Kapitel 11
Als ich die Treppe hinunterstieg fühlte ich mich seltsam frei. Nicht nur von der grässlichen Zelle sondern auch von meiner Vergangenheit, meinen Problemen. Niemand hier wusste wer Gabriella war, die Gabriella, die ihren Bruder an eine Seuche und ihre Mutter an den Alkohol verloren hatte. Hier war ich einfach Gaby, die Neue aus der Stadt.
Kay führte mich herum und zeigte mir das, was die anderen mir bei meinem kurzen Gang durch das Lager vorenthalten hatten. Um uns herum wurden in der eintretenden Dunkelheit Lichter angezündet, vor den kleinen Hütten jeweils ein winziges Licht in einer Laterne, und an den Felswänden große Fackeln, die die große Barriere zwischen uns und der todbringenden Wüste erleuchteten.
„Das hier ist der Brunnen, das Lebenselixier unseres kleinen Dorfes, wie du bestimmt schon bemerkt hast", machte er mich auf ihn aufmerksam. „Und deswegen bitte ich dich, ihn auch genau so zu behandeln. Dieses Grundwasserreservoir ist der Grund weshalb wir hier überleben können und ohne... na ja, da wären wir ganz schön arm dran." Ich nickte verständnisvoll und gleichzeitig immer noch fasziniert von der Magie dieses Ortes.
Die Leute die an uns vorbeigingen waren, wie ich vorhin bereits beobachtet hatte, zum Großteil junge Frauen mit Eimern voller Wasser, die sie an uns vorbei zu den Hütten schleppten. Nur einmal sah ich ein Kind, einen kleinen Jungen von etwa fünf, der munter im Sand spielte und seine Umgebung gar nicht zur Kenntnis zu nehmen schien. Die meisten die uns passierten nickten Richtung Kay und warfen mir dann misstrauische Blicke zu, vor denen ich mich lieber versteckt hätte.
„Wie viele Leute leben hier?" „Um die einhundert", erwiderte Kay mit einem gewissen Stolz in der Stimme. „Die meisten sind Leute wie du, die wir zufällig in der Stadt oder in den Vororten aufgegabelt haben. Die anderen haben ihren Weg zu uns gefunden." Was er damit meinte verstand ich nicht ganz. Was mich aber noch mehr interessierte war, was für Leute das waren.
„Und gibt es dafür irgendwelche Aufnahmekriterien?" Kay lachte über meine Frage und ich fragte mich ob ich nicht lieber den Mund hätte halten sollen.
„Aufnahmekriterien. Nette Formulierung. Gaby, wer hier in der Wüste überlebt ist bestens geeignet für alles, was wir vorhaben. Sicher, es ist ganz nützlich wenn ein Ingenieur oder Techniker dabei ist, aber am meisten zählt der Wille. Wer den Biss nicht hat wird hier nicht lange überstehen."
„Ingenieur? Aber hier sind doch nur Frauen..." Zumindest alle außer Kay selbst und William.
„Stimmt, das hat dir ja keiner erzählt. Die Männer waren heute draußen und haben die brüchigen Stelle in der äußeren Felswand erneuert. Das ist schwere Arbeit und deswegen sind die Frauen hiergeblieben." Ich atmete hörbar auf.
„Und ich dachte schon ihr wäret hier immer noch der Ansicht das Frauen sich nur dazu eignen zu waschen und zu kochen." Kay schüttelte empört den Kopf.
„Gleichberechtigung für alle!" Er reckte symbolisch die Faust in die Luft und einige der Frauen wandten den Kopf zu uns um. „Aber wenn du das Bedürfnis hast draußen mitzuarbeiten..."
„Ne, danke." Ich winkte ab. Wir näherten uns jetzt der Wand und ich spähte in den flackernden Lichtschein einer Fackel um etwas zu erkennen.
„Hier." Kay führte mich zur Wand und deutete auf ein Loch, das gerade groß genug war damit sich ein mensch hindurchzwängen konnte. „Diese natürlichen Höhlen nützen wir für alles- zusätzliche Räume, Keller, Lager und Fluchtwege. Das hier ist so einer." Ich beugte mich nach vorne und versuchte den weiteren Verlauf des in der Dunkelheit verschwindenden Gangs zu erkennen.
„Sieht nicht sehr gemütlich aus." „Wenn es hier draußen über vierzig Grad hat kann die Abkühlung da drinnen durchaus erfrischend sein", widersprach er mir. „Alle anderen kennen die Fluchtwege auswendig, ich werde morgen jemanden bitten sie dir zu zeigen." Morgen, gut. Ich war hundemüde, ob das jetzt am ereignisreichen Tag oder der Hitze lag war mir nicht ganz klar.
„Und für heute?"
