40. Nur noch ein bisschen
Die Männer kämpften sich Meter um Meter durch das letzte Gletscherfeld. Die Kälte kroch unaufhaltsam durch ihre Kleidung, und die Erschöpfung lastete schwer auf ihnen. Das Basislager war in Sichtweite, ein kleines Meer aus Zelten, das wie ein Zufluchtsort am Ende dieser anstrengenden Reise wirkte. Die grelle Nachmittagssonne hatte sich in die tieferen Wolken zurückgezogen, und eine gedämpfte Stille lag über den verschneiten Hängen, die sie noch von ihrem Ziel trennten.
Louis hielt Harry an der Schulter, half ihm über eine vereiste Stelle und sah mit wachsender Sorge in sein bleiches Gesicht. Harrys Augen wirkten glasig und verloren, als er sich taumelnd an ihn klammerte. Seine Schritte wurden unregelmäßig, die Atmung ging stoßweise, als würde er jeden Atemzug mit Anstrengung aus seiner Brust zwingen. Louis spürte die Erschöpfung in Harrys Griff, seine Finger waren kalt und kraftlos.
„Komm schon, Harry. Das Basislager ist direkt da vorne. Nur noch ein paar Schritte," sprach Louis ihm beruhigend zu, versuchte, ihm etwas von seiner eigenen Willenskraft zu geben. Doch Harry schien kaum zuzuhören. Seine Augen flackerten, als wäre er hin- und hergerissen zwischen Bewusstsein und etwas Dunklem.
Niall schloss sich ihnen an, legte eine Hand auf Harrys anderen Arm und warf Louis einen fragenden Blick zu. „Harry, hörst du mich?" fragte er eindringlich, doch Harry reagierte nur schwach. Seine Augen rollten kurz nach hinten, und ein zittriges Lächeln huschte über sein Gesicht.
„Ich...", begann er, aber verlor sich im nächsten Augenblick, als hätte er vergessen, was er sagen wollte. Als es ihm dann wieder einfiel, war mehr als eine Minute vergangen. „Ich dachte... wir wären schon längst unten."
Seine Stimme war brüchig und kaum zu verstehen. Er blinzelte, als würde ihm die Realität entgleiten, und plötzlich veränderte sich etwas in seinem Gesichtsausdruck. Ein leerer Blick legte sich über seine Züge, die Müdigkeit schien ihn völlig zu überwältigen.
„Harry..." murmelte Louis besorgt und zog ihn ein Stück näher zu sich, aber es war zu spät. Harrys Beine gaben abrupt nach, und bevor sie reagieren konnten, sackte er zusammen. Sein Körper wurde schlaff, die Hände rutschten von Louis' Schultern, und er sank schwer zu Boden, die Augen geschlossen und das Gesicht bleich.
Niall kniete sofort neben ihm nieder und tastete nach seinem Puls. „Verdammt", fluchte er, viel mehr zu sich selbst, als zu den anderen. „Sein Herzschlag ist gefährlich langsam", murmelte er angespannt und öffnete Harrys Jacke ein Stück, um nach seiner Atmung zu sehen. Zum Glück hob sich Harrys Brust langsam, wenn auch schwach. Doch auch Niall's eigener Herzschlag veränderte sich - und zwar in das genaue Gegenteil. Plötzlich raste sein Herz in seiner Brust, es fiel ihm schwer, zu atmen. Er wusste es ganz genau. Er wusste, wie gefährlich diese Situation war, und er wusste auch, dass Harry keine Chance hatte, wenn sie nicht so schnell wie nur irgendwie möglich eine vernünftige Lösung fanden.
Louis sah die Angst in Niall's Augen, und er spürte sie auch. Er brauchte kein Arzt zu sein, um zu realisieren, dass Harry's Zustand ernst war - so sehr, dass das Wort an sich eine Untertreibung war.
„Louis", keuchte Niall, außer Atem, weil sein Herz vor Aufregung noch einmal an Tempo zulegte. „Bitte, ruf die Bergrettung. Jetzt zählt jede Sekunde."
Louis nickte, und er tastete an seinem Gürtel nach dem Funkgerät. Sie waren fast am Basislager angekommen - auf dieser Höhe konnten Hubschrauber der Bergrettung problemlos landen. Es war ohnehin ein Wunder, dass Harry es überhaupt bis hier her geschafft hatte.
