
8. Kapitel: "Ist das alles, was bleibt?"
„Du ziehst 'n Gesicht wie für immer Regenwetter, was ist denn los mit dir?" Vincents schwarzes Ungetüm von Stuhl dreht sich und ich blicke in das fragende Gesicht meines besten Freunds. Desinteressiert stecke ich meine Nase wieder zwischen die Seiten des zerfledderten Collegeblocks, in den ich für gewöhnlich meine Texte kritzle, und starre auf die vier Worte in Paris Handschrift. Es tut mir leid – Wann hat sie das geschrieben?
Keine der Theorien, die ich mir so fieberhaft zusammenreime, erscheint mir auch nur ansatzweise plausibel und so langsam kriege ich Kopfschmerzen davon.
„Hier", seufze ich. Ruppig trenne ich das Blatt aus dem Block, zerknülle es und werfe es Vincent in den Schoß. Er faltet es auseinander und liest. Arglos kratzt er sich am Kinn.
„Dicka, wofür entschuldigst du – Moment, seit wann ist deine Handschrift so sauber?"
„Ist von Pari", sage ich und stütze die Ellbogen auf die Knie. Mein Nacken schmerzt.
„Hä?" Seine Verwirrung hält nicht lange an und er zieht diese Schnute, die er jedes Mal aufsetzt, sobald er beleidigt ist, was oft genug vorkommt. „Sag mir nicht, ihr hattet jetzt nochmal was miteinander", äußert er seine Vermutung. Vincent runzelt besorgt die Stirn. In seiner Stimme klingt der Vorwurf mit, den ich inzwischen fast schon gewohnt bin. Er schallt mir andauernd entgegen, egal, an wen ich mich wende. Wir haben das lang und breit ausdiskutiert, trotzdem hat Vincent mir nach wie vor nicht komplett verziehen, ich merke das.
„Nein, seit ich ihr Mikas Shirt vorbeigebracht habe, habe ich sie nicht mehr gesehen", antworte ich auf seine Frage.
Vincent weiß von unserem desaströsen letzten Treffen, ich habe ihm alles erzählt. Bloß den Teil mit Luna habe ich ausgespart.
„Alles gut bei dir? Willst du raus, was essen gehen?", schlägt er vor.
„Nee, lass mal", winke ich ab.
Vincent nickt und untersucht den Zettel. Er hält ihn vorsichtig nur zwischen Daumen und Zeigefinger. Man könnte fast meinen, er würde ein Beweismittel sichern. Als er meinen Blick bemerkt, mustert er mich eindringlich.
„Dag, sei ehrlich, von wann ist das?"
„Ich weiß es nicht, okay?", zische ich. „Sie muss das irgendwann vor 'ner Ewigkeit schon geschrieben haben. Vielleicht hatte sie da schon geplant, mich abzusägen." Resigniert fahre ich mir durch die Haare und zücke eine von meinen verbliebenen Luckys. Vincent kommt zu mir und setzt sich neben mich auf die Couch.
„Hey, Mann ..." Er legt mir eine Hand auf die Schulter. „Ich sag's nur ungern, aber du musst dich mal fangen, Alter. Der Album-Release rollt auf uns zu und ich kann keine Interviews ohne dich geben."
Der Qualm, den ich ausatme, verflüchtigt sich nur Augenblicke später. Es kommt mir vor, als wäre das eine seltsame Metapher für Pari und mich.
Vincent boxt mich leicht in die Seite.
„Du bist doch der Gutaussehende von uns beiden."
Ich beiße die Zähne fest zusammen.
„Immer wieder schön, von allen darauf reduziert zu werden", grolle ich. „Wirklich geil." Wissend, dass er damit einen wunden Punkt bei mir getroffen hat, fällt er mit dem Rücken gegen die Sofalehne, die Arme vor dem Bauch verschränkt.
„Ich reduziere dich nicht darauf, wieso unterstellst du mir das?"
In mir kocht die Wut über, ich kann es nicht verhindern. Ich hasse meine Stimmungsschwankungen ja selbst, aber das ist alles viel zu viel gerade.
„Lass mich einfach in Ruhe, Vincent", keife ich und stehe auf, beginne rastlos in unserem Studio auf und ab zu laufen. „Ich verdiene es nicht, so behandelt zu werden!", brülle ich.
