༺ 9 ༻ Die Vergangenheit in Fleisch und Blut
Vor Mitternacht ...
»Erana ...«
»Soan.« Ihr Blick war zurückhaltend, seiner jedoch verströmte für einen kurzen Augenblick Nostalgie. Er war alt geworden. Die Haare begannen grau zu werden, genau wie seine Augen und dennoch hatte sie ihn sofort erkannt.
»Ich hatte gehofft, dass es hierzu niemals kommen würde«, sagte er leise.
»Ist das die Wahrheit? Oder versteckt sich immer noch die nachhallende Angst hinter deinen Worten?«
Ein Schweigen überflutete den Platz zwischen ihnen. Erana hörte, dass die ersten Regentropfen begannen zu fallen. Sie schlugen wohlklingend auf dem Boden auf. Soan nahm tief Luft und atmete nachdenklich aus. Sie hatte nicht gedacht ihn so schnell zu finden. Er war nicht sehr weit gekommen. Nicht einmal das nächste Dorf hatte er erreicht. Hatte er gehofft, dass sie ihm folgen würde und hatte deshalb hier im Wald verweilt?
»Trägst du es immer noch in dir?«
»Musst du diese Frage wirklich stellen? Ich kann mir kaum vorstellen, dass du die Antwort darauf nicht kennst.« Erana zügelte ihre Emotionen.
»Nenne es Hoffnung.«
»Hoffnung? Die Hoffnung etwa, die ich unserem Dorf verschaffen hatte, als ich es in mir aufgenommen habe?«
»Du hättest nicht gehen sollen.«
Erana stieß halblachend die Luft durch die Nase aus. »Wirklich?« Sie erinnerte sich an die Geschichten, an die Reaktion. An Blicke, die ihre Kinderseele damals mehr als nur verletzt hatten. An den plötzlichen Wandel von liebenswert zu verachtend.
»Ich habe dich geliebt, das wusstest du«, flüsterte Soan.
»Und dennoch hattest du nicht genug Mut gehabt dies vor allen zu sagen. Du hast mir den Rücken gekehrt. Du hast mich im Stich gelassen.« Sein Schweigen und sein gesenkter Blick sagten ihr alles. »Doch nun sollte es sicher einfacher für dich sein«, fuhr sie weiter fort.
»Einfacher? Dich zu töten etwa?« Diese Worte wehklagend aushauchend, hob er den Kopf und meinte nur: »Ich weiß, dass die alte Erana noch da drin steckt. Genau deshalb macht es das nicht einfacher. Ganz im Gegenteil.«
»Und genau das ist der Fehler.« Sie zog den Rock zur Seite, um einige Schritte machen zu können. Das Mondlicht streifte ihre Beine. »Du glaubst, dass irgendwo hier drin noch die alte Erana steckt, hinter dem Dämon. Doch eigentlich ist es genau andersherum. Dieser Dämon ist es, den du nicht siehst. Erana ist es, die gerade vor dir steht und hinter dem sich das Untier versteckt hält ...«
»Das bist nicht du.«
»Wirklich? Ich habe die Dinge getan, von denen du gehört hast, aus meiner eigenen Überzeugung heraus. Nicht wegen dem Einfluss des Dämons. Ich würde dich sogar gerne mehr erschrecken und sagen: Er hat überhaupt keine Kontrolle über mich. Ich nutze nur seine Kraft. Mehr nicht.«
»Hör auf mich anzulügen«, presste Soan zwischen den Zähnen hervor, sichtlich entzürnt über ihren belustigten Unterton.
»Hör auf dich selbst anzulügen ... zu hoffen, dass du das kleine Mädchen von damals bald vor dir stehen haben wirst. Sie gibt es nicht mehr. Nicht mehr seitdem die Welt um sie herum sie verstümmelt hat. Seitdem sie jeder in diesem Dorf, einschließlich dich, verstoßen hat.«
Erana bemerkte, dass Soans Hand um das Schwert fester wurde. Er würde sie also wirklich angreifen. Innerlich schüttelte sie sacht den Kopf. Hatte sie wahrhaftig das Gegenteil erwartet? Sie blieb stehen und ließ ihre Augen mitleidig über seine Gestalt wandern, ehe sie dann schließlich langsam ein- und wieder aus atmete. »Bring es zu Ende, Soan. Wir wissen Beide, dass es nicht ein Gespräch ist, nach welchem du suchst.«
Er sagte nichts, doch war dies auch keine Verneinung. Dann raffte er sich auf, drückte seine Schultern zurück und hob den Blick. Seine Augen waren sowohl traurig, als auch entschlossen. »Ich werde nicht gehen, du hast Recht. Ich hoffe nur sehr, dass du erscheinen wirst, Erana. Ansonsten werde ich mich nicht zurückhalten dürfen.«
Eranas Mundwinkel zuckten kurz und ganz sacht schlich sich ein schwaches Lächeln auf ihre Lippen, das den gesamten Weltenschmerz in sich zu tragen schien. Sie hatte sich schon lange nicht mehr gefürchtet. Nun aber tat sie es, denn sie wusste, dass die Klinge eines Freundes schärfer ins Fleisch schnitt, als die eines Feindes.
»Wenigstens einer von uns hat sich nicht verändert«, hauchte sie leise und legte es nicht darauf an von ihm gehört zu werden.
Es war eine Sache einen Fremden zu töten, doch Jemanden aus der Vergangenheit? Jemanden, der einst im Herzen einen Platz eingenommen hatte? Erana wusste: Wenn sie ihn in diesem Kampf verletzten würde, dann würde sie auch gleichzeitig sich selbst Schaden zufügen. Sie musste wegen diesem Gedanken aufschnaufen. Hatte sie doch eigentlich gedacht, dass sie alle aus ihrer Vergangenheit hasste. Dass sie wirklich alle verabscheute. Doch dem war offenbar nicht so. Sie war wohl menschlicher geblieben, als sie selbst gedacht hatte.
»Es tut mir Leid«, murmelte Soan und Erana spürte das Brennen in ihren Augen, gegen das sie ankämpfte.
Doch ehe sie auch nur ein weiteres Mal blinzeln konnte, da schoss eine riesiger Schatten von links auf das Feld und Erana erschrak fürchterlich, als der vertraute Geruch ihr um die Nase schlug. Das einzige Vertraute, was über den Boden dieser Welt wanderte. Und ohne es selbst zu realisieren, stürzte sie auch schon selbst nach vorn, mehr in der Absicht den Schatten zu beschützen, als Soan anzugreifen.
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