Stillstand (Henryko)
Henryko
von @Ewelfe
Er war es tatsächlich. Der Mann im Fluss. Nur hatte er seine Kleidung gewechselt und wirkte brauner, doch ich erkannte ihn an seinen dunklen Haaren, seiner Körperform und der seltsam steifen Haltung, die er schon im Wasser demonstriert hatte. Er hatte also gelebt. Ich meine, er lebte immer noch. Und war hier auf dem Festival.
Auch der Mann musste mich wieder erkannt haben, denn sein Blick verfinsterte sich, bevor er mich losließ und noch für ein paar Sekunden stumm musterte. Seine düstere Miene verstärkte augenblicklich das Gefühl der Angst in mir. Würde er mir was antun? Hoffentlich nicht hier in der Menge, aber etwas sagte mir, dass ich von nun an nicht mehr sicher war. Oh Götter, das Bedürfnis zu fliehen wurde immer stärker.
Endlich gab ich meinem Drang nach und rannte so geschwind durch die Menge ohne Jemanden zu berühren, wie es wohl selten einem Menschen möglich war. Dabei achtete ich nicht mehr auf Marmia. Ich wollte nur so schnell wie möglich von diesem übernatürlichen Mann weg.
Schließlich erreichte ich den Versammlungsort meiner Familie. Mein Vater warf mir einen fragenden Blick zu, aber ich schüttelte nur den Kopf. Ich würde ihn nicht jetzt unnötig mit einer seltsamen Begegnung belästigen. Später konnte ich ihm erzählen, was geschehen war und was ich gesehen hatte.
Als meine Mutter bemerkte, dass ich da war, sah sie sich auf Zehenspitzen in der Menge um. Doch schon bald musste sie feststellen, dass Marmia nicht mehr in meiner Nähe war. „Ist Marmia zu ihrer Familie gegangen?", fragte sie verwundert. Ich wägte meine Optionen ab. Ein einfaches Ja würde meine Mutter zufrieden stellen, es sei denn Marmia fand uns, was gar nicht so unwahrscheinlich war. Also beschloss ich die Wahrheit zu sagen: „Ich habe sie wohl in der Menge verloren."
Das brachte mir einige Tadel von meiner Mutter ein, doch ich hörte nicht hin, sondern sah mich aufmerksam um. Ich wollte nicht noch einmal überrascht werden und es gefiel mir gar nicht, dass der Mann mich erneut gesehen hatte. Ich konnte bloß hoffen, dass ich ihm nie wieder begegnen würde.
Das Blut rauschte immer noch durch meine Adern. Mir war das Gefühl, als verschob sich etwas in der Welt, wie ich sie kannte. Und das nicht unbedingt zu meinen Gunsten. Tatsächlich wurde mir ein wenig schwindelig, bis ich meinen Kopf schüttelte. Vermutlich war es nur eine Nachwirkung von dem kurzen Sprint durch die Menge.
Ich atmete ein paar Mal tief ein und aus, um wieder Kraft zu schöpfen und den Schwindel zu vertreiben. Es funktionierte, zumindest geringfügig. Ein wenig Schwindel fühlte ich immer noch, aber es wurde langsam besser.
Als ich mich wieder aufrichtete, stand plötzlich Aiko neben mir. Mein jüngster Bruder sah mich mit großen Augen an. „Rieche ich etwa eine gegrillte Heuschrecke?", fragte er und zeigte auf meine Tasche. Ich schmunzelte und zog die Leckerei aus meinem Gewand. „Hier", sagte ich ohne große Erklärungen.
„Du bist der Beste, Henko!", rief er glücklich und zerriss das Insekt an seinen Beinen. Das knackige Kauen war so laut, dass sich sogar ein paar Leute zu ihm umdrehten. „Du hast nicht noch zufällig Selal-Sauce dabei?", hakte er zwischen zwei Bissen nach. Ich schüttelte als Antwort nur den Kopf und warf erneut einen Blick über die Menge.
Ein Glück, dass ich die Größe von meinem Vater geerbt hatte, sonst wäre es mir nicht so einfach die Anwesenden zu überblicken. Ich scannte die Gesichter nach dem des Mannes ab und war wieder erleichtert, als ich ihn nicht sehen konnte. Erst dann wandte ich den Blick zurück zu meiner Familie.
Meine Schwester unterhielt sich mit meiner Mutter und einer weiteren Frau, die ich nicht kannte. Mein Vater hatte sich ein Getränk an einem der Stände geholt und stand gelassen und ruhig wie ein Anker in der Menge. Aiko stand neben mir. Aber wo war Miroko?
