II. invidia
Eine Woche nachdem Jim in sein neues Zuhause eingezogen war, hatte er wieder diesen Traum.
Er besaß weder Handlung noch Sinn, noch bestand er aus mehr als aus Eindrücken, die wie ein Hagelsturm auf Jim niederprasselten. Diese Eindrücke waren Farben; Farben, die Jim eigentlich nicht sehen konnte.
Seit seiner Geburt schon war er farbenblind und er war damit aufgewachsen und kannte keine andere Welt als die graue, in der er lebte. Durch eine grausame Fügung des Schicksals war es ihm jedoch noch möglich, kurzwelliges Licht zu erkennen und, hatte er es anfangs noch als Geschenk empfunden, dadurch zumindest Blautöne - den Himmel, das Meer, Jeans - zu sehen, war es mittlerweile beinahe wie Folter, weil es Jim einen Blick durch das Schlüsselloch gewährte, in die Welt, aus der er selbst ausgesperrt war. Eine Welt voller Farbe, voller Leben und Bewegung. Es wäre leichter für ihn, wäre einfach alles schwarz und weiß und grau, denn dann würde er nichts vermissen, das er nicht haben konnte.
Und trotz dessen, dass das Blau ihn verspottete, konnte er nie aufhören, es zu betrachten. Weil es alles war, was Jim bekommen würde, weil er sich damit zufrieden geben musste.
Was er manchmal tat. Viel öfter aber träumte er von all der Buntheit, die man ihm genommen hatte, ohne, dass er sie je besessen hatte. Natürlich sah er keine wirklichen Farben, denn egal, wie oft er versucht hatte, sie sich vorzustellen, er hatte sie eben doch nie gesehen. Als Jim klein gewesen war, hatte seine Mutter versucht, ihm die Farben, die sie sehen konnte, zu beschreiben. Schnell war sie jedoch an ihre Grenzen gelangt, als sie versucht hatte, ihm die Farbe Rot mit dem Adjektiv rot zu beschreiben. Danach hatte sie es einige Tage lang darauf beruhen lassen und war dann irgendwann wieder auf ihn zugekommen, nachdem sie einen Ratgeber für Eltern von blinden Kindern gelesen hatte, in dem es gehießen hatte, man könne diesen Farben am besten mit Sinneseindrücken, die sie bereits kannten, erklären. Grün war das kühle Gras, der glitschige Frosch im Garten, die scharfe Pfefferminze. Rot war die Wärme einer Kerze, die Hitze in den Wangen, der Geschmack von warmen Traubensaft. So hatte seine Mutter ihm die Farben einen ganzen Tag lang erklärt, immer wieder waren ihr neue Beschreibungen eingefallen (das war damals gewesen, als sie noch Zeit für ihren Sohn gehabt hatte). Und Jim hatte zugehört, hatte die Farbbegriffe den ihm bereits bekannten Wahrnehmungen zugeordnet, hatte versucht, Farbe ans Innere seines Verstandes zu projizieren.
Aber Jim war nicht blind, nicht vollständig, er konnte sehen (verschwommen und nicht weit, aber er konnte es). Manchmal dachte er, dass er lieber wirklich blind wäre, weil dann seine anderen Sinne geschärft wären. So aber konnte er die Zitrone in die Hand nehmen, sie berühren, schmecken und sehen - und wusste doch nicht, wie sie aussah.
Dennoch, die Beschreibungen seiner Mutter begleiteten ihn oft in den Schlaf. Und dann träumte er von all den Farben, die er sich nicht vorstellen konnte und obwohl es niemals genug war, kam es ihm im Traum vor, als wäre die Welt tatsächlich nicht mehr grau-blau. Aber dann wachte er auf und alles, was blieb, war der Geschmack nach Minze und die Wärme der Kerzen und die weiche, punktierte Schale einer Zitrone.
In dieser Nacht wurde er ruckartig aus ebendiesem immer gleichen Traum gerissen. Einen Moment konnte er nicht sagen, was es war, das ihn geweckt hatte, aber dann hörte er, fern und leise, eine schrille Stimme.
Blinzelnd setzte er sich auf und tastete auf dem kleinen Nachttischchen neben seinem Bett nach seiner Brille. Die half aber auch nicht viel in der Dunkelheit, also schaltete Jim zusätzlich seine Lichterkette an und stolperte in dem kühlen Licht zur Tür.
Auf dem Flur konnte er das Geschrei bereits deutlich lauter hören - und das war es: Geschrei. Eine Person, der Stimmhöhe nach eine Frau, schrie irgendjemanden an.
