I. acedia
Jim wühlte sich lustlos durch seine Umzugskartons und fragte sich, ob das alles überhaupt etwas brachte. Das Zimmer war, bis auf das Bett und den Schrank, vollkommen leer. Leer und unpersönlich und Jim hatte keine große Lust darauf, das zu ändern, denn in ein paar Wochen oder höchstens Monaten würde es erneut so aussehen, wenn seine Mutter beschloss, wieder umzuziehen.
Es war ja nicht so, dass Jim sich daran nicht gewöhnt hätte - niemals zu lange an einem Ort, immer bereit, seine Sachen wieder in Koffern zu verstauen - aber langsam wurde er dieses ganzen Ein- und Auspackens müde. Beinahe wünschte er sich, der Grund für diese häufigen Umzüge wäre nicht der, dass seine Mutter andauernd neue Jobangebote überall auf der Welt annahm. Würde ein Serienkiller sie verfolgen oder wäre seine Mutter insgeheim selbst ein Serienkiller, würde das zumindest etwas Spannung in Jims eintöniges Leben bringen.
Schließlich beschloss Jim, dass das Auspacken noch immer besser war, als diese Kartons überall im Weg stehen zu haben. Gerade, da er die blaue Neon-Lichterkette über seinem Bett an die bereits in die Wand geschlagenen Nägel gehangen hatte, hörte er seine Mutter vom Flur aus nach ihm rufen.
Genervt atmete er durch. Das war ja typisch. Jim hatte gerade auch nur einen zwanzigstündigen Flug und eine Auseinandersetzung mit der Flughafenkontrolle hinter sich gebracht, aber seine Mutter, die bereits vor einigen Tagen vorgereist war, um nötige Vorbereitungen zu treffen, konnte ihm keine ruhige Stunde gönnen, um erst einmal anzukommen.
„Jim!"
Jim warf den Sack mit Kleidung, den er soeben aus einem der Kartons gezogen hatte, auf das Bett. Er riss die Tür auf und stampfte durch den kurzen Flur vorbei am Badezimmer und ins Wohnzimmer, auf dessen Türschwelle seine Mutter stand. Sie trug ihren weißen Mantel mit der übertrieben großen Kapuze, der aussah, als hätten mindestens zwanzig besonders flauschige Hermeline dafür ihr Leben geben müssen (obwohl seine Mutter darauf schwor, dass das alles Kunstpelz war). Ihre Lippen wirkten dunkler und voller als gewöhnlich, was bedeutete, dass sie Lippenstift trug. In ihrer rechten Hand hielt sie ihr Handy, in das sie hineinsprach und welches sie nun an ihre Brust drückte, als sie Jim bemerkte. „Jim", wiederholte sie. „Ich muss nochmal los zu einer Besprechung. Wahrscheinlich wird es spät." Sie wühlte kurz in ihrer endlos tiefen Tasche, zückte ihr Portemonnaie und drückte Jim dann fünfzig Pfund in die Hand. „Fürs Essen. Bestell dir eine Pizza oder so, ja, Schatz?"
Jim rümpfte die Nase. Bevor er etwas sagen konnte, hatte seine Mutter das Handy wieder ans Ohr geführt, winkte ihm noch einmal zu und war kurz darauf aus der Tür heraus.
„Bestell dir doch selbst eine Pizza", murmelte er, warf das Geld auf den kleinen Glastisch im Wohnzimmer und verzog sich wieder in sein Zimmer, in der Hoffnung, die Kartons noch an diesem Abend auszuräumen, ehe er seine mühsam zusammengekratzte Motivation wieder verlor.
●
Zwei Stunden später lag Jim in seinem Bett, hörte Musik und versuchte, das hartnäckige Knurren seines Magens zu ignorieren. Er griff nach einem der wenigen Bücher, die er besaß (zu viele Bücher bedeuteten zu viel Gepäck), schlug es auf und bemühte sich, sich im kühlen blauen Licht seiner Lichterkette auf die Worte zu konzentrieren.
Sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen und erinnerte ihn daran, dass er zuletzt vor seinem Flug etwas gegessen hatte.
