o5. Hängebrücke
Am nächsten Tag wollte die Gruppe ihren Weg fortsetzen, um die nächsten zwei Tage nach Namche Bazaar zu wandern.
Als sie gegen fünf Uhr morgens das Teehaus verließen, drehte Louis sich zu seinen drei Teamkollegen um.
„Wir werden die nächsten beiden Tage damit verbringen, von Phakding nach Namche Bazaar auf 3.440 Höhenmetern aufzusteigen", erklärte er. „Ihr dürft euch auf jeden Fall auf eine atemberaubende Landschaft freuen. Der Weg führt durch kleine Dörfer und Wälder, sowie über einige Hängebrücken."
Niall lächelte, als er sich die Erzählungen von Louis bildlich ausmalte. Diese Wanderung klang tatsächlich traumhaft, und langsam verdrängte die immer präsente Schönheit der Berge seine düsteren Gedanken.
Langsam begann er, sich richtig zu freuen.
„Namche Bazaar ist das Handelszentrum der Region und liegt auf einer Terrasse in den Bergen", fuhr Louis fort, als die Gruppe sich in Bewegung setzte. „Ich bin wirklich schon unglaublich gespannt, was ihr sagen werdet."
Ein vorfreudiges Kribbeln breitete sich in Niall's Magengegend aus.
Er liebte Wanderungen, vor allem, wenn man mit so unglaublichen Ausblicken belohnt wurde.
„Ich erzähle euch wahrscheinlich nichts Neues, wenn ich sage, dass dass die erschwerten Bedingungen, unter denen der Körper in dieser Höhe arbeitet, langsam zu spüren sein werden", wand Liam schließlich ein. „Deshalb werden wir zwei Tage in Namche Bazaar verbringen, um uns ausreichend zu akklimatisieren."
Harry spürte, wie sein Herz einen kleinen Sprung machte.
Zwei Tage in einer Stadt, die direkt im Berg auf einer Terrasse angelegt worden war.
Etwas schöneres konnte er sich kaum ausmalen.
Allerdings musste er Liam Recht geben.
Als die Gruppe bereits eine halbe Stunde unterwegs war, spürte er ganz deutlich, dass die Bewegungen anstrengender und das Atmen schwerer war.
Die Luft wurde dünner.
Niall hingegen schien die Höhe gut wegzustecken und keinerlei Probleme damit zu haben.
Unterwegs unterhielten sich die beiden Freunde, und Harry fühlte plötzlich den dringenden Wunsch, Niall seinen Dank auszusprechen. „Niall...", begann er, und dieser drehte sofort den Kopf irritiert in Harry's Richtung und zog eine Augenbraue nach oben.
Er kannte diesen Ton.
Es war kein normales Rufen seines Namens.
„Ich hoffe du weißt, wie sehr ich es schätze, dass du mitgekommen bist", sagte Harry und blickte seinem Freund in die blauen Augen, die einen Moment lang aufblitzten. „Das ist nicht selbstverständlich."
Niall lächelte und winkte ab. „Nein, das ist es nicht", antwortete er. „Aber ich werde nicht noch einmal jemanden am Berg verlieren."
Allmählich mischte sich Sorge in Harry's Gedanken.
Normalerweise sprach Niall nicht viel über den Tod seines Vaters.
Langsam aber sicher schlich sich das schlechte Gewissen wieder an ihn heran.
„Bist du okay?", wollte er wissen und sah seinen Freund mit ernstem Blick an.
Dieser nickte und setzte ein besonnenes Lächeln auf. „Ja", beteuerte er, „Versprochen. Immerhin bin ich erwachsen und habe mich selbst entschieden, mitzukommen. Und jetzt sieh dir nur diese wunderschöne Landschaft an."
Gerade ging die Gruppe aus einem Waldabschnitt heraus direkt auf eine Hängebrücke zu.
Harry schluckte.
Der Wald hatte an dieser Stelle ein tiefes Tal, durch das ein kleiner Fluss floss. Ansonsten war alles über und über mit Bäumen bedeckt.
Die kleine Hängebrücke, die etwa fünfzehn Meter lang war führte zu der anderen Seite, wo der Wald sich fortsetzte.
Harry schluckte.
Damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet.
Eine Hängebrücke auf dem Weg zum Mount Everest?
Niall kicherte und piekte seinen Freund sanft in die Seite, weil er wusste, dass er dort kitzelig war.
„Na, zitterst du etwa?", neckte er ihn.
Louis, den sie mittlerweile eingeholt hatten, drehte sich um und grinste.
Seine Stirn war von einer zarten Schweißschicht bedeckt.