Jim folgte dem Lärm durch das Wohnzimmer, in der die Stehlampe eingeschalten war und Jims müde Augen sogleich attackierte, und in den kurzen Flur bis vor die Haustür, vor der seine Mutter bereits in ihrem Nachthemd stand, die Lippen verärgert zusammengekniffen und mit einem Ohr an der Tür.
„Das kann doch nicht sein!", zischte seine Mutter, als er sich zu ihr stellte und ebenfalls lauschte. Als könnte sie jemand hören, obwohl das Geschrei so dumpf war, dass es vermutlich nicht einmal von ihrem Stockwerk kam. „Müssen die sich wirklich um halb drei Uhr nachts streiten?! Manche Leute brauchen ihren Schlaf!"
Sie hatte Jim von einem wichtigen Meeting am nächsten Tag, Donnerstag, erzählt und Jim wusste, wie ernst ihr ihre Arbeit war, weshalb es ihn nicht überraschte, als sie entschlossen nach ihren Mantel griff und sich darin einwickelte: „Ich geh da jetzt für Ruhe sorgen, das geht echt gar nicht!"
Jim lehnte sich an die Wand neben der Tür und beobachtete stumm, wie seine Mutter die Tür aufschloss und wenig später hinaus auf den Flur und die Treppen hinunter rauschte.
In seinem Kopf schwirrten die Farben noch immer umher. Er wünschte sich nur, es wären wirklich Farben und nicht nur Fantasien.
Das Geschrei vertrieb die letzten Überbleibsel seines Traumes aus seinem Verstand. Dann hörte Jim ein lautes, entschlossenes Klopfen, das in der sonstigen Totenstille der Nacht im ganzen Haus nachhallte und vermutlich von seiner Mutter stammte. Die Frau hörte auf zu krakeeln und kurz darauf hallten leisere Stimmen im Flur nach.
Jim lehnte seinen Kopf ebenfalls gegen die Wand und starrte in den dunklen Flur, bis seine Mutter zurückkehrte und, obwohl sie ziemlich selbstzufrieden wirkte, die Tür etwas zu heftig hinter sich schloss und kopfschüttelnd berichtete: „Also wirklich, was für eine dämliche Kuh, diese Ms Moran. Und dazu hat sie ihre Kinder nicht unter Kontrolle."
Sie richtete ihren Blick auf Jim und schien sich sogleich in ihren Erziehungsmethoden herausgefordert zu fühlen: „Geh wieder schlafen, Schatz, du brauchst deine Ruhe. Und deine Augen auch."
Jim verdrehte ebenjene Augen, wandte sich aber ohne weitere Proteste ab. Seine Mutter hielt ihn jedoch noch einmal zurück: „Apropos Augen: Vergiss nicht, dass du heute einen Termin beim Arzt hast. Verpass den bloß nicht."
„Werd' ich nicht", grummelte Jim und verzog sich zurück in sein Zimmer. Statt sich jedoch sogleich wieder schlafen zu legen, setzte er sich, nachdem er die Tür hinter sich geschlossen und seine Brille abgesetzt hatte, auf sein Bett und starrte zu der neonblauen Lichterkette über seinem Kopf auf.
Schnell wurde seine Postition aber unbequem und er legte sich doch hin und musterte stattdessen das verschwommene Mobiliar in seinem Zimmer. Er fragte sich wirklich, wie Menschen, die Farben sehen konnten, die Nacht ertrugen. Wie sie es ertrugen, dass diese all die Farben verschlang. Wie konnten sie sie gehen lassen?
Ihm selbst würden immer nur Farbträume ohne Farben bleiben.
Jim biss sich auf die Lippe und schloss die Augen. Er sollte nicht immer zu sehr darüber nachdenken, es würde ja doch nichts an allem ändern.
●
Auf dem Weg zurück vom Augenarzt nach Hause verdunkelte der Himmel sich und kündigte weiteren Regen an. Jim schlürfte an seinem Bubble Tea und warf den grauen Wolkengebilden über sich mäßig interessierte Blicke zu.
In Liverpool schien es tatsächlich nur zu regnen; er hatte gedacht, das wäre übertrieben, da es in seiner Zeit in London ebenfalls nie so häufig geregnet hatte, wie gemeinhin immer behauptet wurde. Aber über Liverpool klatschten sich die Gewitterfronten wie beim Staffellauf ab.