Sobald am anderen Ende der Leitung jemand seinen Funkspruch beantwortete, stellte Louis sich hastig vor, ehe er begann, ihr Problem zu schildern. „Wir stehen kurz vor der Rückkehr ins Basislager", erklärte er mit zitternder Stimme. „Ein Mitglied der Gruppe ist bewusstlos, höchstwahrscheinlich ein Höhenhirnödem."
Der Mann am anderen Ende der Leitung war augenblicklich hellwach. Louis hörte es in der Leitung leise knacken. „Schaffen Sie es noch bis zum Basislager?"
Prüfend warf Louis einen Blick zu Harry, dessen Kopf mittlerweile auf Niall's Jacke gebettet war. Der junge Arzt schüttelte den Kopf, als er Louis' fragenden Blick bemerkte.
„Nein", antwortete er also. „Aber es ist nicht weit. Höchstens drei Kilometer."
„Alles klar", kam es aus dem Funkgerät zurück. „Wir schicken euch einen Hubschrauber. „Ich melde euch umgehend im nächsten Krankenhaus an."
Obwohl diese Nachricht alles andere als erfreulich war, fiel Louis ein Stein vom Herzen. Dort würde Harry endlich die Hilfe bekommen, die er brauchte - und sie konnten nur hoffen, dass das noch rechtzeitig geschehen würde.
Louis wusste ganz genau, wie gefährlich Hirn- oder Lungenödeme waren. Er hatte sie unzählige Male gesehen, an Expeditionsteilnehmern, die es nicht mehr rechtzeitig wieder nach unten geschafft hatten. Er sah die gleichen Linien in Harry's Gesicht. Das fahle Weiß, das sich plötzlich auf den Wangen und um die Nase abzeichnete.
Niall war mittlerweile den Tränen nahe. „Komm schon, Harry", flüsterte er und schüttelte sanft den Oberkörper seines besten Freundes. Doch er bekam keine Reaktion. Noch nicht einmal ein erschöpftes Seufzen oder ein Zucken des kleinen Fingers. „Du kannst doch jetzt nicht einfach aufgeben..."
Liam beobachtete die Situation mit schwerem Herzen. Er konnte die Verzweiflung in Niall's Gesicht sehen, während er in seiner Medikamententasche fieberhaft nach dem Dexamethason suchte. Er zog eine Spritze auf und bemerkte, wie Louis das Funkgerät zurück an seinem Gürtel befestigte. Der Expeditionsleiter beobachtete Niall's zitternde Hände, die Harry's Oberschenkel freilegten, damit er ihm die Spritze in den Muskel injizieren konnte.
Louis strich Harry behutsam eine Strähne der braunen Locken aus dem Gesicht und versuchte, sich an dem Gedanken festzuhalten, dass die Bergrettung bald bei ihnen sein würde - dass es sich nicht mehr um Tage und Stunden handeln konnte.
„Denkst du, die Bergrettung kann hier landen?", fragte Liam und deutete demonstrativ auf die weite Fläche um sie herum.
Louis nickte. „Ich bin mir fast sicher."
„Wenigstens etwas", murmelte Liam und kniete sich ebenfalls neben Niall auf den Boden. Ihm fielen augenblicklich Harry's blaue Lippen auf. Trotz seiner Bewusstlosigkeit schien er am ganzen Körper zu zittern.
Louis konnte kaum glauben, was sich vor seinen eigenen Augen abspielte. Es war so surreal, so fremd - als würde er sich selbst von außen dabei beobachten, wie er fassungslos zusah, als Niall ihm das Medikament spritzte.
Die Angst in seinem Inneren war unendlich; und doch funktionierte er ohne Einschränkungen, als Harry's Oberkörper gefährlich zusammenzuckte. Einmal. Zweimal.
Louis und Niall griffen augenblicklich nach seinen Schultern, um ihn zur Seite zu drehen. Liam half ihnen mit den Beinen.
Sie schafften es gerade rechtzeitig, bevor ein Schwall von Erbrochenem sich aus Harry's Mund drängte. Für einen Moment nahm er seine Freunde wahr, die allesamt neben ihm knieten. Er nahm auch den grausamen Schwindel und die Übelkeit war, die jede Zelle seines Körpers zu erfüllen schienen.
Doch dann wurde alles wieder schwarz. Er kam gar nicht dazu, sich zu orientieren oder gar einen klaren Gedanken zu fassen. Er sank wieder zurück in die schmerzlose Dunkelheit und das unendliche Nichts.