Jim ergab sich. Er legte das Buch beiseite, stand auf und suchte sich aus dem Schrank eine Jacke heraus - schwarz, weil er damit nichts falsch machen konnte. Zusätzlich setzte er, mit einem Blick auf die hell erleuchteten Straßen, seine Sonnenbrille auf.
Dann marschierte er ins Wohnzimmer, schnappte sich das Geld und zog sich die Schuhe an. An einem kleinen, hässlichen Schlüsselbrett hing der Zweitschlüssel, den Jim sich zusammen mit dem Geldschein in die Jackentasche stopfte.
Sein Magen knurrte erneut - fast, als würde er ihm zujubeln oder anfeuern, noch schneller zu gehen. Er öffnete die Tür und trat auf den Flur. Der Teppich zu seinen Füßen war weich und dämpfte seine Schritte. Jim schloss ab und wandte sich den Flur hinunter.
Auf der Fahrt vom Liverpool John Lennon Airport im Taxi hierher hatte Jim am Ende der Straße ein italienisches Restaurant gesehen. Dort würde er einfach Pizza- nein, Nudeln bestellen und vielleicht könnte er sie mitnehmen, um sich nicht zwischen all diesen Menschen aufhalten-
Jemand rempelte ihn an und brachte Jim zum straucheln.
„Hey!", fauchte er.
Jim wirbelte herum und fand sich einem Jungen in seinem Alter gegenüber. „Oh, tut mir leid", sagte dieser.
Er war anderthalb Köpfe größer als Jim (allein deshalb kochte Jim innerlich noch mehr) und sah ihn kaum an, sondern hatte sich halb von ihm angewandt.
„Rennst du immer Leute um, wenn es dir gerade passt?", wetterte Jim, eingeschnappt, weil der Typ ihn nicht einmal richtig eines Blickes würdigte; wenigstens war er nicht einfach weitergelaufen.
„Ich hab nicht auf den Weg geachtet, sorry." Er drehte sich zu Jim und der konnte ganz schwach verschwommene blaue Flecken auf seiner rechten Wange erkennen. Der Blick des Jungen richtete sich auf die Wohnungstür, aus der Jim getreten war. „Du bist hier neu eingezogen, richtig?"
„Ja." Jim musterte sein Gegenüber genauer - er trug bleiche, blaue Jeans und eine dunkle Lederjacke - und als der das trotz Brille bemerkte, wandte er sich ab und fuhr sich verlegen durch die Haare.
„Tja, dann willkommen im Haus. Man sieht sich!"
Der Junge joggte zum Ende des Flures. Jim blickte ihm verdutzt nach. Dieser Typ war jetzt schon die zweite Person an diesem Tag, die ihn ohne Möglichkeit auf eine Antwort stehenließ.
Jim beobachtete, wie der Junge zu einer stählernen Tür lief, die Jim bei seinem Eintreffen nur kurz mit Blicken gestreift hatte. Er hatte sie für irgendeinen Technikraum gehalten (obwohl solche zumeist im Erdgeschoss lagen, aber Jim hatte sich nicht zu viele Gedanken darüber gemacht) und war deshalb davon ausgegangen, dass sie verschlossen wäre, aber der Junge öffnete sie mit einem einzigen Schwung und erklomm dann die Steintreppe, welche sich dahinter befand. Sie musste aufs Dach führen, denn Jims neues Zuhause lag im obersten Stockwerk.
Bevor die Tür scheppernd ins Schloss fallen konnte, wurde sie von einem Mechanismus abgebremst und schloss sich leise klickend.
Jim schüttelte den Kopf und wandte sich ab. Danach machte er sich an den Abstieg der Treppen - denn natürlich gab es nicht einmal einen Fahrstuhl in diesem gottverdammten Wohnhaus.
Den Weg zum Restaurant brachte er so schnell wie möglich hinter sich. Von den grellen Flutlichtern im Flughafen hatte er noch immer Kopfschmerzen und überall standen Straßenlaternen und warfen strahlendes, weißes Licht auf ihn, das in seinen Augen brannte. Normalerweise war seine Lichtempfindlichkeit nie so schlimm, aber bei dem Stress der letzten Tage hatte Jim nicht viel geschlafen, was dazu führte, dass seine Augen deutlich schneller gereizt waren. Ähnlich wie er selbst.