„Ey", meint Vincent scharf. Er packt mich und will mich zurück aufs Sofa drücken. Unkontrolliert schubse ich ihn weg.
„Fass mich nicht an!" Vincent schnappt empört nach Luft und breitet die Arme aus.
„Was zur Hölle? Bist du noch ganz dicht, haust du mir jetzt gleich noch eine rein, oder was?" Drohend funkle ich ihn an.
„Du sollst mich nicht anfassen." Vincent senkt die Stimme, geht aber nicht auf Distanz.
„Deine Heulerei wird dich nicht weiterbringen."
„Das sagst ausgerechnet du, der bei der Liebe seines Lebens so richtig reingeschissen hat", kontere ich reflexartig und Vincent schnaubt.
„Ja, sagt tatsächlich der Richtige. Ich habe mit Charlotte nämlich alles geregelt und wir sind seit gestern wieder zusammen." Perplex starre ich ihn an.
Die Anspannung weicht aus Vincents Körper und er schüttelt den Kopf.
„Glotz nicht so bescheuert. Ich hatte mir den Moment, in dem ich dir das stecke, auch anders vorgestellt." Er sinkt auf die Couch und nach einer halben Minute schaltet mein Hirn endlich.
Die Energie, die eben noch durch meine Adern geflossen ist, scheint völlig verpufft zu sein.
„Ich freu mich für dich ... Euch", korrigiere ich mich. „Ich freue mich für euch."
„Du klingst ja mega enthusiastisch, fast hättest du mich überzeugt", schmunzelt Vincent vorsichtig.
„Nee, echt. Glückwunsch." Ich zwinge mir ein Lächeln auf. „Ich bin nur neidisch", gebe ich zu.
Mein bester Freund sieht noch immer besorgt aus.
„Komm mal her, Mann", fordert er mich auf, und zieht mich dann in seine Arme. Er mag doch eigentlich keine Umarmungen, ich muss das übelste Häufchen Elend sein, wenn er sich freiwillig dazu überwindet.
„Du bist 'n toller Kerl", baut er mich auf. „Nicht nur, weil du gut aussiehst; auch weil du ein krasser Künstler und ein toller Typ bist. Du bist nicht umsonst mein bester Freund."
„Hör auf", bitte ich ihn. Vincent lässt mich los und ich schaue nach oben an die Decke. „Ich wollte nicht, dass du dich aufregst und wir deswegen Stress haben, aber ... Nachdem ich bei Pari dieses T-Shirt abgegeben habe, haben Luna und ich uns in einer Bar Nähe Warschauer Straße getroffen", eröffne ich es ihm nun doch.
„Du hast aber nicht ...?" Ich gebe einen abfälligen Laut von mir.
„Nein, Mann." Langsam sollte er doch gecheckt haben, dass zwischen Luna und mir nichts läuft. „Außerdem hat Lucas sich an sie rangemacht, Bros before Hoes und so."
„Puh", macht Vincent erleichtert.
„Sie meint, ich hätte nie versucht, ihr diese Illusion auszutreiben, dass aus ihr und mir mal was werden könnte", zitiere ich sie, denn Lunas Worte haben mich nachdenklich gestimmt.
„Was für ein Blödsinn, Digga." Vincent teilt mir mit einer Geste unmissverständlich mit, dass er Luna für durchgeknallt hält. „Ihr Problem, wenn sie kein Nein akzeptieren kann."
Ich zucke ratlos die Schultern.
„Wahrscheinlich."
Statt direkt nach der Session im Studio nach Hause zu fahren, treffe ich mich noch spontan mit Martin, einem Kumpel, den ich beim Parkour kennengelernt habe. Parkour hat mir gefehlt die letzten Tage. Beim Sport den Kopf auszuschalten ist easy. Den Kopf und das Herz. Lesen hat was für sich, zweifellos – Nur psychisch funktioniert eben nichts ohne physische Betätigung. Ich setze über das Geländer an der Spree und laufe auf das Sandrondell zu, in dessen Mitte ein Baum gepflanzt wurde. An einem der Äste kann ich mich hochziehen und mich von dort aus auf eine niedrige Mauer schwingen. Mit beiden Füßen lande ich fest darauf und halte einen Moment inne. Da ist ein Sprung. Von der Mauer, auf der ich stehe, mit den Händen an die Kante des Balkons; runter auf das Geländer der Feuertreppe und auf den geschlossenen Container. Martin übt an der gegenüberliegenden Seite eine krasse Kombination von Bewegungen, er ist beschäftigt.
Vielleicht ist das Geländer der Feuertreppe zu riskant. Es ist gerundet, ich könnte abrutschen. Andererseits ist die Höhe, sobald ich erstmal am Balkon hänge, kaum der Rede wert, da geht's dann nur circa einen halben Meter runter. Ich sollte sicher drauf landen können und dann kommt ja noch der Flow dazu, ich brauche also theoretisch nur genug Grip, um mich einmal abzudrücken und auf den Container rüber zu springen. Ich spiele den Bewegungsablauf vor meinem inneren Auge ab und atme tief durch.
Den Sprung an den Balkon meistere ich kurz darauf noch einwandfrei, aber ich habe unterschätzt, wie beansprucht meine Hände vom Training bereits sind. Die Haut an meinen Fingern reißt auf, als ich abrutsche und noch versuche, mich festzukrallen. Dabei krampfen meine Hände; ich falle, lande auf der scheppernden Feuertreppe genau zwischen zwei Stufen und rutsche noch zwei oder drei weiter runter.
„Dag!", ruft Martin. Ich kann ihm nicht antworten, der Schock hat meine Zunge gelähmt. Mein Kumpel kommt zu mir rüber gejoggt.
„Alles okay bei dir?", fragt er mich und ich nicke benommen, stehe auf und reibe mir übers Steißbein. Das gibt 'ne fette Prellung. „Was war dein Plan?", fragt Martin mich und begutachtet professionell die Umgebung. Sein Blick wandert zu dem Balkon, dann zum Container. „Balkon, Feuertreppe, Container?"
„Ja", lasse ich den Verdruss aus mir sprechen.
„Aiaiai, guck dir deine Hände an", fordert mein Trainingspartner mich auf, ehe er mich unschuldig anschaut. „Komm schon, lass uns für heute Schluss machen und Döner holen. Den Sprung machst du nächstes Mal."
„Sie werden den Container wegräumen", murre ich.
„Es gibt jeden Tag neue Spots. Heute geht gar nichts mehr bei dir, und das weißt du auch." Er klopft mir auf den Rücken. „Komm, Last Ten." Martin geht in die Liegestützposition und ich tue es ihm gleich. Während wir unsere letzten zehn Liegestützen machen, ignoriere ich das Brennen meiner Finger und stütze mich auf meinen unversehrten Handteller. Ich begreife noch immer nicht, warum ich den Sprung verpatzt habe. Ich hab ihn doch gesehen. Wie konnte ich mich selbst dermaßen überschätzen?
Einen Döner später habe ich gerade meinen finalen Bissen hinuntergeschlungen und mich mit meinem Versagen vorhin abgefunden, als Iara anruft. Erst überlege ich, sie einfach wegzudrücken, schließlich bin ich mit Martin unterwegs. Dann erinnere ich mich, dass ich sie nicht zurückgerufen habe, obwohl sie mich vor mittlerweile mehreren Wochen ausdrücklich darum gebeten hat.
„Sorry, Mann", entschuldige ich mich. „Da muss ich rangehen."
„Danke für deinen Rückruf", begrüßt Iara mich direkt schnippisch und ich verdrehe die Augen.
„Ja, tut mir leid. Ich hab keine Ausrede parat, hab's vergessen."
„Schon gut, du hast dich vom Rest der Welt abgekapselt. Ich verstehe das."
„Danke", murmle ich und zünde mir nebenbei eine Zigarette an.
„Du und Pari, ihr habt gestritten, als du hier warst." Sie braucht nicht nachzubohren, ich erzähle ihr direkt davon.
„Jap. Ist völlig eskaliert. Ich hab da was gefunden, wovon ich dachte, es würde ihr gehören", umschiffe ich, worum es sich bei diesem ominösen Gegenstand genau gehandelt hat. „Eins kam zum andern –"
„Du hast einen fremden Tanga bei dir gefunden", klärt sich mich trocken darüber auf, dass sie längst im Bilde ist. „Pari bei ihrer Vorgeschichte den Slip einer anderen Frau vors Gesicht zu halten, war so ein beschränkter Move von dir. Du hättest dir doch denken können, was passiert, falls der gar nicht ihr gehört."