In diesem Zustand gab es keine Schmerzen, keine Verwirrung, keine Kälte. Er war einfach nur.
Niall blickte beinahe flehend in den Himmel, auf der Suche nach einem Hubschrauber der Bergrettung.
Obwohl er wusste, dass der Hubschrauber bis zu einer ganzen Stunde benötigen konnte, um sie zu erreichen, hoffte er doch, dass sie es früher schaffen würden. Sie hatten keine Zeit zu verlieren. Harry's Puls schien zwar stetig auf einem Level zu bleiben, doch das konnte sich jederzeit ändern.
Harry's Lippen nahmen langsam eine bläuliche Verfärbung an. Sein Körper zitterte, und er lag noch immer auf der Seite.
„Wir sollten ihn aus seinem Erbrochenem holen", murmelte Liam und nickte mit dem Kinn in die Richtung von Louis' Schuhen, die auch etwas davon abbekommen hatten.
Niall nickte, und die Männer hoben den Körper ihres Freundes behutsam an, um ihn einen halben Meter weiter wieder abzulegen. Der Arzt holte seine Jacke nach, um sie ihm erneut unter den Kopf zu legen, damit er mit diesem nicht im eiskalten Schnee musste. Obwohl er am ganzen Körper vor Kälte regelrecht schlotterte, machte ihm das nichts aus. Solange er etwas für Harry tun konnte, würde er es auch tun.
„Harry...", flüsterte Niall, regelrecht flehend. Einzelne Tränen bahnten sich den Weg über seine Wangen nach unten. Seine Stimme zitterte, als Louis eine Wärmedecke über ihm ausbreitete.
Louis, der bis zu diesem Zeitpunkt noch in einem Zustand der absoluten Verleugnung der Realität verharrt hatte, spürte jetzt doch sehr deutlich, wie die Ernsthaftigkeit der Situation zu ihm hindurch sickerte.
Sein Herzschlag beschleunigte sich um das mindestens dreifache; er konnte seinen Blick nicht mehr von Niall lösen, der noch einmal nach dem Puls seines besten Freundes tastete.
Da war er.
Der Moment, vor dem sie alle sich am meisten gefürchtet hatten. Der Moment, in dem einer von ihnen in einen lebensbedrohlichen Zustand verfiel.
Louis konnte nicht anders, als sich unglaublich schuldig zu fühlen. Sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen, als er sich daran erinnerte, wie oft Niall und er darüber diskutiert hatten, ob sie tatsächlich weiter aufsteigen sollten - und wie sie sich am Ende dafür entschieden hatten, weil Harry's Zustand zumindest stabil genug erschien, um den Gipfelsturm zu wagen.
Im Nachhinein wünschte Louis sich, er hätte die Expedition augenblicklich abgebrochen - auch, wenn er damit vermutlich Harry's Zorn auf sich gezogen hätte. Manchmal war es besser, die Wut eines geliebten Menschen zu akzeptieren, als dessen Verlust.
Wie hatten sie die offensichtlichen Zeichen nur so gnadenlos übersehen können?
„Sein Puls ist stabil", sagte Niall, der versuchte, Harry mit seinem Körper gegen den Wind abzuschirmen. „Aber ich befürchte, dass er an den Extremitäten einige Erfrierungen davontragen wird..."
Liam seufzte hörbar auf und beobachtete mit wachsender Besorgnis, wie Niall ebenfalls am ganzen Körper zitterte, seitdem er seine Jacke ausgezogen hatte. „Die Bergrettung müsste jeden Moment hier sein", versuchte er, ihn zu beruhigen, während er sich neben ihn kniete und ihm eine Hand auf die Schulter legte. „Können wir irgendetwas für dich tun?"
Niall schüttelte den Kopf, geistesabwesend, beinahe nicht anwesend. Alles, woran er denken konnte, war Harry, der völlig reaktionslos vor ihm lag.
Mit einem Mal fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Jetzt, wo sie wieder in niedrigere Höhenlagen abgestiegen waren, schien sein rationales Denken wieder besser zu funktionieren, und er erinnerte sich an die vielen Momente am Morgen, an denen Harry nahezu unerweckbar gewesen war; die Übelkeit, die Schläfrigkeit, der Schwindel, die unkoordinierten Bewegungen. Sie hätten längst umkehren müssen.
Niall und Louis tauschten einen Blick miteinander aus, und sie wussten im selben Moment, dass sie das Gleiche dachten. Keiner von beiden würde es sich jemals verzeihen, sollte das hier schiefgehen. Und die Wahrscheinlichkeit für ein solches Szenario stieg von Minute zu Minute.
Louis wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen, als sich erneut gurgelnde Laute aus Harry's Rachen drängten. Erneut floss Erbrochenes aus seinem Mund, und erneut strich Niall ihm das schulterlange Haar aus dem Gesicht und zog die Mütze zurück über seine Ohren.
Noch nie in seinem Leben war ihm so eiskalt gewesen, wie in diesem Moment.
„Alles wird gut", flüsterte Louis, während er sanft über Harry's Wange strich, als könnte er ihn dadurch aus seinem Zustand erwecken, ihn wieder zurück zu ihnen holen. „Alles wird gut."
Fieberhaft überlegte Niall, ob es noch irgendetwas gab, was er tun konnte, ob es irgendetwas gab, das er übersah.
Aber er hatte alles getan, was er tun konnte. Mehr gab es für ihn nicht zu tun; und trotzdem fühlte es sich unglaublich falsch an, so untätig neben seinem besten Freund zu knien. Neben dem Mann, der eigentlich wie ein Bruder für ihn war, den er immer mehr geliebt hatte, als irgendjemanden sonst.
Er konnte sich nicht vorstellen, ihn zu verlieren.
Er hätte alles getan, um das Schlimmste zu verhindern - und doch konnte er nichts mehr tun.
Die Schuld nagte auch an Louis, als die Männer Harry's Körper ein weiteres Mal anhoben, um ihn nicht in seinem Erbrochenem liegen zu lassen. Er sah die Blässe in Harry's Gesicht, die sich immer weiter ausbreitete. Mittlerweile war sie von den Wangen auch nach unten zum Kinn gewandert, und seine Stirn färbte sich ebenfalls langsam in dem fahlen Weiß, das er schon viel zu oft gesehen hatte.
Die Lippen waren noch immer blau, doch Louis hatte das Gefühl, dass sich ihre Farbe noch weiter verdunkelt hatte.
Ein ungutes Gefühl machte sich in ihm breit, und als er Harry's Hand in die seine nahm, flossen die ersten Tränen über sein Gesicht.
Er fühlte sich ähnlich machtlos wie damals, als er Nick verloren hatte - nur dass es ihm dabei erspart geblieben war, ihm direkt beim Sterben zuzusehen.
Harry hingegen schien langsam hinüber auf die andere Seite zu wandern, und es gab nichts, was sie dagegen hätten tun können. Absolut gar nichts.
Die Männer hockten eng um Harry versammelt, die Kälte biss durch ihre Kleidung. Die Funkgeräte knisterten gelegentlich, doch die Bergrettung war noch nicht eingetroffen. Der Schnee unter ihren Füßen war festgetreten, und der Atem der Männer hing in der eisigen Luft. Harry lag regungslos auf einer improvisierten Unterlage aus allem, was sie an Stoffen und Wärmequellen hatten finden können. Louis hielt seine Hand und strich mit zitternden Fingern über den Handschuhstoff, flüsterte ihm leise beruhigende Worte zu, auch wenn er wusste, dass Harry sie nicht hören konnte.
Plötzlich verkrampfte sich Harrys Körper. Seine Augen rissen auf, die Pupillen starr und glasig, und ein unnatürliches Zucken begann in seinen Armen und Beinen. Es war, als würde eine unsichtbare Kraft ihn schütteln. Die Männer erstarrten.
„Scheiße", fluchte Niall zischend. „Scheiße, Scheiße, Scheiße."
„Was ist das?" Louis' Stimme war panisch, fast ein Schrei. Seine Augen suchten Niall, der keine Sekunde zögerte, bevor er instinktiv handelte.
Harry's Kopf fiel zur Seite, und seine Zähne schlugen klirrend aufeinander.
„Er hat einen Krampfanfall." Niall warf seinen Rucksack zur Seite und durchwühlte ihn hastig. „Louis, halt ihn auf keinen Fall fest! Lass ihn sich bewegen, aber sorg dafür, dass er sich nicht verletzt."
Louis wich zurück, seine Hände zitterten, als er Harry losließ. Doch die Panik war deutlich in seinen Augen zu sehen. „Niall, er... er sieht aus, als würde er sterben..."
Der Schaum, der an seinen Lippen erschien, war das letzte Puzzleteil, das Niall erschrocken zusammenfügen musste. Die Atmung wurde flach und unregelmäßig. Seine Beine zuckten in kurzen, ruckartigen Bewegungen, während sich seine Hände zu Fäusten ballten und wieder lösten.
„Er stirbt nicht. Aber wir müssen den Anfall stoppen", antwortete Niall und warf Liam einen schnellen Blick zu. „Stütz seinen Kopf mit etwas Weichem, aber vorsichtig, damit er sich nicht wehtut."
Liam zögerte nur kurz, dann stopfte er Niall's zusammengefaltete Jacke unter Harrys Kopf, um ihn vor den scharfkantigen Steinen und Eisbrocken zu schützen. Louis war wie gelähmt, seine Hände zitterten, während er sich abwandte, unfähig, den unkontrollierten Zuckungen seines Liebsten zuzusehen.
„Niall, mach was!", rief er, und seine Stimme war ein verzweifelter Schrei, voller Panik und Hilflosigkeit.
„Ich tu schon alles, was ich kann!" entgegnete Niall mit scharfer Stimme, ohne aufzublicken. Sein Inneres jedoch war voller Angst. Er wusste, dass er keine Zeit zu verlieren hatte. Harrys Atmung war unregelmäßig, flach, und die Zuckungen wurden heftiger.
Niall zog eine Ampulle Diazepam hervor – ein Beruhigungsmittel, das bei Anfällen eingesetzt wurde, um sie zu unterbrechen. Seine Hände zitterten leicht, als er die Spritze vorbereitete. „Louis, ich brauche jetzt deine Hilfe", sagte er, sanft, aber bestimmt. Der Expeditionsleiter drehte sich zu ihm um und zwang sich, seinen Blick zu treffen. „Halt seine Seite ruhig, damit ich eine Vene finden kann."
Louis starrte ihn entsetzt an, dann nickte er. „Okay", murmelte er, viel mehr, um sich selbst zu beruhigen. „Okay..."
Er beugte sich über Harry, hielt ihn vorsichtig an der Schulter, ohne ihn zu behindern, und beobachtete jede Bewegung von Niall's Händen.
Der Arzt tastete an Harry's Arm, suchte unter der blassen Haut die richtige Stelle. Die kalte Temperatur und die eingeschränkte Durchblutung machten es schwer, eine Vene zu finden, doch Niall wäre niemals in den Sinn gekommen, aufzugeben. Schließlich fand er eine, die ausreichend zugänglich war. Er führte die Nadel präzise ein und injizierte die Lösung langsam, aber bestimmt. In dieser Situation war er froh, seinem Freund überhaupt eine Spritze geben zu können - da würde er sich mit Sicherheit nicht noch damit aufhalten, die Stelle zu desinfizieren.
„Das Diazepam wird ihn beruhigen," erklärte Niall, während er die Nadel entfernte und die Einstichstelle leicht komprimierte. „Es dauert nur ein paar Minuten, bis es wirkt."
Die Zuckungen begannen nachzulassen, zuerst in den Armen, dann in den Beinen. Harry's Körper entspannte sich allmählich, seine Atmung wurde etwas regelmäßiger, doch er war nach wie vor bewusstlos. Ein Röcheln entkam ihm, und ein Würgen ließ Louis sofort panisch aufschauen.
„Er wird sich übergeben. Schon wieder" rief Louis, der sofort Harrys Kopf zur Seite drehte, um sicherzustellen, dass die Atemwege frei blieben.
„Gut so" murmelte Niall, seine Stimme angespannt, aber dankbar. Er half ihm schließlich, Harry's Körper erneut zur Seite zu drehen. „Halte ihn so, damit er sich nicht an seinem eigenen Erbrochenen verschluckt. Wir müssen ihn überwachen, bis die Rettung da ist."
„Was, wenn der Anfall wiederkommt?", fragte Liam, dessen Gesicht blass war, während er die Umgebung im Blick behielt.
„Ich habe ihm die richtige Dosis gegeben. Sollte es nicht ausreichen, habe ich noch eine Ampulle dabei. Aber wir dürfen keine Zeit mehr verlieren," antwortete Niall knapp und sah Louis eindringlich an. „Louis, sprich weiter mit ihm. Selbst wenn er dich nicht hören kann, deine Stimme könnte ihn beruhigen."