„Hey, kleiner Bruder", sprach ich Aiko an. „Wo hast du Miroko gelassen?" Aiko schluckte laut und zeigte dann mit einem Bein der Heuschrecke zur Doa. „Er ist da unten mit ein paar Freunden. Ich glaube, er wollte ins Wasser springen." Sowohl mein Vater als auch ich versteiften sich im gleichen Moment. In die Doa springen? Das konnte ja wohl nur ein Scherz sein.
Mein Vater und ich tauschten einen langen Blick aus. Ohne Worte wusste ich, dass er genauso darüber dachte wie ich. Also nickte ich nur kurz und machte mich auf dem Weg Miroko zurückzuholen.
Jedes Jahr gab es ein paar Deppen, die sich während des Zurückfließen des Wassers in den Göttersee oder die Doa stürzten und mit hochgezogen wurden. Sie hofften, so eher in das Götterreich zu gelangen, aber am Ende des Spektakels fielen sie mit dem Wasser zurück in den See. Nur wenige überlebten das. Vor allem jene, die mehrere Stunden lang nach oben geflossen waren, stürzten tief und hart und wurden nicht immer von dem See aufgefangen. Wenn Jemand ins Götterreich berufen wurde, dann holte das Wasser denjenigen schon selber, also gab es keinen Grund sich in die reißenden Fluten zu stürzen.
Wie immer schlängelte ich mich zwischen den Menschen durch bis ich das Ufer erreicht hatte und fand Miroko umgeben von seinen Freunden stehen. Ich drängte mich weiter durch, bis ich neben ihm stand und ihn am Ellbogen vom Ufer wegzog.
„Hey", schrie er empört auf. „Lass mich los! Bald ist es so weit." Er versuchte sich aus meinem Griff zu befreien, aber ich hielt ihn entgegen meiner inneren Stimme, die ihn so schnell wie möglich loslassen wollte, weiter fest. „Auf keinen Fall", sagte ich nur und wunderte mich selbst ein wenig wie eisern meine Stimme klang.
„Bei den Göttern, Henryko! Lass mich los!", rief er noch ein wenig lauter, so dass sich die nahstehenden Leute nach uns rumdrehten. Also hielt ich an und sah im tief in die Augen. Ohne genau zu wissen, was ich tat, fasste ich sein Handgelenk und spürte seine Haut unter meiner Handfläche.
Der Schwindel überkam mich erneut, doch er fühlte sich seltsam an. Verschroben. Auf eine beruhigende Weise fließend und einlullend. „Du hörst jetzt auf dich zu wehren", sagte ich und spürte sogleich wie Mirokos Widerstand nachließ und er sich entspannte. Seine Augen schimmerten leicht glasig, als ich ihn losließ.
„Wir gehen zurück zu unserer Familie, klar?", befahl ich und Miroko nickte stumm. Er trat an mir vorbei und ging voraus. Skeptisch folgte ich ihm, doch er machte keine Unternehmung in der Menge zu verschwinden und sich wieder zu seinen Freunden zu schleichen.
„Was hast du dir dabei nur gedacht?", murmelte ich mehr für mich selber, aber Miroko antwortete auf die Frage mit: „Ich will von den Göttern aufgenommen. Immerhin kann ich so meiner Familie eine Ehre machen." Mir schwante, warum er sowas machen wollte. Er musste eine weitere Auseinandersetzung mit Vater gehabt haben.
Mirokos Leben war nicht einfach. In der Schule stellte er sich nicht sonderlich geschickt an und mit seinen Freunden geriet er immer wieder in Schwierigkeiten. Ich konnte mir gut vorstellen, wie Vater ihm vorgeworfen hatte, die Familie zu entehren, wenn er so weitermachte.
Doch es war keine Lösung sein Leben wegzuwerfen, indem man sich in den Fluss stürzte. Ich hoffte, dass Miroko dies schnellstmöglich einsehen würde. Spätestens ein Gespräch mit Mutter würde ihn lehren, nicht mal mehr ansatzweise in die Nähe des Wassers zu gehen.
Zusammen gesellten wir uns wieder zu den anderen. Vater schenkte mir einen erleichterten Blick, den ich mit einem einfachen Nicken erwiderte. Mutter hatte gar nicht bemerkt, dass ich fehlte, so vertieft war sie in ihr Gespräch mit meiner Schwester gewesen. Ich hoffte bloß, dass es nicht wieder über Männer ging.
Die ersten Rufe der Leute lenkte unsere Aufmerksamkeit zum Götterfall, der im Licht der vereinten Sonnen in schillernden Regenbogenfarben glitzerte. Er wirkte nicht wie aus Wasser, sondern als bestände er aus unzähligen wertvollen Kristallen, die auf die Erde hinabregneten.