„Woher sollte ich wissen, dass das nicht ihrer ist? Warum denken alle meine Freunde, dass ich erstmal rumhuren gehe nach der Geschichte mit Pari? Zick mich nicht an wegen diesem String, Iara, glaubst du, ich kann noch irgendwie klar denken, seitdem deine tolle beste Freundin mich sitzengelassen hat?", ärgere ich mich über ihre vorschnelle Verurteilung.
„Pari tut sich damit auch schwer, seit du ihr die Unterwäsche von irgendeiner deiner Verflossenen präsentiert hast. Bravo, Dag."
„Ich habe diesen Slip bloß vom Boden aufgehoben, den habe ich keiner Frau von den Beinen gezerrt, Iara. Glaub's mir oder lass es. Das Gleiche gilt für Pari."
„Ich glaube dir", wirft sie besänftigend ein. „Nur wär's interessant, wie Frauendessous sonst noch Eingang in deine Wohnung finden ...", nuschelt sie.
„Frag doch Pari. Sie verlassen meine Wohnung in der Regel mit den Frauen, die sie reingeschmuggelt haben", erwidere ich und ziehe an meiner Kippe.
„Oh, ich habe tausend Fragen an Pari." Das glaube ich gern. „Aber ich kann sie ihr nicht stellen. Ihr Handy ist aus." Meins auch gleich, nach diesem Telefonat.
„Sie wird ja wohl irgendwann nach Hause kommen."
„Das bezweifle ich", ertönt es am anderen Ende der Leitung und ich stutze unwillkürlich.
„Hä? Habt ihr euch in der WG jetzt komplett zerstritten?", hake ich ein.
„Nein, sie wohnt schon noch mit Mika und mir zusammen – Aber sie ist heute nach Shiraz geflogen."
„Sie ist im Iran?", frage ich ungläubig.
„Das war ihr Plan, schon seit 'ner Weile. Nach Paris hat sie mir im Taxi eröffnet, dass sie ein Urlaubssemester beantragen und mindestens den nächsten Monat bei ihrer Oma verbringen will."
Mein Mund klappt auf.
„Du verarschst mich. Warte, warte – Was? Sie hat sich verpisst, ohne mich einzuweihen?!" Ich balle die Hand, in der ich die Zigarette halte zur Faust. „Zwischen uns ist nichts geklärt!"
„Jetzt mach aber mal halblang!", unterbricht Iara mich. „Bei eurer letzten Begegnung hast du ihr noch ein schönes Leben gewünscht!", dreht sie den Spieß um und wird dabei genauso laut wie ich.
Ich hätte es wissen müssen Iara ist Paris beste Freundin, natürlich verteidigt sie sie.
„Meinetwegen soll sie ihr Leben im Iran genießen, ist mir scheißegal", knurre ich.
„Sie wird nicht für immer dortbleiben", informiert Iara mich und fügt sanfter hinzu: „Ich wollte mich ursprünglich bei dir entschuldigen, deswegen sollte Vincent dir ausrichten, dass du mich bitte so bald wie möglich zurückrufst."
Das bringt mich endgültig aus dem Konzept. „Wofür entschuldigen?"
Iara seufzt.
„Pari ist eine Art Fuckboy in weiblich. Sie ist zwar meine beste Freundin, aber daran gibt's nichts zu rütteln. Ich entschuldige mich bei dir, weil ich zu spät erkannt habe, wie tief sie schon in diesem ekelhaften Mindset dringesteckt hat, als ihr einander kennengelernt habt. Ich hätte sie dir nie vorgestellt und nie aktiv daran gearbeitet, euch miteinander zu verkuppeln, wenn ich das geahnt hätte." Iara legt eine gewichtige Pause ein. „Du hältst echt einiges aus, Dag, ich kenne das von mir selbst, wir sind uns da ziemlich ähnlich. Aber irgendwo ist Schluss; egal, wie perfekt sie für dich ist, unter der Schmutzschicht von Problemen, die ihr wahres Ich überschatten."
Wegen dir
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro