o4. Als wäre es meine Erste
Schließlich kam die Gruppe in Phakding an.
Es handelte sich um ein malerisches Dorf am Ufer des Dudh Koshi.
Die traditionellen Steinhäuser und die ländlicher Umgebung verliehen dem Ort eine ruhige Atmosphäre.
Es war ein angenehmer Zwischenstopp, der Harry zum ersten Mal seit Beginn des Tages aufatmen ließ.
Die Männer kehrten zur Übernachtung in ein Teehaus ein.
Dieses bot einfache Zimmer mit Gemeinschaftsbädern und einer rustikalen Einrichtung - doch es war genug für eine Nacht und vor allem war es authentisch.
Harry, der sich ein Zimmer mit Niall teilte, kam am ganzen Körper zitternd aus der Dusche zurück.
Warm würde ihm in den nächsten Wochen wohl selten sein, auch wenn die Teehäuser beheizt waren.
Irgendwie schien er die Kälte mit nach drinnen genommen zu haben.
Niall, der bereits mit einem Buch im Bett lag, konnte sich ein schadenfrohes Kichern nicht verkneifen. „Du siehst aus wie ein nasser Pudel."
Harry verdrehte die Augen und warf sein einziges Kissen nach Niall. „Halt die Klappe."
Mit einem Schmunzeln auf den Lippen und dem Blick in seinem Buch blätterte Niall die Seite um. „Schon blöd, dass man sich hier in den Bergen die Locken nicht mehr glatt föhnen kann."
Harry verfluchte die Tatsache, dass er kein weiteres Kissen mehr hatte, das er nach seinem besten Freund hätte werfen können. „Hast du einen Clown gefrühstückt?"
„Nein", antwortete Niall. „Ich bin nicht der Scherzkeks, der hier auf den Mount Everest spazieren wollte."
Obwohl eine gewisse Belustigung in seiner Stimme mitschwang, so spürte Harry das schlechte Gewissen in seinem Inneren wieder wachsen.
Niall war nicht hier, weil er es gewollt hatte.
Er war hier für Harry's Wunsch, riskierte sein eigenes Leben und ging an seine körperlichen Grenzen.
Und das alles für den Traum seines Freundes.
Doch Niall wusste zweifelsfrei, dass Harry keine Sekunde zögern würde, das Selbe für ihn zu tun.
Für ihn hatte es gar keine Alternative gegeben. Für ihn war von Anfang an klar gewesen, dass er Harry nicht allein auf den höchsten Berg der Welt steigen lassen würde.
Nichts, oder fast nichts, hätte ihn davon abhalten können.
Alle Versuche, den jungen Mann zur Vernunft zu bringen, waren gescheitert.
Hundert, wenn nicht Tausend Mal hatte Niall versucht, Harry sein waghalsiges Vorhaben auszureden.
Bis zum letzten Tag vor der Expedition hatte er nicht aufgegeben, auch wenn ihm natürlich klar gewesen war, dass er auf verlorenem Posten kämpfte.
Harry hatte sich diesen Traum schon relativ früh in den Kopf gesetzt, doch Niall hatte nicht damit gerechnet, dass er eines Tages ernsthaft ins Auge fassen könne, ihn zu verwirklichen.
Und eines war sicher: Wenn Harry sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war es unmöglich, ihn vom Gegenteil zu überzeugen.
Also war er mit ihm auf eine Tour zum Everest aufgebrochen.
Und hier saß er nun.
Mitten im Himalaya, auf der ersten Station zum Everest Basislager und fragte sich, ob er sein Versprechen an Harry's Frau Violet würde halten können.
Er hatte ihr versprochen, Harry heil wieder mit nach Hause zu bringen - immerhin war sie schwanger und saß nun allein zu Hause, während er zum Bergsteigen ans andere Ende der Welt geflogen war.