Über dem Wohnhaus, in dem ihre Wohnung lag, war der Himmel noch halbwegs blau, weshalb Jim beschloss, noch einmal aufs Dach zu gehen und ihn sich anzusehen, bevor es zu regnen anfing. Nicht, weil er das Blau des Himmels tatsächlich so außergewöhnlich schön fand (im Gegenteil, heute wirkte es sogar als Farbe recht farblos), aber weil es ihm helfen würde, zumindest einen Teil seines Traumes dieser Nacht wiederzuerleben. Vielleicht würde es ihn etwas daran erinnern können. (Obwohl Jim sich nicht sicher war, ob ihm das gut tat.)
Mit den Schlüsseln klimpernd und weiterhin an dem Strohhalm im süßen Getränk ziehend, erklomm er die Treppen und marschierte dann zielstrebig auf die Metalltür am Ende des oberen Geschosses zu, welche er etwas zu schwungvoll aufstieß.
Es war kälter heute, aber Jim hatte sich aus Kälte noch nie viel gemacht. Er fand sie irgendwie belebend.
Er kaute auf seinem Strohhalm und stieg auch die letzte Treppe aufs Dach hinauf. Kaum war er jedoch oben angekommen, wo die äußere Tür wie bisher immer offen stand, erstarrte er und blickte ungläubig die Gestalt an, die zusammengekauert an der Dachmauer lehnte, eine Kapuze über den Kopf gezogen und in ein Buch vertieft.
Das darf doch wirklich nicht wahr sein; hat dieser Typ denn nichts anderes zu tun?!
Er wusste gar nicht, woran er Sebastian erkannte, denn der hatte sich seine Kapuze tief ins Gesicht gezogen und den Rest verdeckten seine Knie und das Buch, welches er auf diesem balancierte. Vielleicht erkannte er ihn, weil er niemanden sonst aus diesem Haus bisher hier oben angetroffen hatte oder vielleicht, weil Sebastian diese bestimmte Körperhaltung hatte: zurückhaltend, aber fordernd. Als wollte er niemanden belästigen und doch alles über jemanden in Erfahrung bringen.
Jim näherte sich Sebastian, aber der bemerkte ihn gar nicht, also schlürfte Jim übertrieben laut den letzten Rest seines Bubble Teas, woraufhin Sebastian leicht zusammenfuhr und dann überrascht zu Jim aufblickte: „Oh, hey."
„Hi."
„Müsstest du nicht in der Schule sein?"
„Und du?", entgegnete Jim lediglich. Er selbst bekam Privatunterricht (etwas anderes wäre bei diesem Lebensstil, zu dem seine Mutter ihn geradezu zwang, unmöglich), aber es war kurz vor ein Uhr an einem Donnerstag und das bedeutete, dass Sebastian in der Schule sein müsste, was er, erkennbar an seiner Frage, auch wusste.
„Ich hab vier Freistunden." Sebastian zuckte mit den Schultern. „Ich darf später noch einmal für ganze zwei Stunden in der Schule antanzen."
„Ätzend." Jim wusste nicht genau, was er mit sich anfangen sollte und war dementsprechend froh, als Sebastian auffordernd neben sich deutete. Also ließ Jim sich - mit gebührendem Abstand, denn immerhin kannte er den Typen kaum - neben Sebastian nieder und stellte seinen leeren Getränkebecher vor sich ab.
Kurz schwiegen sie und Sebastian kratzte sich verlegen am Kopf - oder viel mehr an seiner Kapuze. Als er Jims Blick auf seine Kopfbedeckung sah, lief er aus einem Jim unerfindlichen Grund rot an. Jim hob die Augenbrauen. Über Sebastians Gesicht huschte ein unsicheres Lächeln, dann zog er zögerlich die Kapuze herunter.
Was darunter hervorkam, war ein Warnsignal in Blau. Jims Augen weiteten sich überrascht.
„Ich weiß", stöhnte Sebastian und fuhr sich durch die strahlend hellblau gefärbten Haare. „Ich wollte nur etwas Neues ausprobieren und jetzt geht es einfach nicht mehr raus."
Jims Mundwinkel zuckten und gleichzeitig konnte er den Blick kaum von Sebastians Haaren lösen. „Steht dir besser als das vorher."
Sebastian lachte kurz auf und wuschelte sich erneut durch die Haare, dass die noch katastrophaler in alle Richtungen abstanden. „Danke", murmelte er verlegen. Er klopfte sich nervös mit seinem Buch auf das Knie und Jim erhaschte einen kurzen Blick auf den Titel: The Catcher in The Rye.
„Das hab ich auch gelesen", sagte Jim, um diese seltsame Spannung zwischen ihnen zu durchtrennen. „Wie findest du es?"
Sebastian sah auf das Buch, als müsste er sich selbst in Erinnerung rufen, was er da gerade las. „Oh. Naja, ich bin noch nicht durch." Er warf Jim einen kurzen Seitenblick zu und starrte dann wieder auf das Buch. „Ich kann immer noch nicht sagen, ob ich die Hauptfigur mag oder nicht."
„Das könnte ich dir immer noch nicht beantworten und ich habe es schon dreimal gelesen", stimmte Jim nickend zu.
„Naja, er scheint jedenfalls genauso viele Fehlentscheidungen wie ich zu treffen."
Jim legte den Kopf schief und sah Sebastian von der Seite an (das Blau seiner Haare stach ihm in den Augen - aber nicht auf negative Weise). „Ist das so?"
„Mhm", machte Sebastian nur und entweder war er heute nicht sonderlich gesprächig oder wollte nicht weiter darauf eingehen. Oder vielleicht war Jim auch einfach ein schlechter Gesprächspartner.
Aufbauend auf die zweite Vermutung wechselte Jim das Thema zu dem ersten Ereignis, das ihm in den Sinn kam: „Hast du das Geschrei diese Nacht auch gehört? Hat mich total aus dem Schlaf gerissen." Er zog leicht die Brauen zusammen und blickte in den stetig dunkler werdenden Himmel. „Kommt das hier öfter vor? Es klang ja fast so, als würde eine Furie über jemanden herfallen." Was vielleicht etwas übertrieben war, oder auch nicht, bedachte man, dass Jim den Streit noch einen Stockwerk höher hatte hören können.
Er wandte sich zur Seite und wusste sofort, dass er etwas Falsches gesagt hatte. Sebastian starrte düster auf seine Schuhspitzen und krallte sich etwas zu fest an sein Buch.
Jim schlug sich innerlich gegen die Stirn. „Oh, das war... "
„Meine Mutter." Sebastian nickte grimmig. Leise, sodass Jim ihn kaum verstand, erklärte er: „Ihr hat meine neue Haarfarbe nicht so gut gefallen wie dir."
Jim öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber ehe ihm einfiel, was er hätte sagen können, erhob Sebastian sich auch schon, beinahe ruckartig. „Entschuldige mich. Aber ich sollte jetzt langsam wirklich zurück zur Schule."
Er warf Jim ein kurzes, gezwungenes Lächeln zu und verschwand dann beinahe fluchtartig vom Dach.
Jim schaute ihm nach und sein Blick haftete an dem Blau seiner Haare, so kräftig und satt, wie Blautöne nie in der Natur vorkamen. Ein wenig erinnerte es Jim an die Neonlichter in seinem Zimmer, nur nicht so kühl, nur lebendiger.
Er blickte Sebastian nach und irgendwie, auf eine verdrehte Art und Weise, war er froh, weil er jetzt wusste, dass, sollte er Sebastian noch einmal begegnen, die Welt dann nicht mehr ganz so farblos wäre.
●
Jim versuchte mit einem Buch darüber hinwegzutäuschen, dass er erneut nicht schlafen konnte. Dieses Mal war es nicht mehr die fehlende Eingewöhnung, die seine Müdigkeit zurückhielt; Jim wusste nicht, woran es lag. Vielleicht daran, dass sein Tag schon jetzt aus den immer gleichen Routinen bestand und er sich langweilte und kaum etwas tat und sein täglicher Energieverbrauch lächerlich war.
Ergeben schlug Jim das Buch zu - er hatte es sowieso schon zu oft gelesen. Durch sein Fenster fiel das schale Mondlicht direkt in seinen Schoß und Jim blickte kurz nachdenklich in den Nachthimmel, ehe er einen Entschluss fasste und sich aus seinem Bett wühlte. Seine Jacke lag noch auf dem Stuhl vor dem ungenutzten Schreibtisch. Er schnappte sie sich und öffnete anschließend leise seine Zimmertür. In der Wohnung herrschte geisterhafte Stille; seine Mutter schlief bereits lang tief und fest.
Jim schlich mit angehaltenem Atem durch die Wohnung - wenn seine Mutter nicht gerade Rotwein intus hatte, hatte sie einen sehr leichten Schlaf - und zur Haustür, schnappte sich den Schlüssel und schloss die Tür ebenso leise auf.
Erst als er die Tür langsam zugezogen und kurz innegehalten und gelauscht hatte und seine Mutter die Tür nicht wieder aufgerissen und ihn am Kragen zurück in die Wohnung gezogen hatte, wagte Jim es, sich umzuwenden und schritt, weiterhin darauf bedacht, keine Geräusche zu verursachen, den Flur hinunter zum Dacheingang.
