Distanz 🕗
Osamus Sicht (gesamtes Kapitel)
Hitomi hatte mir verraten, dass der Kochclub für den morgigen Valentinstag Süßigkeiten herstellte. Voller Vorfreude auf die Leckereien, die mich dort erwarten mögen, machte ich vor dem Training einen Abstecher in die Schulküche, in der Hoffnung, das ein oder andere misslungene Plätzchen, von meiner ungeschickten Klassenkameradin abstauben zu können. Bereits im Gang roch es herrlich nach Schokolade und frisch gebackenen Keksen. Mir lief das Wasser im Mund zusammen, als ich den Kopf zur Tür herein streckte und meinen Blick durch den Raum wandern ließ. „Hey, Samu!" Grüßte eines der Mädchen mich. „Falls du Hitomi suchst, die ist nicht hier." Erstaunt hob ich eine Augenbraue. „Nicht? Aber sie selbst hat mir vorhin erst von eurem heutigen Treffen erzählt." Hitomis Freundin zuckte unwissend mit den Schultern, „vielleicht hat sie sich nicht gut gefühlt und ist schon heimgegangen. Du bist doch in ihrer Klasse, da müsstest du eigentlich mehr wissen als ich." Das sie zu Hause sein sollte, konnte ich mir nicht vorstellen. Zumindest im Unterricht ging es ihr noch gut und es machte auf mich den Eindruck, dass sie sich auf den Kochclub gefreut hatte.
Darüber nachzudenken brachte mich nicht weiter, also machte ich mich auf den Weg zur Sporthalle. Unterwegs kam mir eine Gruppe Mädchen entgegen, die ebenfalls in unsere Klasse ging. Die Damen bauten sich vor mir auf, stemmten die Hände in die Hüften und sahen mich ernst an, „dein Bruder ist ein Arschloch!" Keifte die vorderste von ihnen mich an.
Fragend, legte ich den Kopf schief, „ja? Und?" Vermutlich war er bei den Mädchen Mal wieder in ein gewaltiges Fettnäpfchen getreten, weswegen sie ihn nun verabscheuten. Wäre nicht das erste Mal. „Die arme Hitomi weint sich die Augen aus dem Kopf. Sie einfach so, ohne ihr einen Grund zu nennen abzuservieren, ist echt das Letzte. Das kannst du ihm auch gerne so sagen!" Meine Augen weiteten sich. Im ersten Moment dachte ich, mich verhört zu haben. Tsumu hatte Schluss gemacht? Das war einfach nicht möglich. Eilig schob ich mich an den Mädchen vorbei, die sich sofort künstlich begannen aufzuregen, da ich nicht besonders sanft an ihnen vorbeizog.
Suchend lief ich durch die Schule. Ihr herzzerreißendes Schluchzen war schon von weitem zu hören, das machte es mir leicht, sie zu finden. Zusammengekauert hockte sie unter der Treppe, die Beine dicht an ihren bebenden Körper gezogen und die Arme fest darum geschnürt. Als ich mich ihr langsam näherte, hob sie den Kopf. Ihre Augen waren gerötet vom Weinen und die Wangen schienen zu glühen. Schniefend wischte sie sich mit dem Handrücken über die Augen, als sie mich erblickte, doch der endlose Fluss an Tränen wollte nicht enden. Seufzend ließ ich mich neben ihr nieder und legte behutsam einen Arm um sie. Zunächst wehrte sie sich gegen meinen Trost Versuch, doch ich gab nicht auf und führte ihren Kopf an meine Brust. Sie vergrub ihr Gesicht an meiner Schulter und krallte die Hände fest in mein Hemd. Ihre Tränen durchtränkten meine Schuluniform, während ich ihr beruhigend über die Haare streichelte. „Was ist passiert?" Traute ich mich vorsichtig zu fragen, als ihr Gefühlsausbruch langsam nachließ. Sie richtete sich wieder etwas auf und schüttelte leicht den Kopf, „ich weiß es nicht." Hauchte sie mit dünner Stimme. „Es ist vorbei. Das war alles, was er mir gesagt hat." Fügte sie hinzu und verfiel wieder in ein Schluchzen. Wütend presste ich die Lippen aufeinander. Ich war so sauer auf Tsumu, dass ich ihm am liebsten den Hals umgedreht hätte. „Samu, es ist wirklich lieb von dir, mich zu trösten, aber...." Sie brach ihren Satz ab, senkte den Blick und verbarg das Gesicht in den Handflächen, „...es tut mir leid, aber ich kann dich im Moment nicht ertragen." Ihre Worte versetzten mir einen Stich mitten ins Herz, aber ich verstand sie. Alles an mir musste sie an Atsumu erinnern. Meine Hände, die sie aufmunternd streichelten, mein Geruch, sogar mein Gesicht. Trotzdem tat es weh, so offensichtlich von ihr abgewiesen zu werden. Mit einem traurigen Lächeln drückte ich sie noch einmal an mich und legte zärtlich die Lippen auf ihren Scheitel, „ok, aber ich will nicht, dass du hier alleine weinst." Beim Aufstehen vermied ich es, sie anzusehen, „ich schicke gleich deine Freundin aus dem Kochclub zu dir."
Nachdem ich dem Mädchen Bescheid gegeben hatte und mich vergewisserte, dass sie zu Hitomi ging, stapfte ich wutentbrannt zur Sporthalle. Das Training war schon fast vorbei, als ich die Tür mit Wucht aufstieß, sodass diese mit einem lauten Knall auf flog. Alle Blicke richteten sich auf mich. „Du bist ganz schön spät." Merkte Suna an. Ohne die anderen zu beachten, stürmte ich auf meinen Bruder zu, je näher ich ihm kam, desto schneller wurde ich. Als ich ihn erreichte, riss ich ihn mit mir zu Boden, beschimpfte ihn und schlug mit der Faust auf ihn ein, bis unsere Teamkameraden uns trennten. „Bist du verrückt geworden Mann?" Fuhr er mich fassungslos an, als er wieder zu Atem kam. Ich war fast froh, dass die anderen mich zurück hielten, sonst würde ich ihn womöglich totschlagen, denn ich kochte innerlich vor Zorn. So fest ich konnte, biss ich mir auf die Unterlippe. Ich schmeckte das Blut auf der Zunge, als ich den Blick senkte: „Sag mir warum?" Brüllte ich verzweifelt und voller Wut. „Warum hast du mit Hitomi Schluss gemacht?" Tsumu verzog genervt das Gesicht und rieb sich über die Wange, die ich zuvor mehrfach malträtiert hatte. „Was? Hast du nen Knall? Du verprügelst mich weil ich mich von meiner Freundin getrennt habe?" Die Gleichgültigkeit, mit der er das sagte, machte mich sprachlos, „wieso?" Fragte ich erneut und ließ den Kopf hängen. Tsumu schnaubte verächtlich, „das geht dich einen Scheiß an..." „Das reicht!" Unterbrach uns Kita und verschränkte wütend die Arme vor der Brust, „wir haben bald ein wichtiges Spiel, also reißt euch gefälligst zusammen!"
Den anderen zur Liebe hatte ich meinen Ärger heruntergeschluckt und zu Hause erneut das Gespräch mit Tsumu gesucht, doch er blieb hartnäckig, einen triftigen Grund für das, was er getan hatte, wollte er mir nicht nennen. Im Laufe des Tages gerieten wir immer wieder aneinander, sodass wir am nächsten Tag beide mit geschundenen Gesichtern im Klassenzimmer saßen und beleidigt aufeinander in eine andere Richtung guckten. Als Hitomi ebenfalls den Raum betrat, war die Luft so dick, dass einem das Atmen schwer zu fallen schien. Sie wirkte immer noch niedergeschlagen und wahrte offensichtlich die Distanz zu uns. Das sonst immer fröhliche Lächeln war aus ihrem Gesicht verschwunden. Stattdessen zeichneten dunkle Schatten ihre müden Augen. Im Unterricht schaffte ich es kaum, mich zu konzentrieren und es ging nicht nur mir so, Tsumu spielte gelangweilt mit seinem Stift und sah die ganze Zeit aus dem Fenster, während Hitomi geistesabwesend auf ihrem Block herum kritzelte.
