Abschied und Hirngespinste (Nevada)
Nevada
Von squirrelowl
Noch immer hielt ich den zerknitterten Zettel in der Hand, nur um die Wort erneut und zum wiederholten Male zu lesen.
Mein liebster Bruder,
Ich weiß, dass es nicht immer leicht für dich ist, doch du hast deine Freunde und die Bewohner im Dorf die dich unterstützen. Niemand weiß es besser als ich, wie schwer es für dich war, unsere Eltern in so jungen Jahren zu verlieren. Doch ich weiß auch wie stark du bist, du wirst es überstehen, denn du hast im Dorf jegliche Unterstützung, die du dir nur wünschen kannst.
Auch wenn es für dich unerwartet kommt und unverständlich scheint, weiß ich was ich tun muss. Die Schuldgefühle nagen an meiner Seele und fressen mich innerlich auf, Nichts hilft, nachts sehe ich die Bilder vor mir, als wären sie erst gestern gewesen und nicht bereits fünf Jahre her. Es sind die Erinnerungen, die mich verfolgen, die Geister der Vergangenheit, die mich nicht mehr schlafen lassen und mir mein ganzes Leben zerstören. Ich höre die Schreie, ich sehe alles, vor dem ich mich immer gefürchtet habe, vor nichts bleibe ich verschont. Es ist einfach unerträglich. So gut wie niemand, wollte mir damals zuhören und so versuchte ich all das in mir verschlossen zuhalten, doch jetzt ist die Grenze überschritten, die mich all die Jahre vor diesen Gefühlen geschützt hat. Es ist nicht mehr von mir übrig als eine seelische Ruine und das ist eine der Sache vor denen ich dich schützen muss!
Wenn ich weiterhin in diesem Zustand bei dir bleibe, wird es dir nur mehr schaden, denn als zurechnungsfähig kann man mich nicht mehr bezeichnen und in der Lage mich um dich zu kümmern bin ich einfach nicht mehr.
Behalte den Gedanken fest, dass ich bald bei unseren Eltern weile und über dich wachen werde, genauso wie es unsere Eltern tun, denn das ist der einzige Weg, den es für mich noch gibt um dich zu schützen. Denn so werde ich dich nie mehr verletzen. Du kannst dir das Leben aufbauen, das du schon immer wolltest.
Es tut mir Leid, doch ich sehe keinen anderen Ausweg für mich. Denke an mich, bleibe stark und lebe das Leben, das mir durch meine eigene Schuld versagt geblieben ist.
In Liebe, deine Schwester Kia
Wie konnte die große Schwester ihrem kleinen Bruder solche Worte als Abschiedsbrief lassen? Er war gerade erst acht und er sollte jetzt auf sich allein gestellt leben? Das konnte doch nicht ihr ernst sein! Wenn ich mir auch nur vorstellte, dass Aliana auf sich alleine leben sollte, musste ich mich schütteln. In diesem Alter war das unmöglich. Und Kia war die einzige lebende Verwandte, die Kalen anscheinend noch hatte. Wie konnte sie ihm das antun!?
„Wir werden Kia stoppen!" Ich hätte nicht gedacht, dass ich so überzeugt klingen konnte, aber der Wortlaut ließ Kalen verstummen und die Blicke der Kinder auf mir ruhen. Es muss sein! Solange es möglich war, sie vor dem Selbstmord zu stoppen, mussten wir es für Kalen versuchen!
Äußerlich ruhig sprach ich Kalen an: „Kannst du mir vielleicht sagen, wo deine Schwester hin gegangen ist?" Doch er schüttelte nur schweigend den Kopf. Das hieß ich musste meine Informationen woanders herbekommen. Mein Blick fiel auf Mafei. Meine Tante wusste doch immer alles was die Leute im Dorf betraf, schließlich erzählte sie doch immer von jeglichem Allerlei, das ihre Nachbarn anging.
„Mafei?" Meine Tante sah mir fragend in die Augen. „Kannst du mir erzählen, was mit Kalen's Eltern vor fünf Jahren passiert ist?" Zuerst tat sie gar nichts, doch dann nickte sie und wies mich an mit ihr etwas zur Seite zu gehen. Wir setzten uns auf eine kleine Holzbank etwas abseits von den Kindern, nur Kalen hatten wir mitgenommen. Er hatte ein Recht ebenfalls zu hören, was Mafei wusste.
„Also es war vor fünf Jahre, an einem sonnigen Tag. Die Kinder spielten alle draußen und die Erwachsenen hatten sich ebenfalls in die Sonne gesetzt. Kia war mit Jungen in den Wald um Verstecken zu spielen, doch anscheinend hatte sich das Spiel schnell gewandelt, denn statt sich zu verstecken wollten sie ihren Mut auf die Probe stellen. Es fing harmlos an, doch irgendwann hieß es, dass Kia ein Feigling wäre. Was genau dazu geführt hatte, weiß ich nicht, aber Kia wollte das nicht auf sich sitzen lassen." Sie machte eine kurze Pause, sah zuerst mich an und dann Kalen tief in die Augen. Dann seufzte sie und sprach weiter.
„Sie wollte unbedingt ihren Mut beweisen, also machte sie sich auf den Weg zum endlosen Wasserfall." Ich musste husten und sah meine Tante ungläubig an. Sie war wirklich zum Wasserfall gegangen?! Da war doch klar, dass nichts Gutes daraus kommen konnte! Dann hieß es, dass sie wahrscheinlich, auch jetzt dorthin ging! Ich sprang auf. Kalen hatte ich versprochen, sie zu stoppen, auch wenn es mir selbst nicht geheuer war, in die Nähe des Wasserfalls zu gehen.
Doch bevor ich losgehen konnte, rief mir Mafei zu: „Warte Nevada! Bevor du zu schnell aufbrichst, lass mich erst noch erzählen, warum es erst zu diesem Brief kommen konnte." Sie zeigte auf das zerknitterte Blattpapier in meiner Hand. Langsam setzte ich mich wieder, denn sie hatte Recht. Wenn ich nicht die Hintergründe ihrer Selbstmordgedanken kannte, konnte ich sie auch nicht aufhalten.
Mit einem Nicken signalisierte ich ihr fortzusetzen. Eigentlich wollte ich es gar nicht wirklich hören, doch das tat ich jetzt für Kalen. Er saß einfach still und regungslos neben mir und lauschte den Worten meiner Tante. Ich wollte nicht wissen, wie schwer es für ihn sein musste, auf diesem Weg zu erfahren, warum seine Schwester sich umbringen wollte und seine Eltern tot waren. Doch er hatte jetzt vermutlich lange genug im Dunkeln gelebt. Es war sein Leben und seine Vergangenheit.
„Ein Junge, der mit ihr im Wald war, rannte zurück ins Dorf und fragte überall hektisch nach Kia's Eltern und erst nach einiger Zeit fand er sie und das auch nur, weil andere Dorfbewohner ihn zu ihnen schicken konnten. Sie waren gerade etwas außerhalb mit Kalen auf einer kleinen Lichtung. Als der Junge ihnen von Kia's Plan erzählte, brachten sie Kalen zu ihren Nachbarn und machten sich auf den Weg Kia zu folgen."
Sie stockte kurz bevor sie weitersprach: „Den Rest habe ich nur über den damaligen Nachbarn von ihnen erfahren, deswegen weiß ich nicht, ob das alles so stimmt und manches bezweifle ich auch, aber ich erzähle euch alles was mir berichtet wurde. Auch wenn ich einiges dem verwirrten und geschockten Geist von Kia zuschreibe." Was es wohl damit auf sich hatte, wenn meine Tante schon Dinge als Hirngespinst beschrieb? Ich wollte gerade fragen, doch Kalen griff fest mit seiner Hand nach meiner. Ich sollte sie besser nicht unterbrechen. Kalen wollte auch wissen was mit seiner Familie passiert war. Außerdem würde sie es noch erwähnen - nach dieser Ansprache bestimmt.
