Kapitel 121 - Mitte Februar 2005 (*2*)
Nach einer Woche ertrug Tom dieses veränderte Leben mit Sina nicht mehr.
Es konnte doch nicht sein, dass ein verkorkster Fünfjähriger ihre Liebe kaputtmachte!
Doch er spürte auch, dass hinter Sinas Verhalten mehr war als Trotz.
Dass sie nicht ihren Kopf durchsetzen wollte, sondern, dass das Schicksal dieses Kindes ihr wichtig war, lebenswichtig!
Er musste mit ihr reden, musste verstehen, was sie dazu bewegte, alles aufs Spiel zu setzen!
Sie sprachen die halbe Nacht.
Er hörte ihr zu, wie sie von dem Jungen sprach, sah das Funkeln in ihren Augen, sah die Liebe zu einem vollkommen fremden Kind, hörte diese Liebe aus ihren Worten.
Er schämte sich mit jedem Satz, den sie sagte, mehr.
Er sah die Liebe zu ihm in ihren Augen, weil er ihr zuhörte, weil er versuchte, sie zu verstehen!
Er fühlte ihre Dankbarkeit und wollte nicht, dass sie ihm dankbar war für eine Selbstverständlichkeit!
Es wäre selbstverständlich gewesen, dass er sie unterstützte beim Kampf um diesen Jungen!
Aber die Wut auf Simone hatte seinen Geist blockiert, hatte ihn nicht sehen lassen, was offensichtlich war: Dass dieser Junge sie beide brauchte!
Dass er es verdient hatte, dass sie sich seiner annahmen!
„Nimmst du mich morgen mit, wenn du ihn besuchst?" fragte er leise.
Das Strahlen ihrer Augen macht ihn zu glücklichsten Mann der Welt.
„Ja! Gerne!" sagte sie nur und küsste ihn.
Es war der erste Kuss seit Tagen, und es war der erste Kuss einer Frau, die ihrem Herzen gefolgt war und eines Mannes, der das endlich erkannt hatte.
Es war ein wunderbarer Kuss, und es wurde ein langer Kuss.
„Ich habe dich vermisst, kleine Krabbe!" flüsterte er.
„Das ist gut zu hören!" antwortete sie trocken.
Er war glücklicher als je in seinem Leben, obwohl er besiegt worden war.
Vielleicht auch, weil er besiegt worden war!
Sie liebten sich in dieser Nacht voller Hingabe, voller erwachsener Hingabe, flogen ins Universum und zurück, zwei gleichberechtigte Liebende, die sich hatten einigen können auf den Weg, den ihre Herzen vorschrieben, einen sehr schwierigen Weg!
„Ich wollte aber jetzt nicht nur meinen Willen durchsetzen!" meinte Sina, als er sie in den Armen hielt, endlich wieder in den Armen halten durfte.
„Nein, Süße! Ich weiß!" Er küsste ihre wunderbaren Lippen, die wieder lächeln konnten.
Er hatte durchaus verstanden, dass etwas Unerklärliches sie zu diesem Jungen zog, zu einem Kind, das sie eigentlich zutiefst hätte ablehnen müssen.
Aber Liebe ging oft die seltsamsten Wege! Und wenn seine kleine Krabbe beschlossen hatte zu lieben, gab es keinen anderen Weg.
Am nächsten Tag schwänzte er ein Seminar. Marie kam wie an jedem der vergangenen Tage, blieb bei den Kindern.
Sie fuhren mit dem Bus, hielten sich die ganze Zeit an den Händen.
Er war nervös, wusste nicht so recht warum.
Es war eine seltsame Situation, mit der Liebe seines Lebens das Kind seiner Exfrau zu besuchen.
Es war ein wenig verrückt, aber das passte ja in ihr Leben!
Phillip erschrak, als er Tom sah, kroch sofort in sein inneres Schneckenhaus zurück.
Sie war nicht alleine gekommen, sie hatte diesen großen Mann mitgebracht, der ihn damals in der Wohnung so böse angesehen hatte!
Er wollte nicht, dass sie jemanden mitbrachte!
Er wollte, dass sie alleine kam, wollte sie für sich, wenigstens diese kurze Zeit am Tag.
Sina bemerkte die Veränderung Phillips.
„Lass mich erst alleine mit ihm reden!" bat sie ihren Mann.
Tom blieb außen vor dem Fenster stehen, konnte alles beobachten und konnte zuhören. Innen war das Fenster verspiegelt, der Junge würde nicht merken, dass er da war.
„Ist er weg?" fragte Phillip, als Sina alleine wiederkam. Seine Stimme hatte wieder diesen aggressiven Ton, den sie immer bekam, wenn er Angst hatte. Und er hatte oft Angst gehabt und hatte sie auch noch oft.
„Er ist Tom, mein Mann!" antwortete Sina ruhig.
„Ich will nicht, dass er da ist!"
„Das ist schlecht! Er wird nämlich immer da sein, wo ich bin!" Sie sah ihm fest in seine braunen Augen, er wich ihrem Blick aus.
„Er ist nicht so nett wie du!" sagte er leise und wunderte sich, dass er sie nett genannt hatte. Das sollte er nicht tun.
Er sollte sie nicht mögen, und er sollte ihr das schon gar nicht sagen! Alle Menschen, die er gemocht hatte, waren irgendwann böse zu ihm gewesen oder waren verschwunden aus seinem Leben.
Er fühlte das alles mehr, als dass er es dachte, aber er fühlte es sehr genau.
„Er ist sogar noch netter als ich!" antwortete sie.
„Ja, vielleicht zu seinen Kindern!" Sina wunderte sich über die Ausdrucksweise des Kleinen. Trotz der offensichtlichen Vernachlässigung schien er einen wachen Verstand zu haben.
Sie hatte es schon bei ihren früheren Besuchen bemerkt.
„Das müsste man ausprobieren! Er kennt dich ja gar nicht! Und du kennst ihn nicht!" gab sie zu bedenken.
Phillip sah sie misstrauisch an. „Und er will mich kennenlernen?"
„Ja, wenn du es zulässt!"
„Warum?" Er verstand das Interesse an ihm noch nicht so ganz. Er hatte sich schrecklich aufgeführt, da in dieser Wohnung, warum sollten gerade die beiden ihn kennen lernen wollen?
„Weil ich dich mag! Weil er denkt, wenn ich dich mag, könnte er dich vielleicht auch mögen!"
„Warum magst du mich? Ich bin keine netter Junge!" Er sah sie skeptisch an.
Tom bekam auf dem Flur feuchte Augen. Mein Gott, wie der Kleine sprach! Wie er dachte! Was für ein seltsames Kind!
„Nein, nicht wirklich!" stimmte Sina ihm zu. „Zumindest nicht immer! Aber ich glaube, du wärst gerne ein netter Junge!"
Phillip grinste. „Könnte sein!"
„Darf ich Tom jetzt reinholen?" fragte Sina.
„Okay! Und ich werde versuchen, auch bei ihm ein netter Junge zu sein." Sina musste lächeln. In Phillip steckte ein ganz besonderes Kind, sie fühlte das.
Als Tom das Zimmer betrat, fühlte er, dass mit dem Jungen eine Veränderung vorgegangen war. Das trotzige, böse, verletzte Kind schien ein nettes Kind sein zu wollen! Seine Sina hatte das erreicht, mit Geduld, mit ihrer Fähigkeit, sich in andere hinein zu fühlen, vor allem in Kinder.
„Hallo, Phillip!" begrüßte er ihn.
„Hallo, Tom!" antwortete Phillip. Sein Blick war nicht mehr so abwehrend.
„Geht es dir gut?" Tom wusste nicht so recht, was er sagen sollte.
„Manchmal!" Die Erwachsenen wunderten sich wieder über den Jungen. „Jetzt gerade geht es mir gut! Immer wenn Sina da ist, geht es mir gut!" Phillip wunderte sich wieder über das, was er da sagte. Aber es stimmte. So fühlte er in sich drinnen! Wenn sie weg war, wurde er wieder böse, weil dann die Angst wieder kam, weil er dann immer weinen wollte, weil er dann lieber tobte als zu heulen.
„Das verstehe ich!" antwortete Tom. „Das geht mir genauso!" Er lächelte Phillip an, der schien fast zurückzulächeln.
„Wie gefällt es dir hier im Heim?" Tom suchte krampfhaft nach einem Gesprächsthema.
„Geht so! Es gibt immer was zu essen, und ich bin nicht so viel alleine wie früher!"
Toms Magen verkrampfte sich. Nicht alleine zu sein und etwas zu essen zu haben, das war dem Fünfjährigen genug!
„Hast du Spielsachen? Möchtest du etwas haben?" fragte Tom weiter.
„Nein, danke! Ich habe alles in meinem Kopf, was ich mir wünsche!" antwortete dieses seltsame Kind.
„Wie? In deinem Kopf?" Tom verstand nicht.
„Ich stelle mir alles, was ich haben möchte, vor, dann spiele ich in meinem Kopf damit! Mama hat immer gesagt, ich brauche nichts, sie hat kein Geld, ich war nicht brav, drum bekomme ich nichts! Aber in meinem Kopf habe ich alles!"
Sina schlich sich hinaus, ihre Augen liefen über.
Das hatte er ihr noch nicht erzählt, das war im Augenblick ein wenig zu viel für sie!
Sie stand vor der Scheibe auf dem Flur und ließ die Tränen laufen.
Bei ihren Kindern stapelte sich das Spielzeug, und dieser Junge spielte nur mit seinen Gedanken, weil er sonst nichts hatte.
Tom hörte dem Jungen sprachlos zu. Er saß im Schneidersitz am Boden, Phillip saß neben ihm, wunderte sich, dass der große Mann ihm schon so lange zuhörte. Er schien wirklich auch nett zu sein!
„Und, was gibt es da alles in deinem Kopf?"
„Autos, eine Eisenbahn, ein Fahrrad und Bücher!" erklärte Philipp.
„Bücher? Bilderbücher?"
„Nein, Bücher mit Geschichten zum Lesen!" Phillip sah Tom an. Was sollte er denn mit Bilderbüchern? „Ich bin doch kein Baby mehr!" sagte er entrüstet.
„Aber du kannst doch noch gar nicht lesen!" wandte Tom ein.
„Doch! Schon lange! Im Fernsehen war mal so eine Sendung für Kinder, da haben sie erklärt, wie die Buchstaben heißen, und wenn man das weiß, kann man lesen."
Er stand auf, holte ein Buch aus der Spielecke, schlug die erste Seite auf, und begann flüssig wie ein Zehnjähriger vorzulesen.
Tom glaubte, nicht richtig zu hören. Plötzlich sah Phillip sich um. „Wo ist Sina?"
„Sie ist kurz rausgegangen!" antwortete Tom.
„Habe ich was falsch gemacht?" Panik zeichnete sich auf seinen hübschen Gesichtszügen ab.
„Nein! Gar nicht!" Tom strich ihm über die Haare.
Philipp zuckte nur ein ganz kleines Bisschen zurück. Aber dieses kleine Zucken fuhr in Toms Herz wie ein Schwert.
Er nahm den Jungen an den Schultern. „Phillip, wir werden dich niemals schlagen, verstehst du? Wir könnten dir niemals wehtun! Kein normaler Erwachsener kann ein kleines Kind schlagen!"
„Heißt das, dass du wieder kommst, mit Sina?" Phillip hoffte sehnsüchtig auf ein Ja.
„Natürlich! Nicht jeden Tag wie Sina, weil ich ja studieren muss, aber so oft ich kann!"
„Und wo sind deine Kinder jetzt?" wollte Phillip wissen.
„Zu Hause! Jemand passt auf sie auf!"
Wow! dachte Phillip. Die lassen ihre Kinder zu Hause und kommen zu mir!
„Ihr könnt sie ja mal mitbringen!" schlug er vor. „Ich erschrecke sie auch bestimmt nicht! Aber ich kann ihnen was vorlesen!"
„Das ist eine gute Idee!" Toms Herz brach in tausend Stücke, setzte sich neu zusammen. Er hatte sich in ein Kind verliebt, in einen Jungen, der für ihn vor einer Woche noch der Inbegriff allen Bösen gewesen war.
Den er um nichts auf der Welt kennenlernen wollte. Doch Sina, seine kluge, herzensgute, weise Sina hatte in die Seele dieses Kindes gesehen, und sie hatte vor allem nicht klein beigegeben, weil sie wusste, dass auch er unbedingt in die Seele dieses erstaunlichen Jungen sehen musste.
Phillips Erzieher machte sich nach zwei Stunden ein wenig Sorgen. Er sah durch die Scheibe, sah die beiden Erwachsenen auf dem Boden sitzen, vollkommen ruhig ins Gespräch mit dem kleinen Satansbraten vertieft.
Alle drei lächelten, lachten immer wieder, die beiden Erwachsenen hielten sich an den Händen. Er glaubte kaum, was er sah. Phillip, immer voller Wut und Aggression, sah aus und benahm sich wie ein Lämmchen.
Er schmunzelte. Wahrscheinlich die männlichen Gene! Die junge Frau war schon echt eine Augenweide.
Eine halbe Stunde später ertönte der Gong. Der Junge sprang auf. „Ich muss zum Essen!" rief er und flitzte durch die Türe. Auf dem Gang besann er sich, drehte noch einmal um. „Auf Wiedersehen und Dankeschön!" sagte er und bog um die Ecke.
Tom nahm Sina in die Arme.
Jetzt konnte er die Tränen nicht mehr zurückhalten.
Er war so ein Idiot gewesen!
„Danke!" sagte er nur und drückte sie an sich.
Sie wusste, es bedurfte keiner Antwort.
Ihr Tom hatte sich auf den Jungen eingelassen, er hatte verstanden!
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