„Für heute zeige ich dir jetzt erst einmal deine Unterbringung. Wir haben eine Art System, in dem wir die Schlafplätze hier verteilen. Die Hütten in der Mitte für die Neuankömmlinge, später hast du die Chance auf ein Zimmer im Fels." Mir war gerade so ziemlich alles recht und ich fand, das die bunten Hütten sowieso meiner Vorstellung eines Pavillons aus den alten Märchen in fernen Ländern von denen mir meine Mutter früher immer erzählt hatte wenn ich noch nicht schlafen wollte, glichen. „Was ist denn der Unterschied zwischen den Schlafplätzen?", hakte ich nach.
„Zum einen das es hier draußen nachts ganz schön ungemütlich werden kann, die Wüste kühlt nachts rasant ab. Drinnen sind die Temperaturen eher konstant. Und die Hütten sind einfacher als ein normales Zimmer, wie du es vielleicht gewöhnt bist.
„Das macht mir nichts." Ich bezweifelte zwar sowieso das mich noch etwas schocken konnte, aber schlimmer als in unserer alten Garage konnten die Zustände hier doch auch nicht sein, oder? Außerdem behagte mir der Gedanke, direkt unter den Sternen zu schlafen. Wir schlenderten wieder am Brunnen vorbei und direkt zwischen den kleinen Hütten hindurch. Ab und zu konnte ich einen Blick in das Innere werfen und war überrascht von der orientalisch anmutenden Atmosphäre die die Unterbringungen auch von innen verströmten. Bunt, elegant und gemütlich.
„Das hier ist deine." Kay blieb am Rand der kleinen Bauten stehen und zeigte auf eine unbeleuchtete Hütte die ich neben den anderen fast gar nicht wahrgenommen hätte. „Klein aber fein. Und denk dran, Gaby: das hier ist eine Art Vorauszahlung meines Vertrauens an dich. Wenn du diese Chance nicht nützt, ist das alles weg." Ich nickte noch einmal und kam mir langsam vor wie in einer Schulstunde. Nur in einer schrecklich langweiligen.
„Okay, wollte dich nur noch einmal daran erinnern. Schlaf gut, Gaby. Ich schicke morgen jemanden vorbei der dich abholt." Damit ließ Kay mich alleine vor der Hütte stehen. Jetzt meine Hütte. Es fühlte sich gut an, einen eigenen Ort zu haben an den man sich zurückziehen konnte und der nur einem selbst gehörte.
Ich tastete mich in der Dunkelheit vorwärts, stolperte in etwas und fiel in den Sand. Ich streckte meine Hand nach dem Gegenstand aus der sich natürlich genau in meinen Weg platziert hatte und war überrascht als ich die kleine Laterne erkannte, die auch vor den anderen Hütten brannten. Wenigstens würde ich damit ein bisschen Licht haben.
Ich brach die Kerze ab, die im Inneren der Laterne mit geschmolzenem Wachs auf dem Boden befestigt worden war und hielt sie an eine der anderen bereits brennenden Kerzen. Wenig später hatte ich meine eigene kleine Laterne die mir die Dunkelheit erhellte.
Mit dem Licht bewaffnet schlug ich die Tücher beiseite die wie auch in den anderen Hütten statt einer Eingangstür befestigt wurde waren und stellte das Licht auf dem Boden ab. Der Lichtschein erleuchtete das winzige Zimmer gerade genug um die Gegenstände darin auszumachen.
Der Boden bestand aus Sand und es schien als hätten man einfach vier Wände im Sand nach oben gezogen. Die Wände, bestehend aus Holzpfosten an denen Tücher befestigt waren bildeten eine Barriere zur Außenwelt. Ich konnte in der Dunkelheit partout nicht ausmachen, aus welcher Farbe der Stoff bestand. In den Sand hatte man einen niedrigen Tisch gestellt, zu dem jegliche Stühle fehlten. Aufgrund der Höhe der Tischplatte vermutete ich aber eher dass man sich einfach in den Sand setzen sollte. In einer anderen Ecke lagen zwei Kissen und eine Decke, zusammengefaltet als würden sie schon längst auf mich warten. Ich ließ mich in den Sand sinken und schlang die Decke um mich. Kay hatte recht gehabt, ich fror schon jetzt. Aber als ich meinen Kopf auf einem der Kissen bettete und den Blick nach oben wandte wurde ich für all die Umstände entlohnt. Das Dach wurde ebenfalls von Tüchern gebildet, von denen eines vom Wind verrutsch war. Und der Himmel bot einen Anblick, der gleichwegs faszinierend wie unglaublich war. Tausende Sterne, Lichtpunkte am Himmel, die mit einer Intensität auf die Erde schienen wie ich es in der Stadt noch nie bemerkt hatte.
Ich sprang auf und zog auch die restlichen Tücher nach unten, um den Himmel ganz im Blick zu haben. Ich hätte am liebsten nie mehr weggeschaut, mich nicht mehr bewegt. Ich wollte einfach hier liegen und die Sterne betrachten, die funkelten als wären sie gerade eben frisch geputzt und gewaschen worden.
Vielleicht war Jacob ja jetzt auch dort oben, unter den Sternen. Ich wünschte es ihm so sehr, dass ich spürte wie die Tränen wieder zu fließen begannen. Aber diesmal waren es keine Tränen der Trauer sondern der Freude.
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