Schließlich wanderte sein Blick zu Harry. Ein warmes Lächeln legte sich auf seine Lippen. „Angst?"
„Nein", log er und sah sich die Brücke etwas genauer an. „Die sieht nur nicht gerade stabil aus..."
„Ist sie aber", versprach Louis. „Nimm meine Hand."
Harry stockte.
„Was?"
„Na los", forderte Louis ihn auf. „Mit etwas mehr Halt wirst du dich sicherer fühlen."
Niall konnte sich ein kurzes Lachen nicht verkneifen.
Harry war manchmal ein Rätsel für sich.
Er hatte keine Angst, den Mount Everest nach oben zu klettern, aber eine Hängebrücke überqueren? Unmöglich, ohne die Hand des Expeditionsleiters zu halten.
Irgendwie doch ein witziges Bild, das Niall sofort fotografisch festhielt, um ihren Familien nach der Expedition alles genauestens erzählen konnten.
Harry zögerte, ergriff schließlich allerdings Louis' Hand.
Er erschrak, weil ein kleiner Blitz plötzlich seinen Körper zu durchzucken schien.
Ein angenehmes Gefühl breitete sich in ihm aus.
Louis' Hand fühlte sich so warm und vertraut an, als hätte er sie schon einmal gehalten.
Als Louis den ersten Schritt auf die Hängebrücke setzte, tat Harry es ihm gleich.
Er wusste, dass er sie überqueren musste, wenn er auf den Everest wollte.
„Nur zur Info", zwinkerte Louis, „Es wird auf dem Weg nach Namche Bazaar noch weitere Hängebrücken geben."
Harry atmete entnervt aus und wollte eigentlich die Augen verdrehen, doch dafür hatte er zu viel Angst.
Hand in Hand gingen sie also die Hängebrücke entlang.
Ganz langsam.
Ein Schritt nach dem anderen.
Harry war fasziniert von dem Blick in die Tiefe.
Dort unten schien eine ganz eigene Welt entstanden zu sein.
Eine Welt, in die der Mensch noch nicht eingegriffen hatte.
Die Brücke schaukelte gewaltig. Harry kniff die Augen zu.
„Die musst du schon offen lassen", scherzte Louis. „Ansonsten kommen wir nie auf der anderen Seite an."
Obwohl ihm eigentlich gar nicht danach zumute war, musste auch Harry lachen.
Ein warmes Gefühl füllte seinen Oberkörper und strahlte von dort in seinen gesamten Körper aus.
Vorsichtig wagten sie sich ein paar Schritte weiter.
„Dir kann wirklich nichts passieren", sagte Louis in ruhiger Stimme.
Harry nickte und versuchte, sich nicht viel anmerken zu lassen. „Ich habe keine Angst", gab er zurück, „Aber ich vertraue dieser Brücke nicht."
Louis lachte hell auf, und Harry dachte bei sich, dass er ein wahnsinnig warmes Lachen hatte.
Die Art, die sofort ansteckend war.
So standen sie also in der Mitte der Hängebrücke und lachten, während Niall und Liam, die noch vor der Brücke warteten, sich irritiert ansahen.
„Man muss nicht alles verstehen", zuckte Liam mit den Schultern und beobachtete, wie die beiden Männer sich langsam fortbewegten und dabei kicherten, wie zwei kleine Schulkinder.
Niall würde Harry's Stimmungsschwankungen wohl nie verstehen. Mittlerweile war er daran so gewohnt, dass ihn noch nicht einmal die Tatsache beunruhigte, dass er mitten im Himalaya auf einer Brücke stand, die Hand des Bergführers hielt und sich ins Fäustchen lachte.
Ein Bild für Götter.
„Du kannst der Brücke vertrauen", sagte Louis schließlich, noch immer leicht lachend. „Mach einfach einen Schritt nach dem Nächsten."
Harry hatte langsam ein Gefühl für die Brücke bekommen.
Nur leider erst, als sie schon fast am anderen Ende angekommen waren.
Das war nun so nah, dass Harry sich mit einem Schlag wieder sicher fühlte.
Louis stieg zuerst auf den festen Boden, dann zog er Harry zu sich, dessen Hand er noch immer in seiner hielt.
Einen Moment lang sahen sich die Männer in die Augen.
Blau traf auf Grün.
Kleine Blitze durchzuckten Louis' Körper.
Ob nur er es war, der das leichte Kribbeln in der Magengegend spürte?
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Hallo meine Lieben♥️
Einen schönen Freitagabend wünsche ich euch.♥️
All the love,
Helena xx
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