Er wusste jetzt schon, dass ihm Liverpool nicht gefiel. Überall waren diese grässlichen, hellen, farblosen Neonreklamen und an jedem zweiten Fenster hing eine Fußballfahne oder ein Trikot und wenn es einen Sport gab, den Jim verabscheute, war es Fußball. (Was zu großen Teilen damit zusammenhängen dürfte, dass er nur selten nachvollziehen konnte, was gerade geschah, und was er nicht verstand, ärgerte ihn.)
Das Restaurant war gut besucht und er erntete einige seltsame Blicke von allen Seiten, was vermutlich daran lag, dass er jetzt noch eine Sonnenbrille trug und damit vermutlich wie ein Möchtegern-Filmstar wirkte. Jim versuchte, die Blicke von sich abprallen zu lassen und winkte den nächsten Kellner, der mit dreckigem Geschirr an ihm vorbeilief, heran: „Kann ich mein Essen auch mitnehmen?"
Der Kellner, ein junger Mann mit ordentlichem Dreitagebart, musterte ihn kurz und hob dann die Schultern. „Klar", er nickte in Richtung eines Tisches, von dem sich ein älteres Ehepaar gerade erhob, „da liegt noch eine Karte. Du kannst was bestellen und solange dort warten, bis ich es dir gebracht habe."
„Danke", sagte Jim knapp und der Kellner eilte weiter. Jim wartete, bis das Ehepaar endlich Gebiss und Tasche zusammengesucht hatte und setzte sich dann an den freigewordenen Tisch. Vor ihm brannte eine Kerze und ließ die Luft leicht flimmern oder vielleicht sah Jim auch nur wieder etwas verschwommen. Das helle Licht, welches von der Flamme ausging, ertrug er gerade allerdings nicht und so pustete er die Kerze aus. Dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück, kniff die Augen zusammen und massierte sich das Nasenbein, in der Hoffnung, somit die Kopfschmerzen zu lindern.
„Na, mein Freund." Jim öffnete genervt wieder die Augen und wandte sich an einen Typen links von ihm, der nach betrunkenem Business-Mann aussah und roch und Jim erwartungsvoll ansah. Als er Jims Aufmerksamkeit hatte, grinste er dämlich und deutete mit seinen Händen eine Geste an, als würde er sich eine Spritze in den Arm schieben: „Vielleicht nächstes Mal vorher über die Konsequenzen nachdenken."
Jim zeigte ihm den Mittelfinger. Die Begleitung des Mannes, eine Frau mit erstaunlich hellen Haaren, schnappte empört nach Luft, aber da kam auch schon der Kellner und erkundigte sich nach Jims Bestellung. Jim nannte wahllos ein Nudelgericht und lehnte sich dann zurück, während der Kellner wieder davoneilte.
Das Pärchen links von ihm tuschelte gerade laut genug über ihn, dass Jim es hörte. Jim ignorierte sie. Er schloss wieder die Augen und wartete und hoffte, dass die Köche schnell waren und sein Magen sich bis dahin nicht bereits selbst verdaut hätte oder er diesen Tratschtanten neben sich noch nicht an die Gurgel gesprungen wäre.
Irgendwann wurde ihm langweilig und er studierte weiter die Menükarte, um sich, für den wahrscheinlichen Fall, dass seine Mutter wieder keine Zeit zum Einkaufen oder Kochen oder für ein gemeinsames Essen hätte und ihm Geld hinterlassen würde, damit Jim sich „eine Pizza bestellt".
Er konnte einige Brocken Italienisch (zwei Monate in Rom, drei in Venedig, fünf Wochen in Neapel), die er durchging, während er die streuhaft verteilten Vokabeln der Speisekarte las: pollo, manzo, bevanda, l'appetito vien mangiando. Arrivederci.