Schließlich warf er seinem Freund das Kissen zurück. „Hier", scherzte er. „Damit dein Lockenkopf heute Nacht nicht auf der harten Matratze liegen muss."
Niall zog Harry für sein Leben gern mit seinen braun gelockten Haaren auf - die er selbst überhaupt nicht leiden konnte.
Seit seiner Kindheit regte er sich über die natürlichen Wellen auf, die ihm fast bis zur Schulter reichten.
Harry fing das Kissen auf und warf es auf sein Bett. „Musst du mich wirklich so deutlich spüren lassen, dass du sauer auf mich bist?"
Niall zuckte die Schultern. „Ich bin nicht sauer", antwortete er. „Ich glaube nur, dass du den Verstand verloren hast, aber das ist nun auch wirklich nichts Neues."
Harry presste die Lippen aufeinander und erinnerte sich daran, dass Niall nur seinetwegen hier war, als er ihn leise kichern hörte.
Da hatte heute wohl jemand ein Witzebuch verschluckt.
Entnervt schüttelte Harry den Kopf und legte sich schließlich in sein Bett.
Alles in allem war die Wanderung schließlich doch eine große Anstrengung gewesen und er brauchte dringend etwas Ruhe und Schlaf, bevor sie schließlich weiter weitergingen, um endlich das Basislager und damit den wirklichen Start der Expedition zu erreichen.
Also stand als nächstes ein Abstieg durch Chaurikharka und Chhleplung an.
Harry war froh, wenn er die Namen der Dörfer überhaupt richtig aussprechen konnte.
Als er sich schließlich viel später in sein Bett legte, um am nächsten Tag fit zu sein, konnte er kaum schlafen.
Er verbrachte Stunden in einem Zustand des Halbschlafes, bevor er sich schließlich auf den Weg nach draußen machte, um ein bisschen frische Luft zu schnappen.
Das könnte schließlich nicht schaden, und so bot sich ihm ein wunderschöner Anblick.
Verschlafen lag das Dorf mitten in der Nacht in fast völliger Dunkelheit, und doch war die Atmosphäre eine ganz Besondere.
Plötzlich hörte er eine Stimme hinter sich, die er kannte.
„Kannst du auch nicht schlafen?", wollte Louis seufzend von ihm wissen.
Auch er hatte stundenlang wachgelegen, anstatt wie alle anderen einzuschlafen.
Harry nickte und rollte mit den Augen. „Ich weiß es nicht", antwortete er also. „Normalerweise kann ich immer schlafen."
„Vielleicht bist du einfach nervös", vermutete Louis, als er sich neben ihn stellte und sich gegen das aus massivem Holz bestehende Gelände des Balkons.
„Das kann schon sein", gab Harry schließlich zurück. „Immerhin weiß man ja nie, was einen da oben erwartet."
Louis nickte zustimmend. „Ja, man muss die Gefahren definitiv kennen", erwiderte er. „Ich bin immer noch vor jeder Bergtour aufgeregt, als wäre es meine Erste."
Verwundert zog Harry die Augenbrauen nach oben. „Im Ernst?"
Louis nickte. „Ich weiß, dass Bergtouren, besonders auf so hohe Berge sehr gefährlich sein können. Und trotzdem ziehen sie mich immer wieder an wie ein Magnet."
Da musste Harry plötzlich an Niall denken, der nach dem Tod seines Vaters zuerst eigentlich nie wieder bergsteigen hatte wollen.
Viel zu groß war das Risiko gewesen, unterwegs zu sehr an seinen Vater erinnert werden könnte.
Doch irgendwann war Niall ganz von selbst auf ihn zugekommen und hatte ihm nach einer fast zweijährigen Pause erklärt, dass er jetzt wieder einsteigen wolle.
Natürlich mussten all die Muskeln, die man für diesen Sport brauchte, bei ihm neu trainiert werden, was einige Male dauerte - aber es hatte sich definitiv gelohnt.
Ähnlich hatte es Harry bei seinem Unfall am Matterhorn ergangen.
Harry und Niall waren unsterblich zusammengewachsen.
Körperlich wie geistig waren sie einander so nah wie Brüder - ganz ohne Berührungsängste oder Scham.
Keiner von beiden konnte sich ein Leben ohne den Anderen vorstellen.
Sie waren in den dunkelsten Stunden füreinander da gewesen, hatten alles andere hinten angestellt und sich Zeit genommen, um die Wunden zu heilen, die das Schicksal in ihre Seelen gerissen hatte.
Es gab nichts auf dieser Welt, das sie jemals hätte trennen können.
Schließlich ließ Harry seinen Blick über die noch grüne Landschaft gleiten, die sich bald in ewiges Eis verwandeln würde.
Langsam drehte er seinen Blick zu Louis, während er noch immer seinen Gedanken nachhing.
„Hast du schon einmal jemanden am Berg verloren?", wollte er wissen, beinahe ohne darüber nachzudenken.
Der Ausdruck auf Louis' Gesicht verdunkelte sich.
Er war sichtlich überrascht von der Frage.
Bevor er antwortete, richtete er seinen Blick wieder in die Ferne und spürte, wie die Erinnerung sich in ihm ankündigte wie eine Lawine.
„Ja", antwortete er schließlich. „Ich glaube, wenn man sein Leben lang in den Bergen unterwegs ist, ist das immer mit Verlusten verbunden."
Louis' direkte Antwort brachte Harry einen Moment lang aus dem Konzept.
Dann allerdings musste er zugeben, dass er Recht hatte.
Er kannte kaum jemanden, dem es anders ergangen war.
„Mein damaliger Lebenspartner ist bei einer gemeinsamen Tour an der Annapurna abgestürzt und über eintausend Meter in den Tod gestürzt", erzählte Louis, ganz selbstverständlich, als hätten sie einander schon Jahre gekannt. „Man hat seinen Körper kurz darauf in der Nähe des Basislagers gefunden."
Harry, der nicht wusste, ob er mit dieser Art von Ehrlichkeit gerechnet hatte, schluckte. „Das tut mir leid", flüsterte er und konnte Louis' Blick plötzlich nicht mehr ausweichen. „Dieser Berg hinterlässt nur Tod und Leid."
In Louis' Augen spiegelte sich Überraschung. „Was meinst du?"
Ohne groß darüber nachzudenken, zuckte Harry mit den Schultern. „Niall's Vater ist am gleichen Berg tödlich verunglückt", erwiderte er, ohne dabei ins Detail zu gehen.
Im nächsten Moment fragte er sich, warum er Niall die Entscheidung, von seiner Geschichte zu erzählen, nicht selbst überlassen hatte.
Das hatte er bisher immer getan, ohne es großartig zu hinterfragen.
Für ihn war schlichtweg nie etwas Anderes in Frage gekommen.
Ein tiefes Seufzen drängte sich aus Louis' Brust. „Deshalb ist er also so zurückhaltend."
Obwohl Harry's Schuldgefühl in diesem Moment bis ins Mark reichte, war er beeindruckt von Louis' Fähigkeit, Menschen zu lesen.
Niall versuchte mit aller Kraft, sich nichts anmerken zu lassen - wie immer, wenn er unter Fremden war.
Niemand außer Harry hatte je hinter seine Fassade blicken können.
Louis presste die Lippen zusammen, bevor er versuchte, die Erinnerung wieder zurück in die Schublade zu stecken, in die er sie gesperrt hatte.
Eigentlich kam sie auch nicht ungefragt über ihn - er spürte, wie sein ganzer Körper plötzlich bebte.
„Jemanden am Berg zu verlieren, ist anders", hörte Harry ihn mit zitternder Stimme sprechen. „Es ist so brachial."
____________
Hellooo🤗♥️
Na, was sagt ihr bis jetzt zu der Situation?♥️
All the love.
Helena xx
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro