#21
Die Tage verfliegen, bevor ich überhaupt realisieren kann, dass Zeit vergeht. Wir hüpfen von einem Termin zum Nächsten, gehen frühstücken und zu feinen Abendessen. In der Zwischenzeit schießen wir Fotos, gehen shoppen und planen unsere Zukunft.
Es ist aufregend, das werde ich nicht leugnen. All die Maulerei, die ich ansprach und über die ich jammerte, ist die Schattenseite. Doch jede Sache hat auch Positives an sich. Denn ich treffe Menschen, die sich mit meinem Buch auseinander gesetzt haben. Die Interesse daran haben und es auch offen bekunden. Das ist ein Schub fürs Selbstbewusstsein, den ich dringend gebrauchen konnte.
»Du weißt, dass wir uns erst einmal keine Angestellten leisten können.«
Ein weiteres Hotelzimmer in einer weiteren Stadt. Diesmal jedoch in unmittelbarer Nähe zu unserem Zuhause. Der letzte Stopp der Tour wurde heute von uns erledigt. Morgen früh – wirklich sehr, sehr früh, weswegen wir eigentlich längst schlafen sollten – geht es für uns mit dem Zug die letzte Distanz zu überbrücken. Hallo, Buchmesse. Angelique warnte mich schon, dass das eine vollkommen neue Erfahrung sein wird. Ein vollkommen neues Stressgefühl. Was freue ich mich darauf ...
»Ist das deine Hauptsorge?« Wie an jedem anderen Abend auch läuft Diana durchs Zimmer und erklärt mir ihre Bedenken. Ich denke, sie hat Angst. Vor was genau, weiß ich nicht, denn immerhin investiere ich mein gesamtes Geld in das Projekt. Jeden letzten Cent werde ich reinstecken müssen und das macht mir auch Angst. Erstaunlicherweise überwiegen hierbei aber die Glücksgefühle.
»Eine davon, ja.« Sie nickt heftig. »Ich weiß, dass ich nicht so viel zu verlieren habe, aber ...« Ein Seufzen. Gleich wird sie sich zu mir aufs Bett werfen und den Kopfins Kissen stecken, um kurz zu brüllen.
Jeden Abend dasselbe.
»Lass uns doch erst einmal den ersten Schritt gehen. Und den zweiten. Und den dritten. Wir werden nicht morgen alles in die Tat umsetzen können.«
»Aber du bist so ... enthusiastisch. Und das warst du schon ziemlich lange nicht mehr.«
Dürfen Worte einen so sehr treffen?Dürfen Worte etwas in einem auslösen, das man nicht beschreiben kann? Natürlich halte ich mich nicht für die Frohnatur in Person, das war ich nie. Wenn es je diesen Eindruck gab, dann weil ich es vorspielte. Ich war gut darin, so zu tun als ob. Damit niemand sich Sorgen macht, damit niemand den hässlichen Kern sieht, damit keiner je auf die Idee kommen könnte, dass ich das Leben an manchen Tagen absolut grässlich und sinnlos finde.
Doch seit meinem achtzehnten Geburtstag arbeite ich daran, versuche Wege zu finden, dass ich nicht mehr diese gespielte Maske aufsetzen muss. Was nicht allen Menschen gegenüber möglich ist, doch ich ließ sie vor meinen engsten Mitmenschen fallen. Dass ich scheinbar dennoch ein Trauerkloß bin, überrascht mich.
Diana scheint zu bemerken, was ich denke. »Kassy, damit wollte ich jetzt nicht ...«
Schnell wiegele ich sie ab, schüttle lächelnd den Kopf und mache mir ja doch weiter Gedanken darum. Eigentlich bin ich nicht traurig. Ich bin ... normal. Keine himmelhochjauchzende Person, aber ... normal. Einfach nur normal, was immer mein Ziel war. Wieso sieht sie das nicht? Wieso sind all meine Versuche wertlos?
»Ich wird jetzt schlafen, wenn es dich nicht stört«, verkündet Diana, vermutlich um einen Themenwechsel bemüht. Sie wird wissen, dass ich diesen unbedachten Satz nicht mehr loslassen kann und mich die Nacht über fragen werde, ob ich unglücklich bin, obwohl sie das damit nicht ausdrücken wollte. Logisch gesehen weiß ich, dass es sie einfach bloß freut, dass ich mit Leidenschaft ein neues Projekt starte. Innerlich versuchen meine Gedanken mich aber fertig zu machen.
Kurzerhand hole ich meinen Laptop aus der Tasche, was das erste Mal ist, seitdem wir auf Reisen sind. Bisher war auch nicht unbedingt die Zeit dafür – nicht, dass ich sie jetzt habe. Ich sollte schlafen, aber in einem solchen Zustand, mit kreisenden Gedanken in meinem Kopf, ist daran ohnehin nicht zu denken. Da kann ich meinen Geist auch mit etwas Kreativem beschäftigen.
Als ich gerade die Zimmertür öffne, kommt Diana bettfertig aus dem Badezimmer und hält mich an. »Du kannst hier schreiben, das Tippen stört mich nicht.«
»Nein, schon gut. Ich brauch ein bisschen Ruhe. Du schnarchst mir zu laut«, scherze ich und lasse kurzerhand die Tür hinter mir ins Schloss fallen, bevor sie diskutieren kann.
Einen abgelegenen Ort zu finden, fällt mir nicht schwer. Nachts ist in den meisten Hotels unter der Woche nicht viel los – die Partys steigen eher am Wochenende, sodass ich mich kurzerhand in den Speisesaal setze, in die hinterste Ecke, auf eine gemütlich aussehende Bank. Sorgsam klappe ich den Laptop auf und öffne ein leeres Dokument.
In den vergangenen Monaten habe ich Geschichte für Geschichte für Geschichte angefangen, alles ohne Erfolg. Einige Seiten lang funktionierte es, doch nach kurzer Zeit verlor ich das Interesse daran, tiefer in die Gedankenwelt meiner Figuren einzutauchen. Wenn ich mich nicht mit ihnen identifizieren kann, werden sie nicht echt. Werden sie nicht echt, macht es keinen Spaß, über sie zu schreiben.
So einfach ist das. Oder auch nicht.
»Es war einmal – so fangen die wirklich guten Geschichten an. Sie erzählen von wagemutigen Helden und furchtlosen Prinzen. Von bitterbösen Drachen und feigen Dorfbewohnern. Am Ende folgt immer ein 'Sie leben glücklich bis an ihr Lebensende'.
Mein Leben ist nicht so. Es ist kein Märchen, es beginnt demnach auch nicht mit den magischen drei Worten.
Meine Geschichte beginnt mit einer alleinerziehenden Mutter, die lieber ihre Tochter auf die Straße setzte, statt sich Hilfe zu suchen. Meine Geschichte handelt von verräterischen Prinzen und mutigen Dorfbewohnern. Meine Geschichte erzählt von einer missratenen Heldin, die alles andere als das ist. Meine Geschichte handelt davon, wie es ist, wenn man der Bösewicht in der eigenen Welt ist.«
Stunde für Stunde schreibe ich, ignoriere das Morgenpersonal, das das Frühaufsteher-Frühstück vorbereiten und die Tische eindecken. Ignoriere mein vibrierendes Handy, das mich ursprünglich aufwecken sollte.
Zu wichtig sind die Wörter, die aus meinen Fingern auf die Tastatur fließen und eine Welt erschaffen, von der ich bisher nicht zu träumen wagte. Eine Welt, die meiner so ähnlich und gleichzeitig so fern ist. Eine Welt, in der ich mich problemlos verliere.
Erst Diana kann mich aus meiner Starre holen, stellt zunächst wortlos eine Kaffeetasse vor mich und schüttelt gähnend den Kopf. »Angelique wird dich umbringen, so wie du aussieht.«
»Wir haben doch noch Zeit«, murmle ich in die Tasse hinein.
»In sieben Minuten kommt unser Wagen. Du solltest dich beeilen.«
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