»Liebe Kassandra,

es sind jetzt 365 Tage vergangen, seitdem ich das letzte Mal mit dir sprach. Wieso ich das so genau weiß? Weil ich an meinem allerletzten Tag vorbei kam und die braunhaarige Frau, die seit einigen Wochen dort arbeitete - wer ist sie? - mir nach meiner üblichen Bestellung mitteilte, dass du nicht da bist.

Ich hätte dich so gerne noch gesehen. Also habe ich mir das Datum gemerkt. Seither sind 365 Tage vergangen.

Doch der Brief jetzt entsteht aus einem anderen Grund.

Jan ist seit über einem Jahr tot. Und ich lebe damit, auch wenn es weh tut. Und das tut es, liebste Kassy. Es tut höllisch weh. Ich kann keinen Film mehr ansehen, ohne zu denken, dass er Jan gefallen hätte. Bei jedem neuen Imagine Dragons Song muss ich mich zurückhalten, nicht seine Nummer zu wählen. Bei all dem Leid, das derzeit in der Welt geschieht, würde ich mich gerne zu meinem Bruder setzen und wissen, dass es uns gut geht. Dass alle anderen da draußen die schlimmste Zeit ihres Lebens haben, aber wir nicht.

Aber das kann ich nicht mehr. Und das musste ich erst akzeptieren.

Ich musste ebenfalls akzeptieren, dass es normal ist, dass du weiterziehst, dein Leben lebst und mich vergisst. Auch wenn du mit der Frau im hässlichen gelben Kleid nicht mehr zusammen bist - dein neuer Mitarbeiter redet zu viel, merk dir das! - verdienst du es, glücklich zu sein.

Ich schreibe dir diese Zeilen nur, weil ich mich gleich auf den Weg zu deinem Café mache. Dieses Mal werde ich den Brief in den Briefkasten neben deinem Café einwerfen. Ich werde hineingehen, etwas bestellen und an deiner Reaktion werde ich feststellen können, ob ich wiederkommen kann oder nicht.

Weißt du, es passieren tagtäglich so viele Dinge dort draußen. Kinder verlieren ihre Eltern, Schwestern ihre Brüder, Menschen werden ermordet. Und egal, wie sicher ich mich immer bei Jan gefühlt habe, bei dir fühlte ich mich sicherer.

Es war mir egal, wenn ich mal mit Schlamm verkrusteten Schuhen zu dir kam. Oder wenn meine Haare nicht gemacht waren. Es war mir egal, dass dein Café heller leuchtet, als jede Reklame in der Stadt. Wir sind nicht sicher, egal wo wir sind. Doch wir sind beschützt, wenn wir bei denen sind, die wir lieben.

Und Kassandra Moon, auch wenn ich dich nicht kenne, ich nicht weiß, was deine Lieblingsfarbe ist, welche Eissorte du am liebsten nimmst oder wie deine erste Barbiepuppe hieß - Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich mich in dich verliebt habe.

Damals.

Und heute auch noch.

Wie kitschig das alles klingt, nicht wahr? Deswegen noch ein Ende, das nicht so gefühlsduselig ist.

Egal wo ich war, dein Kaffee war immer noch der Beste.

Mit liebsten Grüßen,
Skye Rain.«