Das Läuten der Schulglocke, zur Pause, war eine Erleichterung. Hastig verstaute ich meine Sachen, um schnellstmöglich zu verschwinden. Als das letzte Buch in meine Tasche rutschte, wäre ich vor Überraschung fast vom Stuhl gefallen, als ich aufblickte und Hitomi vor mir stand, die sich angespannt an den Haaren spielte. In dem Moment passierte etwas mit mir, das ich schon seit langem in ihrer Gegenwart unterdrückt hatte. Die Röte stieg mir ins Gesicht und ich wurde nervös, „erschreck mich doch nicht so." Platzte es aus mir heraus, um möglichst normal zu wirken. „Dein Gesicht" merkte sie an und wich meinem Blick aus, „hast du dich mit Tsumu geprügelt? Meinetwegen?" Verlegen kratzte ich mich am Hinterkopf, „Ja, ich war echt sauer, weil er auf so miese Weise mit dir Schluss gemacht hat." Ein Hauch von einem Lächeln schlich sich auf ihre Lippen, „Danke Samu, aber ich möchte nicht, dass ihr euch wegen mir streitet. So ist das nun mal, nicht jede Beziehung hält ewig. Damit muss ich mich abfinden, ich werde schon drüber hinweg kommen." Sie ließ mir keine Zeit zum Antworten, denn Hitomi nahm meine Hand und zog mich hinter sich her zum Krankenzimmer. Dort platzierte sie mich auf dem Stuhl und nahm einen Tupfer, um Desinfektionsmittel darauf zu kippen. Brutal drückte sie ihn auf meine Wunden, was mich schmerzerfüllt aufschreien ließ, „willst du mich umbringen?" Brüllte ich, „verwechselst du da was? Tsumu hat dich verlassen, ich war derjenige, der dich getröstet hat." Meine Qual schien sie zu amüsieren, denn sie kicherte schadenfroh, während sie mir die getränkte Watte auf den nächsten Kratzer presste. Verzweifelt versuchte ich mich gegen ihren gnadenlosen Angriff zu wehren, doch sie ließ keinen Widerstand zu. Während wir miteinander um die Oberhand rangelten kammen wir uns im Eifer des gefechtes körperlich sehr nah.
Als die Tür des Krankenzimmers sich öffnete, hielten wir beide augenblicklich in unserer Bewegung inne. Hitomi hatte ein Knie neben mir platziert und saß schon fast auf meinem Schoß, um mir den Fluchtweg abzuschneiden. Allgemein musste unsere Position für Außenstehende ziemlich anzüglich aussehen. Zu allem Überfluss war es mein Bruder, der im Türrahmen stand und uns verdrießlich musterte. Ich konnte ihm ansehen, wie schlagartig seine Stimmung kippte und er übellauniger wurde. „Sorry, wenn ich euch bei irgendwas störe." Zischte er gereizt und knallte die Tür wieder hinter sich zu.
Niedergeschlagen ließ Hitomi von mir ab, „Entschuldige. Aber du solltest dich um deine Verletzungen kümmern, bevor sie sich entzünden." Sagte sie reserviert und drückte mir das Desinfektionsmittel in die Hand. „Ich geh besser" fügte sie noch hinzu und verschwand in den Flur.
Zu Anfang hatte ich mich noch um einen normalen Umgang mit ihr bemüht, auch wenn zwischen ihr und Tsumu vollkommene Funkstille herrschte. Aber ich merkte schnell, dass sie sich auch von mir immer weiter distanziert hat. Bis zu unserem Abschluss hatten wir kaum noch Kontakt zueinander, trotzdem sie mich zunehmend mied änderte sich nichts an meinen Gefühlen für sie und auch Jahre später, nachdem wir uns schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen hatten, war es immer noch Hitomi der mein Herz gehörte.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro