, bis er einknickt und sich wieder der Tasse vor ihm widmet.
"Und?"
"Was und?"
"Hast du sie gesehen?"
"Natürlich, sie steht hinter dir und beobachtet dich aus mystischen Augen, als hinge ihr Leben von deiner Anwesenheit ab. Ich verfasse schonmal die Hochzeitseinladungen."
"Sehr witzig, Conrad", schnaubte ich.
"Ich mache keine Witze." Er grinste. "Jetzt im Ernst, sie steht da. Neben dem Wasserspender."
"Wenn ich mich jetzt umdrehe und sie nicht dort steht, dann sorge ich dafür, dass du gleich ähnlich entstellt bist, wie ich."
"Tu das", murmelte Conrad und nahm einen weiteren Schluck Kaffee. Langsam neigte ich meinen Kopf zur Seite und der altbekannte und doch zugleich so ungewöhnliche Schauer raste meine Wirbelsäule entlang.
Conrad hatte nicht gelogen. Sie stand dort und beobachtete mich, fixierte mich mit ihrem Blick. Ich wurde wütend. Was fiel ihr eigentlich ein. Bestimmt gab es eine harmlose Erklärung. Ich hatte keine unsterblichen Leser. Ich war jener, der in alle Ewigkeit schreiben würde, doch die die bis in alle Ewigkeit mein Tun verfolgen würden, die existierten nicht.
Ich sprang auf und ging auf sie zu.
"Was tun Sie denn hier! Gehen sie weg."
"Hui, Sie sind aber empfindlich", grinste die Frau.
"Wer zum Teufel sind Sie und wieso haben Sie mich dieses Buch unterschreiben lassen?"
Sie fuhr sich durch die Haare. Sie war etwas größer als ich, was aber vermutlich nur an den High Heels lag, die sie unter ihrem Kleid versteckte.
"Das habe ich Ihnen doch schon erklärt, ich wollte ein Autogramm von Ihnen, Mr. Derryl."
Ich deutete mit meinem Zeigefinger auf sie. "Verarschen Sie mich nicht! Was stand noch auf Ihrer Planung? Hm? Anschließendes Stalking?"
"Ich stalke Sie nicht."
"Nein? Wieso starren Sie dann so absolut auffällig unauffällig zu uns rüber?"
Die Frau öffnete die Tasche, die sie zwar die ganze Zeit bei sich getragen, ich jedoch noch nicht bemerkt hatte. Sie holte das Buch hervor.
Die Bar.
"Was soll das? Wieso dieses Buch?"
"Es scheint Sie wirklich zu beschäftigen. Sie glauben, der Beruf des Autors hätte Ihnen Sicherheit verschafft. Ihnen die Möglichkeit gegeben, unterzutauchen, aber da lagen Sie falsch, William."
"Derryl", fauchte ich sie an. "Derryl!"
"Dawson", sagte sie sanft.
"Für mich sind Sie Dawson. Und eine Frau. Und tot."
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