7) Wie alles endete
Sogar in zweifacher Ausführung. Ihr habt die Wahl.
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[Version 1]
Stille. Stimmen. Stille. Musik. Ich blinzelte. Eine weiße Zimmerdecke über mir. Vertraut. Ich schloss die Augen erneut, döste weg.
Ein dumpfes Geräusch riss mich aus der Tiefe des Schlafes. Das Buch war von meiner Decke gerutscht und auf dem Boden liegengeblieben, aufgeschlagen auf Seite 1892.
Im Hintergrund dudelte eine Reportage im Fernsehen. Hatte ich den nicht ausgeschaltet? In letzter Zeit vergaß ich so viel. Da war schon wieder dieser Schwindel. Ich stöhnte und beschloss, einfach liegenzubleiben, bis es vorüber war.
Und dann zuckte ich zusammen. Die Klingel schrillte...
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[Version 2]
Stille. Stimmen. Stille. Musik. Ich blinzelte. Eine weiße Zimmerdecke über mir mit stuckverzierten Ecken. Mir nur vage vertraut. Ich wollte nicht darüber nachdenken woher, schloss die Augen erneut und döste weg.
Ein dumpfes Geräusch riss mich aus der Tiefe des Schlafes. Jemand im Raum hatte ein Buch fallengelassen. Ich würde diesen Laut überall erkennen. Ich schlug die Augen auf.
"Wieder im Hier und Jetzt?", Josts dunkle Augen blitzten, als er auf mich zueilte. Ich stöhnte, mir war leicht schwindelig. Langsam setzte ich mich auf.
"Kommt darauf an. Hier und jetzt 1892 oder 2020?"
Er setzte sich zu mir auf die Sofakante, fühlte meinen Puls und meine Temperatur, nickte zufrieden.
"Immer noch 1892. Du warst unpässlich. Leider konnten wir uns noch nicht unterhalten. Es gibt einen Grund, warum du hier bist. Du musst uns helfen!"
"Na gut", sagte ich matt. "Und wie?" Wenn das der Weg war, der mich hier rausbringen würde, dann meinetwegen. Ich würde ihnen helfen, wenn ich konnte. Von Bertha und Sophie war keine Spur zu sehen. War alles doch nur eine Maskerade und ich das noch immer ahnungslose Opfer einer Entführung. Ich scannte meinen Gegenüber. Er trug noch immer das gleiche Hemd mit dem aufgebauschten Kragen, hatte aber Frack und Zylinder abgelegt. Erst jetzt bemerkte ich, dass sich der Raum verändert hatte. Nicht mehr das opulente Speisezimmer, sondern ein Wohnraum. Ich lag auf einem flachen Diwan mit spitzenbesetzten Kissen. Dieselben schweren Vorhänge zu beiden Seiten der zwei Fenster. Dazwischen ein schmucker Sekretär, mit Schreibuntensilien, Tintenfass, Briefbögen. Sehr ordentlich aufgeräumt, aber kein modernes Schreibzeug. Der Anblick des Bücherschranks ließ mein Herz stehenbleiben. Jede Menge alter Drucke, Folianten mit schwerem Einband, in goldenen Lettern geprägte Buchrücken. Verschnörkelungen und Ornamente. Nicht vergilbt und verblichen mit den Jahren der Zeit, sondern unverkennbar neu und glänzend. Mit einem Satz war ich aufgesprungen und stand vor den Drucken. Andächtig, wie andere Leute vor einem Kirchenschrein. Meine Finger fuhren über die kostbaren Originale. Diese kunstvoll verschnörkelte Schrift.
"Du liebst Bücher?" Jost holte mich in die Realität zurück. Wenn es eines gab, das mich überzeugen konnte, dann waren es Bücher.
Es war also echt. Irgendwie war ich ins Jahr 1892 gerutscht. Von einer Epidemie in eine andere.
Ich nickte und stellte das Buch in meinen Händen vorsichtig zurück an seinen Platz. "Wie kann ich euch helfen?"
Er reichte mir ein paar gebundene Blätter. "Aertzliches Vereinsblatt" prangte in dicken Lettern darüber, darunter eng beschriebene Seiten. Das Datum vom August 1892. Es wirkte druckfrisch.
"Es ist schrecklich. Im Hafen fing es an. Ein toter Hafenarbeiter vor wenigen Wochen. Inzwischen hunderte von Toten. Wer kann, verlässt die Stadt und flüchtet aufs Land. So kann es nicht weitergehen. Der Senat will nichts unternehmen, aus Angst." Er zuckte mit den Schultern und sein eindringlicher Blick durchbohrte mich. "Morgen spreche ich vor dem Senat. Ich bin Arzt. Wir müssen Maßnahmen ergreifen. Aber ich weiß nicht welche?" Er schaute mich an, erwartungsvoll.
Ich wich seinem Blick aus. Ich war Bibliothekarin, keine Ärztin. "Warum ausgerechnet ich?", fragte ich matt.
"Weil du meine Urururenkelin bist. Nur dich konnte ich hierher holen, um uns zu helfen."
Der altbekannte Schwindel setzte wieder ein und ich massierte meine Schläfen. "Lassen wir das", noch eine Erklärung, die keinen Sinn ergab, würde ich nicht verkraften. Er spielte ein makabres Spiel mit mir, aber ließ mir keine andere Wahl als mitzuspielen.
"Na gut", seufzte ich. Ich erinnerte mich, etwas über diese verheerende Choleraepidemie am Ende des 19. Jahrhunderts gelesen zu haben. Und vor wenigen Tagen erst einen Artikel über Robert Koch. Mir fiel es wie Schuppen von den Augen.
"Du schreibst einen Brief an den Berliner Mikrobiologen Robert Koch. Er wird nach Hamburg kommen und den Erreger untersuchen. Ihr werdet es in den Griff kriegen und Maßnahmen treffen." Mein Kopf schwamm. Wenn ich gewusst, hätte, wie nützlich diese Informationen noch für mich sein würden, hätte ich den Artikel gründlicher gelesen und mir die Details besser gemerkt. "Irgendwas mit dem Wasser", murmelte ich.
Jost schaute mich mit großen Augen an. "Aber natürlich", warf er in den Raum, schon mehr zu dem Sekretär als zu mir gewandt. In wenigen Schritten war er dort, mich schien er völlig vergessen zu haben. Er griff sich einen Bogen des mir bekannten Pergaments, einen Federkiel und Tintenfass und völlig selbstversunken fing er an, zu schreiben.
Immer noch benommen von all den Ereignissen, ließ ich mich zurück auf die Kissen sinken. Nur ein wenig ausruhen, schließlich musste ich noch einen Weg nachhause und einen Ausweg aus dem ganzen Schlamassel finden.
Wenn Jost mich aus der Zukunft geholt hatte, um ihm zu helfen. Vielleicht konnte ich das gleiche tun?
Mit diesem bizarren Gedanken im Kopf schlief ich schließlich ein...
- - - [Ende] - - -
https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/77631/Die-Cholera-verwandelte-Hamburg-vor-125-Jahren-in-eine-Todeszone
Einige Informationen zu dem Ausbruch von 1892 und einige Bilder, die mir als Inspiration gedient haben.
Die Geschichte erhebt übrigens keinen Anspurch darauf, historisch korrekt zu sein. Eigentlich sollte sie zuerst in meinem Heimatkaff spielen, aber da fand ich keine Informationen über eine frühere Seuche und so wurde der Handlungsort spontan nach Hamburg verlegt.
Merkt man wahrscheinlich noch an der ein oder anderen Stelle, aber egal. Hauptsache mal wieder etwas geschrieben.
Danke fürs Lesen und bleibt gesund und bleibt vor allem in eurer eigenen Zeit!
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