Er musste zugeben, dass dieser Zugang zu einem beinahe privaten Ort an der frischen Luft ein großer Vorteil war zu anderen Wohnungen, in denen er bisher gelebt hatte. Natürlich, es hatte immer einen Balkon, eine Terasse oder sogar einen kleinen Garten gegeben, aber da hatte man ihn eben sehen können und manchmal, da gefiel es Jim, einfach kurz von der Bildfläche zu verschwinden und für sich zu sein.
Völlig für sich konnte er aber offenbar auch nicht in Liverpool sein. Dieses Mal war er nicht überrascht, als er Sebastian auf dem Dach liegen sah, unter sich eine Decke und das Gesicht nach oben zu den Sternen gerichtet. Einen Moment dachte Jim, Sebastian würde wieder schlafen, aber da drehte der Junge sich beim Klang von Jims Schritten herum und stützte sich leicht auf, wobei ihm das Mondlicht direkt auf den Kopf fiel und seine blauen Haare erstrahlen ließ. Jims Blick wanderte wie automatisch zu ihnen.
„Hey", begrüßte Sebastian ihn und Jim fiel ein, dass er das vielleicht auch schon hätte tun sollen.
Er nickte Sebastian zu und blickte um sich, damit er Sebastians Haare nicht zu auffällig anstarrte. „Bist du eigentlich jede Nacht hier?"
Sein Blick fand wieder zurück zu Sebastian, der, als hätte er Jims Gedanken vernommen, mit den Fingern seine Haare zurückstrich. Dann hob er, etwas verlegen, die Schulter. „So gut wie. Schlafstörungen", erklärte er.
„Ah." Himmel, war es ihm schon immer so schwer gefallen, einfachste Gespräche zu führen und auch einmal intelligente Antworten zu geben? (Wenn er es sich recht überlegte, redete er immer mit den gleichen Leuten und bemühte sich nie wirklich um Konversation mit anderen, aber da er Sebastian andauernd über dem Weg lief, fühlte er sich irgendwie verpflichtet.)
„Willst du dich setzen?" Sebastian rutschte etwas auf seiner Decke beiseite und klopfte neben sich. Jim zögerte, was Sebastian ein Schmunzeln entlockte: „Ich beiße auch nicht, versprochen."
Jim schnaufte. „Ich weiß, nur..." Nur was?
Sebastian hob eine Augenbraue und ohne ein weiteres Wort setzte Jim sich kurzentschlossen zu ihm.
Danach schwiegen sie. Sebastian richtete den Blick wieder zu den Sternen und Jim tat es ihm einfach gleich, während er seine Hände nervös in seinem Schoß knetete und Sebastian aus dem Augenwinkel immer wieder kurz ansah. Verdammt, er hatte wirklich verlernt, mit anderen Menschen umzugehen.
„Weißt du, irgendwie mochte ich die Nacht schon immer lieber als den Tag." Sebastian schaute zu Jim herüber und lächelte kurz, als ihre Blicke sich begegneten, woraufhin Jim den seinen schnell wieder senkte.
Er ließ sich Sebastians Worte durch den Kopf gehen und fühlte sich sofort an seine Gedanken aus der vergangenen Nacht erinnert: Wie Farbsehende die Nacht ertrugen. So ganz konnte er Sebastians Empfinden also nicht nachvollziehen. Er schüttelte leicht den Kopf, spürte brennend, dass Sebastian ihn noch immer beobachtete. „Wieso? In der Nacht ist alles so dunkel. Die Welt verschwindet."
„Stimmt." Sebastian atmete leise durch. „Vielleicht ist das der Grund, wieso ich sie so mag."
Jim starrte auf die Fransen der weichen Decke, auf der er saß und die in der Dunkelheit etwas vor seinen Augen verschwamm. Er versuchte, aus Sebastians Antwort schlau zu werden und gleichzeitig fühlte er eine Art Stich, weil Menschen, die Farben sehen, dies nie wertzuschätzen scheinen. Er fragte sich, ob er ebenso wäre, wäre ihm dies schon immer möglich gewesen, ob er auch so ignorant wäre. Vermutlich schon. Vermutlich würde er es nicht als Ignoranz, sondern als Gewohnheit betrachten, vermutlich wäre es ihm irgendwann egal, dass Minze grün und Hitze rot und die Zitrone gelb ist. Dass Sebastians Haare nun in diesem grellen Blau gefärbt waren, das in Jims Gehirn eine Art Kitzeln auslöste, das er nicht kannte, das neu war, an das er sich nie gewöhnen würde oder wollte.
