Kapitel 74 - Donnerstag, 15.9. (*1*)
Zwei Tage später läutete es um neun Uhr am Morgen an der Türe. Tom machte sich aus Sinas Armen frei, sie hatten gerade angefangen sich zu liebkosen. „Verdammt und zugenäht!" brummte er und öffnete die Türe.
Zwei junge Polizisten, Christoph und Andreas, wenn er sich recht erinnerte, standen vor ihm.
Gedanken sausten durch Toms Gehirn. Hatte er einen Einsatz? Hatte er das Telefon nicht gehört? War in Sinas Familie etwas passiert?
„Hallo, guten Morgen! Was gibt es?" fragte er besorgt.
„Hallo, Tom!" Die beiden sahen sehr unglücklich drein. „Zieh dich bitte an! Du musst mitkommen! Wir haben einen Haftbefehl gegen dich!" Andreas zog ein Formular aus der Tasche, hielt es Tom vor die Nase. Der versuchte zu lesen, die Buchstaben verschwammen ihm vor den Augen.
„Einen Haftbefehl? Spinnt ihr? Wegen was denn?" War heute der erste April? Kam gleich die versteckte Kamera zum Vorschein?
„Das klären wir auf dem Revier! Bitte, Tom, mach uns keine Probleme!" Christoph litt sichtlich unter der Situation. Der junge Sanitäter war ein toller Typ, alle schätzten ihn sehr wegen seiner professionellen Art bei Einsätzen.
„Hat es was mit den Brüdern von Sinas EX zu tun?" Tom klammerte sich an den Strohhalm, dass es nur eine dumme Kleinigkeit war, die schnell aus der Welt zu schaffen wäre.
„Nein!" Mehr wollten die beiden nicht preisgegeben. „Zieh dich bitte an!" Sie betraten die Wohnung, wollten ihm folgen. „Stopp! Ich springe bestimmt nicht aus dem Fenster im vierten Stock!"
Er ging vollkommen konfus ins Schlafzimmer. „Da sind zwei Polizisten! Die wollen mich mitnehmen! Sie haben eine Haftbefehl, sagen aber nicht, weswegen!" stammelte er.
„Was?" Sina sprang aus dem Bett und war eine Minute später angezogen. Sie raste ins Wohnzimmer. „Sind Sie irre?" schrie sie die beiden an.
„Bitte, Frau Christen, seien Sie vernünftig! Wir machen nur unsere Arbeit!" Andreas wäre am liebsten im Boden versunken. Die junge Frau war von ihrem Ehemann fast ermordet worden, dann hatte der sich umgebracht, wahrscheinlich, dann wurde sie von seinen Brüdern angegriffen, und jetzt mussten sie ihren Lebensgefährten abholen. Es wäre kein Wunder, wenn sie durchdrehte!
Tom wusch sich schnell das Gesicht, putzte die Zähne, zog sich an. Tausend Gedanken wirbelten durch seinen Kopf. Er zermarterte sich sein Gehirn, was man ihm vorwerfen konnte, hatte aber nicht die geringste Idee.
Was warf man ihm vor?
Ein Haftbefehl? Das war es keine Kleinigkeit! Mindestens etwas mit Körperverletzung! Aber er war sich überhaupt keiner Schuld bewusst!
Er rettete Leben, gefährdete sie nicht!
Oder eine Steuersache? Seit Jahren machte ein Fachmann diese Arbeit für ihn!
Irgendetwas mit den Abrechnungen? Aber da gab es doch nicht gleich einen Haftbefehl! Außerdem hatte er alles korrekt angegeben! Die Ärzte hatten alles abgezeichnet!
Ein Fehler bei einem Einsatz? Aber das müsste schon etwas sehr Dramatisches gewesen sein, er konnte sich an keinen Fall erinnern!
Er kam zurück, wirkte wie ferngesteuert. Die Polizisten nahmen ihn in die Mitte, Sina schnappte sich Handy, Geldbeutel und Schlüssel und lief hinter ihnen her.
„Wo bringen Sie ihn hin? Was machen Sie mit ihm?" Sie kreischte fast.
Sie stiegen in den Streifenwagen, Tom wurde nach hinten verfrachtet, Sina stieg auf der anderen Seite ein.
Andreas drehte sich um. „Sie können nicht mitfahren!" erklärte er ruhig.
„Dann versuchen Sie mal, mich daran zu hindern!" fauchte sie. „Sie haben keine Ahnung, wie laut ich brüllen kann!"
Die Polizisten gaben auf. Sina griff nach Toms Hand, die eiskalt war. „Das ist ein Missverständnis, Tom! Das klärt sich alles ganz schnell auf!" versuchte sie ihm Mut zuzusprechen.
Er reagierte nicht, sah vollkommen paralysiert aus dem Fenster.
„Tom? Hörst du mich? Das ist alles Quatsch hier! In einer Stunde lachen wir uns tot über den Blödsinn!"
Er tauchte auf, sah sie an, versuchte ein Lächeln. „Ja, Süße! Du hast Recht!"
Auf dem Revier wurde er in ein Vernehmungszimmer gebracht, Sina wollte mit, aber dieses Mal blieben die beiden hart.
Wenigstens boten sie ihr Platz an in einem Raum, der nur durch eine Glasscheibe getrennt war.
„Also, Tom! Wir haben eine Anzeige vorliegen wegen versuchter Vergewaltigung!" eröffnete Andreas die Vernehmung.
„Was?" schrie Tom, sprang von seinem Stuhl auf, der polternd zu Boden fiel.
Sina sah das Ganze, ihr Herz setzte aus. Das schien kein Spaß zu sein, wenn er so reagierte!
„Seid ihr komplett verrückt? Ich habe in meinem ganze Leben noch nie einer Frau ein Haar gekrümmt!"
„Aber wir haben hier eine sehr detaillierte Aussage vorliegen! Wir müssen der Sache nachgehen."
„Wer behauptet so etwas?"
„Das können wir dir nicht sagen!"
Tom versuchte, den Vorwurf irgendwie zu verarbeiten, suchte nach Namen, fand keinen einzigen, außer, vielleicht?
„Frau Dr. Angelika Rosen?" fragte er.
„Wir dürfen dir das nicht sagen!" Christoph sah ihm offen ins Gesicht, schüttelte aber leicht mit dem Kopf.
Okay, nicht Angelika!
„Wo warst du am 31. Juli um 23 Uhr?" fragte Andreas.
Tom überlegte kurz. Zum Glück konnte er mit diesem Datum spontan etwas anfangen.
„Das war der Tag, bevor ich Sina kennengelernt habe, ein Sonntag! Da war ich auf meiner Dachterrasse, habe eine Zigarette geraucht, gelesen, es war ein milder Sommerabend! Ich habe von einer Frau geträumt, die ich am nächsten Tag kennenlernen würde, was ich aber nicht im Geringsten wissen konnte!"
„Und du warst nicht im Club, nicht draußen, nicht auf der Straße unterwegs?"
„Nein! Ich bin dann früh schlafen gegangen!"
„Kein Telefonat? Kein Anruf?" Andreas hasste seinen Job in diesem Moment.
„Nein! Nichts!"
Andreas seufzte. „Hör zu, Tom! Wir glauben nicht im Geringsten, dass an der Sache was dran ist! Wir kennen dich! Und wir glauben auch nicht, dass du es nötig hast, eine Frau zum Sex zu zwingen!" versuchte er einen Scherz. „Aber die Vorwürfe stehen im Raum. In diesen verrückten Zeiten sind die Männer von vorherein im Nachteil, schon weil sie Männer sind! Weil es halt zu viele Arschlöcher gibt, die solche Sachen machen!"
„Könnt ihr nicht wenigstens eine Andeutung machen, wer mir das anhängen will? Ich habe nicht die geringste Idee."
Er war fix und fertig. Was, wenn er den Verdacht nicht entkräften könnte? Was, wenn sein Studium in Gefahr geriete? Was, wenn Sina ihm nicht glauben würde?
Doch, Sina würde ihm vertrauen! Er war hundertprozentig sicher! Nie im Leben würde sie diese Vorwürfe glauben!
„Bitte! Den Namen!" flehte er.
„Wir müssen dringend auf die Toilette! Schau aber auf keinen Fall in die Akte!" Christoph sah ihn sehr eindringlich an.
Die Polizisten gingen hinaus. Tom sprang auf, sah in den Papieren nach. Das Herz blieb ihm stehen, alles wurde ihm klar, als er den Namen las: Susanne Christen! Sinas durchgeknallte Schwester!
Er sah auf den Gang, niemand war zu sehen. Er schlich sich zu seiner Süßen. „Hör zu, Mädchen! Susanne hat mich wegen versuchter Vergewaltigung am 31. Juli angezeigt. Im Hinterhof des Clubs! Ich darf das nicht wissen, und du erst recht nicht! Aber du musst mir helfen!"
Sina erstarrte. Am Tag, bevor sie sich kennengelernt hatten! Wie perfide war das denn! Susanne war verrückt, krank, böse! Dann wurde sie ganz kalt, ihre Gedanken klärten sich. Natürlich würde sie der Liebe ihres Lebens helfen, und wenn sie die Schwester foltern und töten müsste. Sie küsste Tom und ging fort.
Der setzte sich wieder auf seinen Stuhl im Vernehmungszimmer.
„Ich habe nachgedacht. Also, sollte es Susanne, Sinas Schwester sein, die mir das anhängen will: Die Frau ist komplett verrückt, und zwar im pathologischen Sinn. Sina ist unterwegs, um das zu klären, und sie wird Erfolg haben! Sie wird das tun, was eure Aufgabe wäre! Ich war an dem Tag zu Hause, am nächsten Tag bin ich in den Club und habe Sina getroffen. Das kann Susanne nicht verkraften, weil sie ihre Schwester hasst! Deshalb hat sie auch diesen Tag ausgewählt. Sina soll glauben, dass ich einen Tag vorher eine Frau vergewaltigen wollte! Aber Sina wird den Teufel tun!"
Andreas sah ihn ein wenig mitleidig an.
„Gibt es Freunde, die du regelmäßig triffst, die aussagen können, dass du nicht da warst an diesem Abend?"
„Der halbe Club kennt mich!" stieß Tom hervor. Die unwiderstehlichen Drei fielen ihm ein.
„Ben, Nick und Oli!" flüsterte er.
„Meinst du, die kommen her und sagen aus?" fragte Christoph.
„Ja, klar! Kann ich selber anrufen?"
Die beiden sahen sich an. Gut, es wäre wohl weniger schlimm für Tom. Sie nickten. „Aber kein Wort über den Tatbestand!" warnte Andreas.
„Tatbestand!" Tom stieß die Luft aus. Er wählte Nicks Nummer.
„Hallo, Nick! Du, ich habe ein paar Probleme! Könntest du bitte auf dem Revier am Jakobstor vorbeikommen? Da gibt es Fragen, die geklärt werden müssen! Mehr darf ich nicht sagen!"
Nick erschrak bis aufs Blut, sein Herz raste. Das klang ja total bescheuert, aber auch total ernst.
„Ist was mit Sina?" fragte er verstört.
„Nein!" Da konnte Tom den Freund beruhigen. „Und wenn möglich, bring Ben und Oli auch mit!" Er legte erschöpft auf.
„Könnt ihr nicht was mit dem Bewegungsprofil meines Handys machen?" fragte er.
„Im Prinzip schon, aber der Club und deine Wohnung liegen so nahe zusammen, das ist mit Sicherheit eine Funkzelle! Außerdem hättest du ja dein Telefon zu Hause lassen können!" gab Andreas zu bedenken.
Tom wischte sich mit beiden Händen übers Gesicht, als könnte er den Albtraum so los werden.
Mein Gott!
So was passiert doch nicht mir!
Von so etwas liest man in der Zeitung! dachte er verzweifelt. Wie soll man denn beweisen, dass man etwas nicht gemacht hat?
Plötzlich schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf.
„Bereitschaft! Ich hatte an diesem Sonntag Bereitschaft! Deshalb habe ich auch nichts getrunken, kein Glas Wein wie sonst!" fiel ihm ein. „Mein Piepser war an! Ich gehe nie weg, wenn ich Bereitschaft habe!"
„Und der Piepser ist verbunden mit der Leitstelle?"
„Ja, natürlich! Das kann man nachprüfen, ob er an war! Die machen ab und zu Stichproben, ob wir zuverlässig sind, ob wir nicht kurz ausschalten, wenn wir schnell eine Frau vergewaltigen wollen!" stieß er mit bitterem Galgenhumor hervor.
„Ruf da an, stell auf Lautsprecher, das genügt dann als Aussage. Aber sag auf keinen Fall, worum es geht, das Gespräch wird aufgezeichnet!" wies Andreas ihn an.
Tom wählte die Nummer der Leitstelle. Zum Glück war Fritz dran, der ihn schon seit Jahren kannte.
„Hallo! Der Herr Student! Na, hast du Sehnsucht nach uns?" begrüßte der ihn launig.
„Ja! Nein! Du Fritz, ich brauche eine Auskunft! Ich hatte am 31. Juli Bereitschaft. Kannst du im System irgendwie nachsehen, wie lange da mein Piepser an war?"
Der ehemalige Kollege war überrascht von Toms Anfrage, auch von seiner Nervosität.
„Ja, klar, kann ich! Zwei Monate lang ist alles nachzuvollziehen, auch wo der Piepser sich befand! Genauer als bei Handyortung sogar!"
„Super! Danke! Kannst du das gleich machen?" Tom sah ein wenig Licht am Ende des Tunnels.
„Freilich! Einen Moment, bin schon dran!" Im Revier hörte man ein paar Tastenschläge.
„Also: 31. Juli, Sonntag, Bereitschaft Tom Bergman. Piepsernummer 113 114, eingeschaltet um 18.00 Uhr, ausgeschaltet am 1. August um 6.00 Uhr morgens. Kein Anruf von uns.
Standort durchgehend: Wahlenstraße 5, vierter Stock, fünfter Stock, vierter Stock."
„Fünfter Stock ist die Dachterrasse! Kannst du genau sagen, wann ich oben war, wann ich wieder runter bin? Also, am Abend!"
„Ab acht?"
„Ja, oder neun!"
„Okay: Um 21 Uhr Uhr rauf, um 22.45 runter, um 22.59 rauf, um 23.30 runter, dann unten bis zum Morgen."
Andreas hob den Daumen, grinste erleichtert.
Tom begann zu hoffen. „Danke, Fritz! Das war überaus wichtig!"
„Bitteschön! Willst du mir nicht sagen, worum es geht? Das klingt ja fast so, als bräuchtest du ein Alibi! Hast du Ärger mit Sina, der Hübschen?"
„Nein, da kannte ich sie noch nicht! Ich kann aber jetzt auch nicht mehr erklären! Mach's gut!"
Andreas schaltete das Aufnahmegerät aus, sah Tom an.
„Das klingt ja nun mal schon gut. Wenn du um 22.59 auf die Terrasse zurück gegangen bist, kannst du kaum um die gleiche Zeit diese Frau abgeschleppt haben! Es ist gut, dass der Piepser bewegt wurde, sonst könnte es bedeuten, dass du ihn einfach dagelassen hast!"
Tom versuchte ein schiefes Grinsen. „Das war wohl der wichtigste Toilettengang meines Lebens!"
„Scheint so, ja!" stimmte Christoph zu.
Es klopfte, ein Kollege brachte Nick, Oli und Ben herein, die alle etwas blass um die Nase waren.
Andreas brachte die drei einzeln ins Zimmer nebenan, stellte allen die gleiche Frage.
„Können Sie sich erinnern, Tom Bergmann am Sonntag, dem 31. Juli. im Club gesehen zu haben? Das war der Tag, bevor er Frau Christen kennengelernt hat, nur zur Orientierung!"
Nick war der erste. Verdammt! Was sollte er sagen? War es für Tom besser, wenn er da war oder wenn er nicht da war? Aber die Logik sagte, dass er die Wahrheit sagen müsste, sonst hätte der Kumpel ihn ja nicht um seine Aussage gebeten.
„Nein, ich bin ganz sicher! Wir haben uns am Freitag in der Stadt getroffen, ich habe ihn gefragt, ob er am Sonntag käme, weil da Ladys Night war, das war immer lustig, weil alle Damen auf Tom geflogen sind! Er hat aber abgelehnt, weil er Bereitschaft hatte. Da ging er nie weg! Ben und Oli waren auch dabei, die können das bestätigen."
Andreas wurde immer zuversichtlicher. Die Information mit der Ladys Night war ein wichtiger Punkt.
Dann fiel ihm noch ein Frage ein, die zwar etwas über den Tatbestand erahnen ließ, aber wichtig war.
„Kannte zu diesem Zeitpunkt Herr Bergmann Frau Susanne Christen?"
„Nein, sicher nicht! Er hat sie erst kennengelernt, als er sie wegen einer Sache zur Rede stellte, die mit Sinas Vergangenheit zusammenhing! Das war aber ein paar Tage später! Er hat uns auf einer Feier an seinem Geburtstag davon erzählt." Nick sah den Polizisten ernst an. „Will sie ihm was anhängen?"
„Ich darf darüber nicht sprechen! Danke für ihre Aussage!" Andreas schaltete das Aufnahmegerät aus.
Nick war fix und fertig. Sie hatten in den letzten Wochen Susanne ziemlich zugesetzt. Hoffentlich rächte sie sich jetzt nicht bei Sina und Tom dafür!
Wahrscheinlich waren sie etwas zu weit gegangen! Verdammt! Verdammt! Verdammt! Er musste das wieder hinkriegen!
Er erzählte dem jungen Polizisten von ihren Auftritten in den Clubs, wie sie Susanne lächerlich gemacht hatten, weil die in der Jugend Sina so geschadet hatte.
„Und Sie glauben, das ist jetzt die Retourkutsche?" Andreas sah durchaus die Möglichkeit, merkte aber auch, dass er den Verdacht des Zeugen , dass Susanne Christen Tom beschuldigte, leichtsinnig bestätigt hatte.
„Ja, bestimmt! Außerdem ist die Frau verrückt! Sie ist krankhaft auf sich bezogen, unheimlich von sich überzeugt, das hat wirklich psychotische Züge! So war sie schon früher! Schleppte alle Männer ab, die nicht bis drei auf den Bäumen waren!"
Ben und Oli bestätigten fast wortwörtlich seine Aussage.
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