Louis' Stimme zitterte, doch er sprach zu Harry, hielt seine Hand fest umklammert. „Bleib bei uns, Harry. Die Rettung müsste jeden Moment eintreffen. Du schaffst das, hörst du?"
Das Funkgerät knisterte, und Liams Gesicht entspannte sich ein wenig. „Der Hubschrauber ist fast hier. Sie suchen nach uns."
Die Worte brachten etwas Erleichterung, doch der Anblick von Harrys reglosem Körper, der in Louis' Armen lag, trübte die Hoffnung. Louis kämpfte mit seinen Tränen, während Niall Harrys Vitalwerte überprüfte. Der Wind tobte weiter um sie herum, doch nichts schien so bedrohlich wie das, was sie in Harrys schwachen Atemzügen hörten.
Ein erschöpftes Stöhnen drängte sich aus dessen Brust, als Niall seinen Kopf vorsichtig auf seinen Schoß bettete.
„Ist es vorbei?" Louis' Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Er beugte sich vor, suchte verzweifelt nach einem Zeichen, dass Harry noch bei ihnen war.
„Für den Moment, ja," antwortete Niall schwer atmend. Er kniete sich näher zu Harry, überprüfte mit zitternden Fingern Puls und Atmung. „Sein Puls ist schwach, aber da. Die Injektion wird uns etwas Zeit verschaffen, aber wir müssen ihn hier rausbringen. Schnell."
„Halt durch, Harry," flüsterte Louis, Tränen flossen ihm über die Wangen. „Nur noch ein bisschen."
Dann, endlich, hörten sie das Surren von Rotorblättern in der Ferne. Der Hubschrauber.
Liam sprang auf und schirmte seine Augen mit der Hand gegen den Wind ab, als er den Himmel nach der Bergrettung absuchte. Als er den Hubschrauber zwischen all den Schneeflocken erkennen konnte, streckte er beide Arme aus und machte auf die kleine Gruppe aufmerksam. „Wir sind hier!"
Louis spürte, wie sein Herz vor Erleichterung einen kleinen Sprung machte. Er blickte zu Niall hinüber, der in den Himmel blickte, ebenfalls den Arm vor dem Gesicht, um sich gegen den Wind zu schützen, der durch die Rotorblätter des Hubschraubers verstärkt wurde.
Harry hatte einen kurzen Moment des Bewusstseins, doch er reichte nicht aus, um ihn begreifen zu lassen, was um ihn herum geschah - er hörte diesen unsagbaren Lärm, konnte ihn aber nicht zuordnen. Die Spitzen seiner Finger waren taub, die Kälte des Windes brannte in seinem Gesicht. Er konnte Niall hören, wie er über den Lärm hinweg nach Louis rief, und nur eine Sekunde später verzog er vor Schmerzen das Gesicht, als er bemerkte, wie sehr sein Kopf dröhnte. Es war eine andere Art von Kopfschmerz, als die, die er aus dem Alltag oder von einem Kater kannte. Das hier war anders. Vermutlich der schlimmste Schmerz, den er jemals gespürt hatte. Noch nicht einmal die zertrümmerte Schulter in der Nordwand des Matterhorns hatte so sehr wehgetan.
Sanft drückte er Louis' Hand, die die seine noch immer festhielt, als könnte er ihn damit irgendwie in die Realität zurückholen. Louis' Blick haftete sich augenblicklich auf ihn, und für einen Moment sahen sie einander an. Zwischen ihnen lagen so unglaublich viele, unausgesprochene Worte.
Doch bevor Louis überhaupt den Mund öffnen konnte, rollten Harry's Augen zurück, und seine Lider flatterten einen Moment lang, bis sie sich schließlich wieder schlossen.
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Ach Freunde, ich wünschte, ich könnte euch schon sagen, wie es ausgeht.😂
Aber ein bisschen muss ich euch noch auf die Folter spannen. Habt ihr schon irgendwelche Vermutungen?😅
Hattet ihr schon einmal einen Krampfanfall? Oder kennt ihr jemanden, der schon einmal einen hatte? Ich finde, man vergisst so schnell, dass es so viele unterschiedliche Auslöser dafür gibt. Lasst es mich gern in den Kommentaren wissen!🤍
Bitte hasst mich jetzt nicht. Ich schwöre, ich gebe mein Bestes, Harry zu retten😅😂❤️
Ich freue mich schon auf eure Rückmeldungen.💗
All the love,
Helena xx
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