Wenigstens, dachte er, sind wir dieses Mal nicht wieder in Italien gelandet. So wenig ihm das Bisschen, das er von Liverpool gesehen hatte, gefiel, wenigstens schien die Sonne hier nicht wie sein persönliches Höllenfeuer, das ihm die Augäpfel schmelzen wollte, auf ihn herab. Und wenigstens sprachen die Menschen Englisch und Jim müsste nicht erneut eine neue Sprache lernen, die in wenigen Wochen wieder völlig irrelevant für sein Leben wäre.
„Entschuldigung?" Jim blickte von der Speisekarte auf und sah den Kellner mit einer Plastiktüte in der Hand, in der sich eine Verpackung befand, welche offensichtlich sein Essen enthielt.
Jim stand auf und nahm die Tüte entgegen, während er mit der anderen Hand nach dem Geld kramte.
„Danke-", setzte er an, als der Mann am Nebentisch ihn unterbrach: „Guten Appetit, Brad Pitt!" Dann brüllte er vor Lachen über seinen eigenen dummen Witz. Jim warf ihm einen angewiderten Blick zu und wandte sich dann wieder ab.
Die Mundwinkel des Kellners zuckten und Jims Laune sank bis zum Gefrierpunkt. „Danke", wiederholte er dementsprechend eisig, lächelte gezwungen und drückte dem Kellner den Schein in die Hand. „Den Rest können Sie behalten."
●
Es war mittlerweile nach Zehn und seine Mutter war immer noch nicht zurück. Was Jim normalerweise wirklich nicht gestört hätte, aber seine Mutter hatte als einzige das WLan-Passwort und außerdem wusste Jim nicht, in welche der Taschen sie den Kindle, auf dem er meistens mehr als die immer gleichen drei Bücher las, gepackt hatte.
Jim langweilte sich zu Tode. Seine Musik pustete durch sein Hirn wie nervend pfeifender Wind und seine Lichterkette stürzte andauernd wieder auf ihn herunter, bis Jim sich Panzertape nahm und sie direkt an die Wand pappte - denn natürlich fand er zwar nichts anderes, aber zumindest Panzertape.
Er hatte das Gefühl, nicht nur die Lichterkette, sondern die ganze Decke würde ihm sogleich auf den Kopf fallen. Die Wohnung war fremd und roch nach frischer Farbe (weil seine Mutter jedes Mal unnötigerweise auf eine Renovierung bestand) und Jim fühlte sich erstickt.
Nachdem eine weitere halbe Stunde vergangen war und Jim selbst seine eigenen Atemzüge als störend empfand, beschloss er kurzzeitig, noch einmal durch die Stadt zu ziehen und sich einen besseren Eindruck von ihr zu schaffen.
Schon auf dem Flur bemerkte er allerdings, dass er keine Lust aufs Laufen hatte und allem voran nicht auf die Menschen, denen er an einem Freitagabend zwangsweise begegnen würde.
Stattdessen wanderte sein Blick den Flur hinunter zur Metalltür. Wenn sie wirklich aufs Dach führte, könnte Jim frische Luft schnappen und seine Gedanken ordnen, ohne der Gefahr, auf Menschen zu stoßen.
Also lief er zu der Tür und drückte vorsichtig die Klinke herunter, halb in der Erwartung, sie wäre doch wieder geschlossen. Doch die Tür schwang auf, sie war erstaunlich leicht und kalt.
Sofort kitzelte ein kühler Windstoß Jims Nase und der zog ihn gierig ein. Ohne weiter zu überlegen, schritt er die Treppen nach oben, während die Tür sich hinter ihm schloss.
Auf dem Dach befanden sich einige Lüftungsschächte mit riesigen Propellern und ein kleines Häuschen, das aussah wie einer dieser alten Taubenverschläge.
Am Rand des Daches gab es eine niedrige Mauer, die Jim etwa bis zum Knie reichte. Jim steuerte auf sie zu und setzte sich darauf. Seine Beine hingen in der Tiefe und er hatte einen perfekten Blick auf Liverpool, weil das Wohnhaus eines der größten Gebäude im Umfeld war und Jim somit auf alles niedersehen konnte.