Oh ja, der Götterfall bei Tag war noch viel schöner als bei Nacht. Er war und blieb eben doch ein Wunder, das man nicht erklären konnte. Aiko hüpfte mit leuchtenden Augen auf und ab, weil er unbedingt besser sehen wollte.
„Willst du auf meine Schulter?", fragte ich ihn und er nickte sofort. Nach einem letzten Blick auf Miroko, der immer noch neben mir stand und wenig begeistert auf den steinigen Boden starrte, hockte ich mich hin, damit Aiko auf meine Schultern klettern konnte.
Letztes Jahr hatten wir das auch gemacht, aber Aiko wuchs schnell und so hatte ich schon einige Probleme mich aufzurichten. „Du bist schwer geworden", presste ich hervor, bevor ich einen sicheren Stand erreichte. Ich wusste, dass es für meinen Vater kein Problem sein würde, ihn zu heben, denn mein Vater war stark. Aber von seiner Stärke hatte ich nichts geerbt.
„Willst du auch was sehen?", fragte Vater Miroko, aber der schüttelte immer noch schmollend seinen Kopf und blickte zu Boden. Mein Vater seufzte.
„Es fängt an!", schrie Aiko begeistert und rutschte auf meiner Schulter herum, so dass sich seine spitzen Beckenknochen in mich bohrten. „Halt bitte still!", wies ich ihn an, doch dann fing das Spektakel meinen Blick ein.
Das Wasser des Götterfalls fiel immer langsamer, als würde eine unsichtbare Macht die Tropfen abbremsen. Die gigantischen Wassermassen wurden trotz der Schwerkraft aufgehalten.
Ein Schauer rannte über meinen Körper und Aufregung fuhr durch meine Glieder. Wenn ich sah, wie das Wasser gegen alle sonstigen Gesetze der Natur verstieß, dann erinnerte es mich immer an ein großes Abendteuer. Ja, in diesem Moment glaubte ich sogar. Jemand mit einer großen Macht musste dafür verantwortlich sein. Eine andere Erklärung konnte es nicht geben. Der Götterfall war der einzige Beweis für die Existenz der Götter.
Schließlich wurde das Wasser noch langsamer und das Rauschen hörte auf. Auch das Wasser in der Doa stoppte und wurde ruhig wie der See. Eine gespenstische Stille legte sich über den gesamten Platz. Niemand traute sich diesen Moment zu zerstören und die befremdliche Stille zu beenden.
Nicht mal eine winzige Welle rann über die glatte Oberfläche des stillen Gewässers. Wenn er so still war, konnte man sehen, wie unendlich tief der Göttersee sein musste und wie steil das Ufer war.
Die Wassertropfen, die sich vom Götterfall entfernt hatten und sonst in die Menge gefallen wären, schwebten wie winzige Diamanten mitten in der Luft. Ein kleiner Topfen hing direkt vor meinem Gesicht. Durch das Sonnenlicht schillerte er in verschiedensten Farben. So wunderschön!
Es war als hätte Jemand die Zeit der Natur angehalten und nur uns ermöglicht weiter zu leben. Alles wirkte im Stillstand, wie auf einem Bild, ein Moment, der für die Ewigkeit festgehalten wurde.
Dann bewegte sich der kleine Tropfen ganz langsam nach oben. Und nicht nur er, sondern auch das schwebende Wasser, welches sich in große Kugel vereinigt hatte, trieb ganz sachte nach oben und nahm mit jedem zurückgelegten Zentimeter an Fahrt auf. Schließlich erhob sich das Wasser in der Mitte des Sees und wurde wie durch einen unsichtbaren Abfluss nach oben gesogen, immer schneller und wilder.
Die Stille wurde von demneuartigen Gluckern und Rauschen des aufsteigenden Wassers unterbrochen undgleich darauf stimmten die Menschen ein. Sie schrien und jubelten und beteten.Viele applaudierten und auch ich klatschte beeindruckt und bezaubert in dieHände. Wow, es war einfach jedes Mal ein Wunder. Der Tag des Wassers hatte sograde begonnen.
*****
Ich hoffe ihr könnt euch diesen epischen Moment vorstellen, wenn das Wasser anfängt andersherum zu fließen. Hier ein gutes Gif (lasst euch nicht vom Schiff beirren) :
Und? Wer weiß aus welcher wundervollen Serie das ist? #AvatarFansUnite !
Ich freue mich schon so auf das nächste Kapitel. Bis dahin, vergesst nicht zu voten und zu kommentieren! :D
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