
03
Wenn die Nacht kommt wird die Sehnsucht klarer
Das Phantom der Oper
Aus meinem Bett fiel ich in das blanke Chaos. Die Menschen, die sich gestern noch in meiner Wohnung befunden hatten, waren gegangen, hatten jedoch Gläser und Flaschen achtlos auf den Böden stehen lassen.
Zeit, sie aufzuräumen hatte ich keinesfalls.
Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, als mein Plan für den heutigen Tag in meinem Gedächtnis aufflackerte. Die Geschäftsreise, die seit drei Monaten in meinem Kalender stand.
Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich kaum mehr fünf Minuten hatte, um meine Sachen zu packen und auf die Straße zu sprinten, wo Conrad mich in einem vorbestellten Taxi erwarten würde.
Das Jahr war 2022. Die Pandemie nicht vorüber, doch sie war um so vieles schneller abgeklungen, als jede, die ich zuvor durchlebt hatte. Nun war die Möglichkeit der Reise wieder gegeben.
Ich war nicht oft in New York, doch dieses Jahr hatte ich es wieder geschafft. Die BookExpo America öffnete erstmals seit zwei Jahren der Isolation endlich wieder ihre Tore. Ich war wahrlich keine Leseratte. Was nicht aus meiner Feder stammte, kam mir nicht unter's Auge. Und doch hatte mich eine Vorfreude durchfahren, als Conrad mir die Einladung per Mail zugesandt hatte.
Tatsächlich war ich keine Sekunde zu früh. Noch während ich mehr oder weniger im Gehen meinen Schnürsenkel band, bog der schwarze Wagen in die Straße ein. Conrad erwartete mich gut gelaunt auf dem Rücksitz.
Mein Koffer war peinlich winzig im Vergleich zu der monströsen Reisetasche, die mein Lektor in den Kofferraum hatte wuchten lassen. Dabei würden wir doch nur knapp eine Woche in die Staaten fliegen.
Der Flughafen Dublin war zu dieser gottlosen Zeit noch ruhig. Wenige Passagiere tummelten sich am Band zur Gepäckaufgabe. Ich zog mir die Baseballcap, die ich in weiser Voraussicht noch schnell aus dem Schrank gezerrt hatte, tiefer ins Gesicht. Es kam nicht häufig vor, dass die Menschen mich erkannten. Dafür war mein Gesicht zu langweilig, unscheinbar. Ich hatte keine stechende Augenfarbe, keine besonders hohe Stirn, keine erkennbare Zahnfehlstellung, die mir einen Wiedererkennungswert gegeben hätte.
Doch wenn ein begeisterter Leser mich doch einmal mit dem kleinen Bild auf dem Buchrücken verglich, dann war es meist schon zu spät. So eine Menschentraube bildete sich schneller, als ein Schwarm Bienen über einer Honigpfütze. Und sie ließ sich auch ähnlich schwer bekämpfen.
Dabei besorgten die meisten Leute um mich herum, sich Autogramme von einem Menschen, den sie anschließend erst würden googeln müssen. Sie waren zu feige zu fragen, zu gierig, um Abstand zu halten.
Knapp dreizehn Stunden würde ich über den Wolken verbringen, bevor mich ein weiteres Taxi in die Unterkunft karren würde, die der Verlag mir besorgt hatte. Es war immer das selbe.
Dennoch kribbelte mein Bauch ein wenig, als die Maschine, die uns nach Toronto bringen sollte, zum Abflug anrollte.
Ich flog nicht oft. Die meisten Touren gab ich in Europa und Asien, wo ich mich lieber über Tage in einem Bus oder Zug befand. Amerikaner mussten sich zumeist mit dem Vergnügen abfinden, mein schnödes Gesicht per Liveübertragung zu begutachten, während ich in meinen eigenen Worten blätterte und Fragen beantwortete.
Immer häufiger passierte es, dass ich mich in meinen Gedanken verrannte, dass ich ansetzte, Geschichten zum besten zu geben, die sich vor viel zu langer Zeit abgespielt hatten. Es machte unglücklich, sein Leben für sich behalten zu müssen. Die Fotos in einer Kiste unter dem Bett aufzubewahren, wo sie niemand außer meiner eigenen Wenigkeit je würde betrachten können.
Nicht einmal den Schnappschuss mit Jane Fonda, den ich 1974 bei einem Event ergattert hatte, konnte ich prahlend umherreichen, ohne, dass die Leute mich zu meinem Talent zur Fotomontage beglückwünschten.
Ich hatte es ein einziges Mal versucht und mich noch im selben Augenblick gefragt, mit welchen Erwartungen ich an diese Interaktion gegangen war.
Ich schlief unruhig, während das Flugpersonal Conrad sanft anstieß und ihn bat, mir das Tablett mit abgepacktem Risotto vor die angebrochene Nase zu stellen. Trotz der ordentlichen Dosis Schmerzmittel, die ich mir vorbeugend selbst verabreicht hatte, breitete sich bereits nach einer halben Stunde des Fluges ein drückender Schmerz in meinem Gesicht aus.
Freudlos schaufelte ich Reis in meinen Mund, in der Hoffnung, das Pochen durch die Euphorie des Geschmacks regulieren zu können. Weit gefehlt.
Als wir in New York aus dem Flugzeug stiegen, schlug mir ein eisiger Wind entgegen. Ich rümpfte die Nase und beeilte mich, in den Flughafenbus zu steigen, der mich ein Stück näher an mein Gepäck bringen würde.
In meinem optischen Zustand wirkte ich offenbar zu einem gewissen Grad behindert, denn eine alte Dame mit Krücke stand mühsam auf und bot mir ihren Sitzplatz an.
Kurz zog ich es in Erwägung, mich mit einem dankbaren Grunzen niederzulassen, schließlich war auch ich ein alter Mann, doch die Moral siegte und ich schüttelte vehement, wenn auch etwas enttäuscht von mir selbst den Kopf und griff nach der Haltestange.
Es war kurz vor Mitternacht. Die Zeitverschiebung hatte mir vier Stunden mehr verschafft, die ich auch ausnutzen würde. Während Conrad sich mit einem Gähnen, jedoch ohne viele Worte verabschiedete und mit müden Augen hinter der Tür gegenüber meines Hotelzimmers verschwand, stand ich vor dem reich geschmückten Wandspiegel im Flur und versuchte meine Haare zu richten, bevor ich einen Spaziergang um den Block machen würde.
Für gewöhnlich hatte ich Respekt vor den nächtlichen Straßen der Großstädte, doch so wie mein Spiegelbild mich voller Selbstmitleid anstierte, würden potenzielle Angreifer ihre meine Gesundheit betreffenden Pläne vermutlich als bereits erledigt betrachten.
Hin und wieder endeten meine Gedanken wirrer und länger, als ich es geplant hätte. Die frische Luft würde mich klarer Denken lassen. Kaum dass ich auf die Straße trat, erfüllte mich ein Gefühl der Freude. Fast so, als hätte ich das Lichtermeer ein wenig vermisst.
Die Kälte war kaum mehr ein Problem für mich. Ich hatte weit eisigere Monate als diesen erlebt, dennoch war ich dem Mantel dankbar, den ich mir hastig über die Schultern geworfen hatte, bevor die Zimmertür ins Schloss gefallen war. Die Straßen waren nicht voll zu dieser Jahreszeit. Touristen kamen dann, wenn die Sonne ihre lieblichen Finger auf die Erde legte und dazu einlud, die Wiesen des Central Parks auszunutzen.
Das New Yorker Nachtleben hielt sich dennoch nicht zurück. Als ich die 35th Street Richtung Hudson River entlangschlenderte, war es kein leichtes, der Gruppe Japaner auszuweichen, die mit klickenden Kameras versuchten, die Spitze des Empire State Buildings, die zwischen einigen Hochhäusern hervorragte, festzuhalten.
Alles in meinem Kopf drehte sich um den folgenden Tag.
Mein derzeitiger Verlag hatte mich für eine Lesung mit anschließender Signierstunde angemeldet. Dabei war das Buch kaum vier Wochen auf dem Markt. Es trug den Titel "Unterirdisch Überirdisch" und handelte von einer bösartigen Macht an Außerirdischen, die sich katastrophal dabei anstellten, die Erde einzunehmen. Ich ordnete die Geschichte dem Genre des komödiantischen Horrors ein und hatte mir bereits bei Beendigung des Buches vorgenommen, dass eine Schreibpause mir möglicherweise gut tun könnte. Denn inzwischen fabrizierte meine Gedankenwelt mal wieder nur noch Schrott.
Dennoch oder vielleicht gerade aufgrund der Absurdheit meines Buches, fanden die Menschen Gefallen daran.
Morgen lagen rund vier Stunden der Hitze vor mir und so genoss ich die sanfte Winterbrise in vollen Zügen. Der Wind fuhr durch meine Haare wie eine weiche Hand und flüsterte die altbekannten Sagen, die nur jene verstanden, die es hören durften. Lange hatte ich probiert, sie zu entziffern, doch die höhere Macht ließ es nicht zu.
Noch nicht.
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