Was er sah, beeindruckte ihn nicht wirklich. Liverpool sah genauso aus wie all die anderen Städte zuvor. Grau und verwaschen. Jim konnte ihr nichts Schönes abgewinnen und er wusste, dass er das auch keiner anderen Stadt könnte. Vermutlich (ziemlich sicher) lag es an ihm.
Er seufzte leise und begann, mit den Füßen zu baumeln.
„Wie heißt du?"
Jim schrak so heftig zusammen, dass er sich bereits vom Dach stürzen sah. Er krallte sich an den Stein und blickte mit vor Schreck geweiteten Augen über seine Schulter. Im Schatten des Taubenverschlages, wo Jim ihn nicht bemerkt hatte, saß der Junge, der ihn vorhin im Flur angerempelt hatte, und blinzelte ihm neugierig zu. „Sag mal, geht's noch?", fauchte Jim.
Der Junge legte den Kopf schief. „Hast du mich nicht bemerkt?"
„Offensichtlich nicht!"
„Sorry. Ich dachte, du hättest mich nur ignoriert."
Jim schnaubte und wandte sich wieder der Stadt zu seinen Füßen zu.
„Ignorierst du mich jetzt?"
„Vielleicht", knurrte Jim und starrte stur auf ein Hotel einige Straßen weiter, das sich etwa auf der gleichen Höhe befand.
„Wie heißt du?", fragte der Junge erneut.
„Wie heißt du?", entgegnete Jim.
„Sebastian."
„Okay, schön für dich." Jim suchte sich einen anderen Fixpunkt: einen leicht verschwommenen Punkt, den Jim für ein Stadion hielt. Er verzog den Mund.
„Wie findest du sie?"
„Wen?"
„Die Stadt. Liverpool. Findest du sie schön?"
„Nein", antwortete Jim ohne weiter zu zögern und wandte sich vom Panorama der Stadt ab, um kurz zu Sebastian zu schielen. „Ziemlich farblos."
Sebastian schien, so weit Jim es erkennen konnte, zu überlegen, wobei er sich die Stadt ebenfalls ansah. „Ja, schon irgendwie. Du hast Recht." Er fing Jims Blick auf und der wandte sich schnell wieder ab, nur, um sich im nächsten Moment selbst dafür zu verfluchen. „Also, muss ich wirklich noch einmal fragen?"
„Hm?"
Er hörte Sebastian leise seufzen und dann ebenso leise lachen. „Wie heißt du, Unbekannter?"
„Oh, achso. Jim." Jim räusperte sich leicht verlegen (er hatte sich nicht absichtlich nicht vorgestellt, aber wenn man so oft reiste und sich Smalltalk nie über einfache Begrüßungsfloskeln vollzog, verlernte man es wohl irgendwann, einfachste Gespräche zu führen).
„Freut mich, Jim."
In der Ferne grollte Donner und als Jim den Kopf in den Nacken legte und die Augen leicht zusammenkniff, konnte er gerade so die dunklen Umrisse gigantischer Wolken im Nachthimmel ausmachen. Ein Wassertropfen landete platschend auf seiner Wange und Jim wischte ihn genervt aus seinem Gesicht. „Mach dir keine Mühe, dir meinen Namen zu merken", sagte er, während er aufstand und die Tropfen immer schneller fielen. „Ich bin sowieso bald wieder weg."
„So? Woher weißt du das?" Sebastian zeigte sich unbeeindruckt von dem Regen. Er blickte fragend zu Jim auf.
„Ist immer so." Jim wandte sich ab und weitere Regentropfen prasselten auf seine Haut. Kurz hob Jim die Hand: „Bis irgendwann!" Dann rannte er zurück zur Tür und verschwand nach drinnen, ehe der Regen ihn völlig durchnässte. Im Flur hielt er kurz inne und wartete darauf, dass auch Sebastian vom Dach kam, was er allerdings nicht tat.
Jim zuckte mit den Schultern und schloss die Tür seiner Wohnung wieder auf. Es war dunkel und still; seine Mutter war noch immer nicht zurückgekehrt.
●
Am Morgen danach schien die Sonne so grell und erbarmungslos in sein Zimmer, dass Jim sich bereits um acht Uhr aus seinem Bett quälte, obwohl er beinahe die ganze Nacht zum Einschlafen gebraucht hatte. So war das immer in den ersten Nächten in einem neuen Zuhause, was ironisch war, wo Jim langsam daran gewöhnt sein sollte, in fremden Betten zu schlafen.
Seine Mutter schlief noch - er vermutete, dass sie Wein getrunken hatte, denn sie schnarchte so laut, dass Jim es im Wohnzimmer, an das ihr Schlafzimmer direkt angrenzte, laut und deutlich hörte. Das tat sie immer nur, nachdem sie mindestens zwei Gläser Wein, genauer gesagt Rotwein, getrunken hatte. Ihr Alkoholkonsum am vorherigen Tag dürfte auch dafür sorgen, dass sie bis mindestens zwölf Uhr schlief, was sie sich nur noch jetzt leisten konnte, da sie ab Montag, so wie immer, quasi nur noch durcharbeiten würde, bis sie dann irgendwann eine Art Zusammenbruch erleiden, kündigen und ein anderes Jobangebot annehmen würde.
Jim lief in die Küche, die offen, nur von der Küchenzeile davon abgetrennt, im Wohnzimmer lag, um etwas zu frühstücken, stellte aber schnell fest, dass seine Mutter sich noch nicht um die Einkäufe gekümmert hatte.
Seufzend lief er in sein Zimmer und schnappte sich die Tüte Studentenfutter, die noch von seinem Flug übriggeblieben war (Flugangst, die ihm den Appetit verdarb; noch eine ironische Fügung des Schicksals). Da das helle Licht in seinem Zimmer seine Augen bereits zum Brennen brachte, griff er nach seiner Sonnenbrille, setzte sie auf und verzog sich ins Wohnzimmer, da dies der einzige Raum war, der abzudunkeln war. Vor der Fensterfront, die auf die (völlig leere) Balkonterrasse führte, hingen hellgraue Vorhänge, die Jim zuzog, um sich danach auf die Couch zu fläzen, die erstaunlich bequem war. Eine Weile lang lauschte Jim sich selbst beim Nüssezerkauen. Dann nervte ihn das Schnarchen seiner Mutter und er schaltete den Fernseher ein, wo irgendeine Komödie mit eingespielten Gelächter lief, die Jim augenverdrehend anließ, während er weiter Nüsse aß.
Noch während er aß, fielen ihm die Augen wieder zu. Er legte die Tüte Studentenfutter beiseite und schmiegte sich in eines der leicht kratzigen Kissen und war innerhalb kürzester Zeit wieder eingenickt.
Kaum eine Stunde später schreckte er auf, als Glas zersplitterte und eine Frau schrie. Hektisch blickte er um sich und sah dann, dass das Geräusch aus dem Fernseher gekommen war; dort lief nun ein Actionfilm. Jim blinzelte und griff sich dann die Sonnenbrille vom Hals, die ihm im Schlaf heruntergerutscht war und einen Abdruck hinterlassen hatte. Die Frau im Fernseher weinte, während eine dunkle Flüssigkeit ihren hellen Hals hinunterlief. Jim schaltete den Fernseher aus und lag noch eine Weile auf der Couch, ehe er beschloss, einkaufen zu gehen, weil er sich sicher war, dass seine Mutter dafür keine Zeit finden würde.
Also klaubte er sich Geld aus dem Portemonnaie seiner Mutter und verließ die Wohnung.
Im Hausflur wanderte sein Blick wie von selbst zu der Tür zum Dach. Er wandte sich ab und wagte sich hinaus in den hellen Vormittag, die Brille wieder sicher vor den Augen.
●
Jim wusste nicht genau, was ihn dazu antrieb erneut auf das Dach zu gehen, aber gegen Mittag, als die Sonne hochstand und der Himmel ganz besonders blau strahlte, erklomm er die Treppen und blinzelte kurz darauf trotz seiner Sonnenbrille gegen die Helligkeit an.