Würde er das alles als gewöhnlich wahrnehmen, würde er dann das Farblose auch den Farben vorziehen, so wie Sebastian?
„Ich wusste nicht, dass du auch andere Brillen als Sonnenbrillen trägst", riss Sebastian ihn aus seinen sich im Kreis drehenden Gedanken. Jim blinzelte und blickte zu Sebastian, der ihn angrinste, dass seine Zähne in der Dunkelheit aufblitzten.
Jim fasste sich ins Gesicht und bemerkte, dass er tatsächlich seine Brille trug; das hatte er vollkommen vergessen. „Ich habe nicht gerade Adleraugen", gab er zu. „Meine Sonnebrille ist auch mit Stärke, sonst würde ich alles nur ziemlich verschwommen sehen."
„Kurzsichtig?"
Jim brummte zustimmend. Er setzte an, das Thema zu wechseln (denn wenn er etwas hasste, war es, immerzu über seine verkorkste Sicht auf alles zu reden), aber da zuckte Sebastians Arm plötzlich vor und klaubte ihm die Brille von der Nase. „Hey!", protestierte Jim. Er griff nach seiner Brille in Sebastians Hand, aber der wich lachend etwas zurück und setzte sie sich selbst auf. Kurz darauf wurden seine Augen groß:
„Mann, du bist echt blind!" Sebastian lachte erneut auf. „Davon bekomme ich ja Kopfschmerzen!"
„Deshalb trägst du sie auch nicht!", schnappte Jim gereizt und griff erneut nach seiner Brille, doch dieses Mal sprang Sebastian auf, direkt in den Mondschein, den er als Scheinwerferlicht für seine Performance nutzte: Heftig blinzelnd streckte er die Arme von sich und tat dann einige schwankende Schritte, als wäre er bei unruhiger See auf dem Deck eines Schiffs.
„Mir wird so schwindlig!" Sebastian vollführte eine Drehung, als würde er sogleich zu Boden sinken, fing sich jedoch in letzter Sekunde und machte eine Verbeugung in Richtung Jim. Seine blauen Haare fielen ihm in die Augen.
Jim verdrehte seine eigenen: „Dann setz sie doch ab, du Idiot."
Sebastian hielt sich eine Hand hinter das Ohr: „Wie bitte? Ich kann so schlecht sehen, dass ich dich nicht höre."
Vergeblich versuchte Jim, eine neutrale Miene zu bewahren, musste über Sebastians Albernheit aber dann doch irgendwie lachen.
Weiterhin leicht schwankend näherte Sebastian sich wieder der Decke und ließ sich dann darauf plumpsen, wobei er Jim wieder angrinste. „Du kannst ja doch noch was anderes, als grimmig gucken, Jim."
Das wischte Jim das Grinsen sogleich aus dem Gesicht. Er griff schnell seine Brille aus Sebastians Gesicht, bevor der erneut ausweichen konnte, und setzte sie sich selbst wieder auf. „Kann ich wohl."
Sebastian streckte die Beine aus - er hatte beinahe übertrieben lange Beine - und stieß Jim mit der Schulter an, wie schon vor einer Woche. Dieses Mal konnte Jim sich vom Zusammenzucken abhalten. „Nun sei nicht beleidigt."
„Bin ich nicht."
„Gut." Sebastian ließ sich wieder nach hinten sinken, stützte sich jedoch ab, sodass sie noch annähernd auf der gleichen Höhe waren. Und erneut breitete sich Schweigen zwischen ihnen aus und erneut wusste Jim nicht, wie er dieses füllen sollte und ob er das denn überhaupt wollte.
Es wurde mit jeder Minute kälter. Er unterdrückte ein Schaudern und vergrub seine Hände unauffällig in Sebastians Decke. Jim hatte nicht auf die Uhr gesehen, bevor er aufs Dach gekommen war und er konnte nicht einschätzen, wie fern der Sonnenaufgang noch war, aber er meinte, dass der Horizont bereits etwas heller wurde. Hoffentlich würde seine Mutter sein Verschwinden nicht bemerken; dann dürfte er sich etwas anhören.
„Was hast du damit gemeint?" Sebastians Atem bildete kleine Wölkchen vor seinen Lippen, die Jim nur sehen konnte, da seine Augen sich bereits an die Dunkelheit gewöhnt hatten und er im Dunkeln schon immer besser gesehen hatte - was, wo er es sich so durch den Kopf gehen ließ, schon etwas nach Vampir klang. „Letzte Woche", begann Sebastian seine Frage zu erläutern. „Da hast du gesagt, du wärst schon bald wieder weg. Ist das wirklich so?"
„Ja", antwortete Jim und seufzte leicht. „Das hängt mit dem Beruf meiner Mutter zusammen. Sie ist Consultantin in der Wirtschaftsprüfung. Firmen auf der ganzen Welt heuern sie an und da sie es nie zu lang in einer aushält, heißt es andauernd wieder: umziehen."
„Oh", machte Sebastian und Jim war froh, dass er nicht der einzige war, der in dieser Nacht nicht immer geistreiche Antworten gab. „Und... wie lange dauert das normalerweise? Bis sie es nicht mehr aushält, meine ich?"
Jim hob die Schultern und schüttelte den Kopf. „Das ist ziemlich unterschiedlich. Manchmal ein paar Wochen, manchmal ein paar Monate. Nie länger als ein halbes Jahr."
„Und jedes Mal zieht ihr in ein komplett neues Land?"
„Nicht unbedingt. Aber meistens."
„Dich nimmt sie immer mit?"
„Ich bin ihr unfreiwilliges Handgepäck", bestätigte Jim. Sebastian (oder er selbst) hatte einen Fingerabdruck auf dem Glas seiner Brille hinterlassen; Jim setzte sie ab und begann, sie zu säubern.
„Dann musst du schon echt viel rumgekommen sein." Sebastian klang so beeindruckt, als hätte Jim diese Strecken jedes Mal zu Fuß hinter sich gebracht.
„Ich war schon auf sechs von sieben Kontinenten", erklärte er, woraufhin Sebastian ihn begeistert anstarrte. „Aber gäbe es genügend Firmen dort, hätte sicher auch schon eine Firma in der Antarktis um meine Mutter geworben."
„Das ist so cool", befand Sebastian, die Stimme aufgeregt wie die eines kleinen Kindes. „Du hast schon jetzt fast die ganze Welt gesehen."
„Hm." Jim musste zugeben, dass es wirklich spannend war, all diese verschiedenen Orte und Kulturen zu sehen, aber das hieß nicht, dass er sich damit wohlfühlte. Wenn er auf sein bisheriges Leben zurückblickte, hatte er das Gefühl, jeden Tag in einem anderen Bett aufgewacht zu sein, nie zu Atem gekommen zu sein, nie irgendwo angekommen.
„Wie viele Sprachen sprichst du?", wollte Sebastian wissen; er hatte sich wieder gerade aufgesetzt und blickte Jim von der Seite an, aber der beobachtete seine Hände dabei, wie sie Fussel von der Decke zupften.
„Flüssig? Englisch und Gälisch. Die Zeit reicht nie wirklich aus, damit ich andere Sprachen wirklich gut lerne. Ich kann tausende Bruchstücke verschiedener Sprachen, aber das hilft mir bei Gesprächen wenig weiter."
„Ich spreche nur Englisch", sagte Sebastian grinsend. „Englisch und Fantasie-Französisch, mit dem ich mich irgendwie durch die Arbeiten in der Schule schummle."
Jims Mundwinkel zuckten, weil das irgendwie zu Sebastian passte. Er wirkte nicht wie jemand, der zu Hause saß und sich bemühte, eine Sprache zu lernen, indem er Vokabeln büffelte und Grammatik zu verstehen versuchte.
„Was war dein kürzester Aufenthalt in einem Land?", lenkte Sebastian das Thema zurück auf Jim und der brauchte gar nicht lang zu überlegen:
„Australien. Da waren wir drei Tage und dann saß eines Morgen eine Tarantula in unserem Waschbecken und da hat meine Mutter gekündigt und ist quasi über das Wasser zurück nach Europa gerannt."
Sebastian lachte und sah in den Himmel - der tatsächlich immer heller wurde - auf, als würde er sich das vorstellen. Irgendwann ließ sein Lachen nach und er schien darüber nachzudenken, was er noch von Jim wissen wollte. Schließlich, nach einer kurzen Stille, fragte er: „Wo hat es dir am besten gefallen?"
Mit dieser Frage hatte Jim nicht gerechnet; vor allem, da er nie richtig darüber nachgedacht hatte. Er lebte an einem Ort, dann tat er das nicht mehr und es brachte nichts, sich zurückzusehnen, weil seine Mutter bisher nie an den genau gleichen Ort zurückgekehrt war und es somit für Jim logisch war, dass dieser Abschnitt, diese Szene seines Lebens abgeschlossen war und ein neuer begonnen hatte. Er hatte immerhin keine Wahl. Sonst hätte er immer Fern- oder vielleicht sogar Heimweh nach einem Ort, der unerreichbar für ihn geworden war.
Jim schluckte und ging in seinem Kopf all die Länder und Städte durch, in denen er sich bisher aufgehalten hatte. Erstaunlicherweise musste er doch nicht sehr lang überlegen. Ehe er sich selbst darüber im Klaren war, antwortete er Sebastian mit gesenkter Stimme, als gälte es, ein Geheimnis zu wahren: „Bevor meine Mutter mit dieser Weltreise angefangen hat, haben wir acht Jahre lang in Irland gelebt. Wir hatten dort ein kleines Haus in einem Dorf, dessen Name so lang war, dass ich mich nicht einmal mehr daran erinnere. Überall um uns gab es nur Hügel und Flüsse und ohne Auto warst du aufgeschmissen, da du dann keine Möglichkeit hattest, zur Außenwelt vorzudringen." Jim bemerkte, dass sich ein winziges Lächeln auf seine Lippen geschlichen hatte. „Es war wunderbar."
„Ich sehe, du bist eher ein Eigenbrödler." Sebastian lächelte ihm, trotz seiner spöttischen Bemerkung, freundlich zu.
Jim machte eine wegwerfende Handbewegung. „Da ist sogar was dran. Ich kann Großstädte eigentlich nicht leiden. Vor allem nicht die Menschen dort."
„Autsch." Sebastian fasste sich getroffen an die Brust, aber Jim ignorierte ihn.
„Obwohl ich sagen muss, dass mir London gut gefallen hat. Nach Irland war das wohl mein Lieblingsort." Jim kramte in seinen Erinnerungen nach einem seiner liebsten Abenden: „Wir waren dort im Winter, für drei oder vier Monate. An Sylvester konnten wir von unserem Balkon direkt auf das London Eye gucken, das in dem strahlendsten Blau, das du dir vorstellen kannst, angeleuchtet wurde." Er warf Sebastian, der ihm genau zuhörte, einen kurzen Seitenblick zu und hob einen Mundwinkel: „So ähnlich wie dein Haar." Sebastian strich sich einige Strähnen beiseite. „Die Lichter der größeren Gebäude waren ausgeschalten worden, damit das Feuerwerk besser zu sehen sein würde und da war nur das blaue London Eye."
„Das muss wirklich schön gewesen sein", sagte Sebastian.
Es war nicht nur schön gewesen, sondern auch wie ein Segen. Jim erinnerte sich noch immer so klar an diese Nacht, in der alles dunkel gewesen war, bis auf das blaue Leuchten. In der jeder Mensch, der zu diesem Zeitpunkt in der Nähe eines der berühmtesten Wahrzeichen Londons gewesen war, die Welt wahrgenommen hatte, wie Jim sie immer wahrnahm - dunkel mit verschiedenen Abstufungen und einem bläulichen Schimmer, der über Allem lag. Für einen Moment hatte Jim wie alle anderen gesehen.
Und dann hatte das Feuerwerk begonnen und den Himmel in Explosionen getaucht, die zu sehen, Jim nicht fähig gewesen war.
Jim atmete tief ein und bemerkte, dass er den Rauch aus seiner Erinerung noch immer in der Nase trug. „Ja", stimmte er Sebatian zu. „Das war es."
●
Aloha-mora! :D
(No, I won't apologise for this)
Wie geht es euch, meine Lieben?
Es ist gerade so viel los in der Welt und ich komme nicht mehr ganz hinterher und diese Geschichte ist nicht nur eine Pause von meinem eigentlichen Projekt, sondern auch von diesem ganzen Stress, der sicher nicht nur mich heimsucht. Hoffentlich hilft sie euch zumindest in kleinem Maße ebenfalls.
Nachdem ich zwei Tage Quarantäne (ja, es waren ganze zwei) hinter mich gebracht habe, melde ich mich mit diesem Kapitel und ihr könnt etwas mehr über Sebastian erfahren. Er hat jetzt blaue Haare! Yesss 🎉
Wie findet ihr es bisher? Was denkt ihr, könnte noch kommen? Was erwartet ihr überhaupt von dieser Geschichte?
Eure Meinungen würden mich sehr interessieren, also, wer sich mitteilen möchte, nur zu :)
Ansonsten wünsche ich noch ein schönes Restwochenende und dass ihr alle gesund bleibt. Wir lesen uns! <3
LG
Tatze.
PS: Still waiting to know who's the new president.
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