„Ihre Eltern rannten ihr über Stock und Stein hinterher und doch war Kia bereits am See des Wasserfalls als sie dort ankamen. Sie stand dort am Rand eines Abhanges der leicht über den See ragte und den Wasserfall in greifbare Nähe brachte. Ihre Eltern gingen langsam auf sie zu, Kia stand am Abgrund und schaute in die herabfallenden Fluten. Als plötzlich - und das ist das was mir erzählt wurde - eine Hand aus dem Wasserfall nach Kia griff. Es soll anscheinend zu einem gräulichen Wesen, menschenartiger Gestalt gehört haben, doch es hat es nicht geschafft Kia zu greifen. Ihre Eltern hatten blitzschnell reagiert, waren zu ihr gesprintet und hatten sich zwischen das Wesen und das Mädchen gestellt. Das Wesen griff sich stattdessen ihre Eltern und zog sie vom Vorsprung hinunter in die Wellen des Sees."
„Also haben meine Eltern versucht meine Schwester vor diesem Wesen zu schützen?", meldete sich Kalen zu Wort. Mafei nickte, sprach aber auch dann direkt weiter. „Wie gesagt ich glaube nicht, dass das Wesen existiert! Ich kann mir nur denken, dass es anders passiert ist und zwar: Alle drei standen auf diesem Vorsprung, das Gewicht von Kia alleine hatte er noch ausgehalten, doch nicht das gesamte Gewicht mit zwei weiteren erwachsenen Personen. Der Boden unter ihren Füßen verlor die Stabilität und alle Drei wären in die Tiefe des Sees gefallen, hätte ihr Vater Kia nicht im letzten Moment nach vorne auf den stabilen Untergrund geschubst."
Kalens Eltern waren in die Tiefen des Sees gezogen worden?! Egal welcher Geschichte ich jetzt glauben schenken wollte, es kam aufs selbe heraus: Sie waren im See des endlosen Wasserfalls ertrunken. „Aber das war doch dann die Entscheidung ihrer Eltern, sie zu schützen. Warum meint Kia die Schuld daran zu haben?"
Mafei seufzte als Antwort auf meine Frage: „Sie gibt sich die Schuld, weil sie es war, die ihre Eltern dazu gebracht hat zum Wasserfall zu gehen. Jeder weiß, dass es nicht gut endet, wenn man auch nur in die Nähe kommt und doch meinte sie dort hingehen zu müssen. Und dann ließ sie es auch noch zu, dass Vater und Mutter durch ihre Dummheit starben. Dann kam dazu noch der Gedanke, dass sie ihrem kleinen Bruder die Eltern entrissen hatte und sie diese Tatsache nie wieder beheben konnte. Kalen hatte durch den Versuch ihren Mut zu beweisen, das verloren, was Kia geschützt hatte und zwar die aufopferungsvolle Liebe und Fürsorge ihrer Eltern."
Nun da ich wusste, welche Gründe und Gedanken Kia dazu gebracht hatten diesen Brief zu schreiben, konnte ich ein wenig mit ihr fühlen. Doch meiner Meinung reichte es nicht um ihren kleinen Bruder alleine zurückzulassen. „Kommt jemand mit? Sonst mache ich mich alleine auf zum...", ich schüttelte mich kurz bevor ich weiter sprach, „... endlosen Wasserfall!"
Bereits als ich Mafei den Kopf schütteln sah, wusste ich, dass ich wohl oder übel alleine gehen musste. Ich wollte gerade los, doch dann fiel mir ein, dass ich Mafei noch um etwas bitten musste, bevor ich loszog um Kia zu retten. „Tante Mafei, kannst du bitte dafür sorgen, dass Aliana nicht erfährt, wo ich hingehe? Bei ihrer Neugierde würde sie mir nur folgen wollen und das ist einfach zu gefährlich." Sie nickte mir zu und versprach auf meine kleine Schwester aufzupassen. Dann strich ich Kalen einmal über die Haare, sah in Richtung der restlichen Kindern und Aliana, drehte mich um und machte mich mit schnellen Schritten auf den Weg.
*****
Und hier präsentieren wir das nächste Kapitel, ich wollte euch ja nach dem Ende des letzten Kapitels nicht zulange auf die Folter spannen.
Könnt ihr Kia verstehen? Ihre Gedanken, die sie dazu brachten diesen Brief zu verfassen? Oder könnt ihr es ganz und gar nicht nachvollziehen?
Schreibt eure Gedanken dazu gerne in die Kommentare und votet natürlich auch fleißig ;)
LG Owaya
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