24. Juli 2053
Es hatte nicht lange gedauert, da war mittlerweile jedem klar, dass der Mutant mit dem Namen Kieran auf wundersame Weise seine Gefühle verloren hatte. Und es hing irgendwie mit dem zusammen, was ihm im Folterzelt des Offiziers zugestoßen war.
Die ersten Reaktionen waren Unwohlsein. Das war nur zu befremdlich. Kaum ein Mutant wusste, wie er wirklich darauf reagieren sollte, noch wie er jetzt mit Kieran, der plötzlich nur noch „Neununddreißig" genannt werden wollte, umzugehen hatte.
Doch recht schnell erkannten manche von ihnen auch die Vorteile darin. Der Krieg war entsetzlich und scheußlich. Grausam und unbarmherzig. Er zwang Kinder dazu, die ohnehin schon schreckliches erlebt hatten, zu kaltblütigen Mördern zu werden und in Schlachten zu kämpfen, die nicht ihre waren.
Nicht wenige brachen unter der Last zusammen. Nicht wenige verloren sich in den Irrgärten ihrer verzweifelt kreischenden Gedanken.
Wie Ertrinkende sich an ein Stück Holz klammerten, klammerten die Mutanten sich an Neununddreißig. Wollten, dass er ihnen sein Geheimnis verriet. Wollten genau wie er nicht mehr fühlen müssen. Die Gefühllosigkeit war ihr rettender Strohhalm, nach dem sie nur zu gerne greifen wollten. Aber das konnten sie nicht, wenn sie nicht wussten, wo dieser Strohhalm überhaupt war.
Und Flavio, der am Anfang nicht sonderlich begeistert von Neununddreißigs Wandel schien, musste schließlich auch zugeben, dass er nicht mehr lange durchhielt. Die Erinnerungen, wie er die Soldaten getötet hatte, wollten ihn einfach nicht in Frieden lassen. Nach wie vor verabscheute er seine Flügelarme. Sie widerten ihn an, ebenso wie er selbst. Zu seinem Leid rückte der Zeitpunkt des nächsten blutigen Gefechts immer näher. Beinahe jede freie Minute hatte die Fledermaus mit Übelkeit zu kämpfen.
Obwohl Flavio Neununddreißig gleichgültig geworden war, hielt Flavio sich meist in Neununddreißigs Nähe auf. Als sei er sein stiller Wächter. Dabei war es doch Flavio selbst, der bitter Hilfe benötigte.
Schweigend setzte er sich mit seinem mickrigen Mittagessen, das bloß aus einer Scheibe trockenem Brot und einem abgelaufenem Müsliriegel bestand, neben das Chamäleon auf den Boden.
„Ich bekomme kaum was runter.", murmelte Flavio und starrte mit leerem Blick auf seine Mahlzeit. Natürlich könnte Neununddreißig ihn jetzt belehren, dass es Unsinn wäre, nichts zu essen. Vor allem, wenn man bedachte, dass sie jetzt all ihre Kräfte benötigen würden. Doch wieso sollte er? Flavio war nicht von Nutzen und demnach brauchte Neununddreißig sich nicht um sein Wohlergehen zu kümmern. Wortlos verzehrte Neununddreißig sein Mittagessen.
Trotz seiner relativ dunklen Hautfarbe wirkte Flavio bleich und sobald er die Hand, in der er den Müsliriegel hielt, zu seinem Mund führte, zitterte sie unkontrolliert. Die Fledermaus ließ die Hand wieder sinken und seufzte schwer. „Ich will nach Hause.", flüsterte er. „Ich will das hier doch gar nicht." Von Neununddreißig bekam er keinen Trost. Der beachtete ihn nicht einmal.
„Aber schau, was sie aus mir gemacht haben. Ich bin ein Monster!" Verbittert und überwältigt von Trauer sank der Junge merklich in sich zusammen. „Nicht mehr lange und ich bin wie die da. Das weiß ich." Ängstlich huschte sein Blick zu zwei Mutanten, die ein paar Meter entfernt zusammensaßen und wirr kicherten. Gegenseitig präsentierte sie sich ihre Krallen und taten so, als würden sie den jeweils anderen damit aufspießen wollen. Achtlos hatten sie ihr Essen in den Dreck fallen lassen. In ihren Augen war keinerlei Vernunft mehr zu erkennen.
„Oder wie der da." In einer Ecke neben einem Zelt hielt ein Junge sich fest umklammert und schaukelte stumm weinend hin und her. Er befand sich in seiner eigenen Welt und hatte die scheußliche Realität weit hinter sich gelassen.
„So will ich nicht werden." Im Gegensatz zum letzten Gemetzel wirkte Flavio wieder völlig klar. Doch wie lange das noch so bleiben würde, war nicht zu sagen. Es würde ihn vielleicht so zerstören, wie Offizier Preston auch Kieran zerstört hatte.
Verunsichert wendete Flavio sich an Neununddreißig. „Wie hast du das gemacht?", fragte er leise. „Wie hast du es geschafft, dich von deinen Gefühlen zu lösen?" Ihm war anzusehen, dass er mit den Gedanken wieder in der letzten Schlacht festhing.
Und zu Flavios Überraschung, erhielt er eine Antwort. Weshalb Neununddreißig sich entschieden hatte, ihn einzuweihen, war ihm schleierhaft, zumal er langsam begriffen hatte, wie dieser dachte. Er folgte allein der Logik. Alles, was dem nicht entsprach, tat er ganz einfach nicht. Alles andere war nicht wichtig genug, darauf zu reagieren.
„Du bist verzweifelt.", stellte Neununddreißig fest. „Such nach einem Schalter in deinem Kopf. Grabe tief genug und du findest ihn." Natürlich war es nicht wirklich so, als würde man wortwörtlich einfach einen Schalter in seinem Innersten betätigen. Doch es war die beste Erklärung. Wäre Neununddreißig noch Kieran, hätte er ihm das Ganze genauer beschreiben können. Immerhin hing das alles mit starken Gefühlen zusammen. Aber Neununddreißig besaß keine Gefühle. Daher war das die beste Erklärung, die er geben konnte. Somit war der Verweis auf Flavios Verzweiflung das Einzige, was den Weg zu dem imaginären Schalter zumindest in Ansätzen beschrieb.
Und Flavio suchte. Ihm war bewusst, was er aufgeben würde, würde er diesen Weg gehen. Schließlich hatte er das Ergebnis an seinem besten Freund gesehen. Aber er wusste auch, was er dafür zu erwarten hatte. Vermutlich gewann er nichts. Doch er würde das hier überstehen. Nur das war wichtig. Er wollte diesem Leid, diesen Schuldgefühlen endlich entkommen.
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