Dennoch blickte er gen Himmel, denn der war so blau wie schon lang nicht mehr und das hatte Jim vermisst. Ein wenig Normalität in seinem Leben: Der Himmel sah beinahe überall auf der Welt gleich aus.
Jim steuerte wieder auf den Dächerrand zu, hielt aber inne, als er einen Schatten neben dem Taubenverschlag bemerkte. Er runzelte die Stirn. Konnte es sein...?
Er lief weiter und warf einen Blick hinter den Taubenverschlag und tatsächlich lag dort erneut Sebastian, die Arme im Nacken verschränkt, die Augen geschlossen, offenbar schlafend. Jim hob erstaunt die Augenbrauen; offenbar kam Sebastian mehr als regelmäßig auf das Dach. Oder... Jim musterte den Jungen genauer und versuchte zu ergründen, ob Sebastian nur wieder oder aber immer noch hier lag.
Schließlich, als Sebastian einfach weiter ruhig vor sich hindöste, wandte er sich ab und setzte sich an den Dachrand. Er schaute nach oben und hinauf in den Himmel, versuchte das Blau in sich aufzunehmen, bis seine Augen beinahe unerträglich schmerzten und er den Blick senken musste. Kurz kniff er sie zusammen, bis die dunklen Flecken vor seinem Blickfeld wieder verschwanden.
Hinter sich hörte er Sebastian leise seufzen und als er sich zu ihm umdrehte, bemerkte er, dass Sebastian sich zu regen begann, blinzelte und sich langsam aufsetzte. „Guten Morgen, Sonnenschein."
Sebastian starrte ihn kurz mit versteinerter Miene an, dann schien ihm einzufallen, wer Jim war und er hob einen Mundwinkel. „Morgen. Wie spät ist es?"
„Kurz nach zwölf." Jim besah sich Sebastians Haare, die in alle Richtungen abstanden. „Sag bloß, du warst die ganze Nacht hier."
Sebastian rieb sich über das Gesicht und schüttelte den Kopf.
„Aha." Jim schloss wieder die Augen und ließ den Kopf in den Nacken und die Sonne auf sein Gesicht fallen. Wenn er die Augen schloss und die Sonnenbrille trug, war die Helligkeit zu ertragen. Sein Augenarzt mahnte ihn immer, die Sonnenbrille nicht zu oft zu tragen, da sich seine Lichtempfindlichkeit sonst verschlimmern könnte, aber der hatte gut Reden. Ihm zerstach das Licht nicht Augen und Gehirn zugleich.
„Die steht dir."
Jim drehte sich wieder zu Sebastian, hatte dessen Anwesenheit innerhalb der kurzen Zeit schon beinahe verdrängt. „Hm?"
„Die Sonnenbrille. Die steht dir." Im hellen Licht der Sonne waren die blauen Flecken auf Sebastians Wange, oder viel mehr der eine große Fleck, deutlich besser erkennbar als gestern in der Dunkelheit des Flures und der Nacht. Jim musterte Sebastian und sah schließlich zurück in den Himmel, weil seine einsetzenden Kopfschmerzen ihn doch nicht davon abhalten konnten, das Blau zu genießen.
„Danke."
„Du hast sie gestern schon getragen", bemerkte Sebastian, woraufhin Jim zustimmend brummte und sich innerlich auf den zwingend folgenden Kommentar vorbereitete, dass Jim seine Sonnenbrille auch bei schlechten Lichtverhältnissen trug. Verdammt, die meisten Leute waren einfach zu ignorant, um anzunehmen, Jim könnte sie aufgrund von gesundheitlichen Problemen tragen. Sie machten sich lieber darüber lustig und ordneten ihn so ein, wie es ihnen gerade passte. Aber Sebastian fragte nur: „Hat sie irgendeinen besonderen Wert? Ist sie von jemandem Besonderen?"
Jims Augenbrauen wanderten in die Höhe. „Nein." Er biss sich nachdenklich auf die Lippen, überlegte, wie viel er Sebastian erzählen wollte und sah hinunter auf seine Schuhe, die in schwindelerregender Höhe hin- und herbaumelten. „Es ist einfach eine Sonnenbrille. Ich brauche sie, weil diese Welt so verdammt grell ist."
Er hörte Sebastian lachen; wieder dieses leise, zurückhaltende Lachen wie schon in der vorherigen Nacht. „Du klingst ja wie ein Vampir, Jim."
Sofort pressten sich Jims Lippen fest aufeinander. Da war er, der spöttische Kommentar, mit dem er gerechnet hatte. Die Menschen konnten es sich einfach nicht verkneifen. Er wandte sich demonstrativ noch etwas weiter von Sebastian ab. „Ich verbrenne nicht in der Sonne, Mr. Super-Schlau. Meine Augen sind nur lichtempfindlich."
„Weil du immer nur in deinem Sarg abhängst", erklärte Sebastian gut gelaunt. „Passt auch zu deiner Hautfarbe. Du siehst aus, als würdest du dich immer nur in Kellern aufhalten, Dracula."
Jim beschloss, dass es am besten wäre, Sebastian einfach zu ignorieren. Der Typ konnte sich seine schlechten Witze sonst wo hinstecken; das hatte Jim alles schon einmal gehört.
Am Himmel zogen einige Wolken auf, keine dunklen dieses Mal, aber Jim war doch etwas enttäuscht, da sie das Blau des Himmels verwischten; andererseits verbargen sie die Sonne etwas, wodurch seinen Augen eine Milderung zugesprochen wurde.
Plötzlich ließ Sebastian sich neben ihm nieder und es kostete alles an Beherrschung in Jim, um nicht zusammenzuzucken. „Was starrst du denn da oben die ganze Zeit so an?", wollte er wissen.
Jim spitzte die Lippen und rang mit sich, ob er Sebastian überhaupt eine Antwort geben wollte; er glaubte nicht einmal, dass er Sebastian gerade gern hier hatte. Er wäre lieber allein, um nachzudenken, ohne, dass Sebastian ihn andauernd unterbrach. „Den Himmel", beantwortete Jim Sebastians Frage letztlich doch, konnte den genervten Unterton jedoch nicht ganz aus seiner Stimme fernhalten.
„Okay", sagte Sebastian gedehnt und blickte nun ebenfalls hoch. Einen angenehmen Moment lang schwieg er, während er sich den Horizont besah. „Was ist denn so großartig an ihm?"
Jim schaute ganz kurz zu Sebastian und dann wieder auf. Er hob die Schultern. „Er ist blau."
„Stimmt." Nun war es Sebastian, der Jim ansah, etwas fragend und neugierig. „Du magst also Blau?"
Für eine Sekunde zögerte Jim, weil Blau zu "mögen" wirklich nicht das ausdrückte, was er mit dieser Farbe verband. Aber es war ein Anfang. „Kann man so sagen", antwortete Jim also etwas vage.
Sebastian stieß ihn mit der Schulter an und Jim, der damit nicht gerechnet hatte, fuhr doch noch zusammen. „Du bist irgendwie seltsam, Jim."
Dann erhob er sich und balancierte so mühelos am Dachrand entlang, als würde er in seiner Freizeit wenig anderes machen.
„Das habe ich schon öfter gehört", murmelte Jim und beobachtete, wie Sebastian einige Male hin- und herwanderte und irgendwann wieder aufs Dach sprang, um sich zurück vor den Taubenverschlag in die Sonne zu legen. Er stützte sich auf seine Unterarme und sah blinzelnd in den Himmel und irgendwie verspürte Jim so etwas wie Schadenfreude, da die Sonne auch Sebastian blendete.
„Eigentlich hast du Recht. Dieses Blau ist wirklich schön." Er ließ sich zurücksinken und grinste dann zu Jim auf, dass der blaue Fleck auf seiner Wange verschwamm. „Aber ich denke, ich bevorzuge noch immer Sonnenuntergänge. Da ist noch mehr los, weißt du? Da gibt sich der Himmel noch mehr Mühe."
„Kann sein." Jim zog die Beine an die Brust und legte seine Wange auf seine Knie. Er ließ den Blick schweifen und sah auf die graue Stadt zu seinen Füßen. Grau. Er seufzte leise. Alles war so farblos.
●
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro