Kapitel 30 - Tesla und Testosteron
Nervös pendelte Armand zwischen Vorzimmer und Küche hin und her, während er in die sich träge aufhellende Dunkelheit draußen starrte. Die Frühlingssonne hatte alle Mühe, sich durch die schwerfälligen, tief hängenden Wolken zu kämpfen.
Nun, da er kein Gott mehr war, hatte er die Nacht mit ein paar Stunden unruhigem Schlaf zugebracht, aber erholt fühlte er sich trotzdem nicht. Auch die darauf folgende Dusche hatte seine Lebensgeister nicht wirklich wecken können.
Das kann ja heiter werden, wenn das jetzt für den Rest meines Lebens so weiter geht.
Er fuhr sich mit einer Hand durch seine leicht feuchten Haare, die in der Reflexion wie goldenes Braun schimmerten und nippte dann an seinem selbst zubereiteten Espresso. Der mochte nicht ganz so perfekt sein wie der von Natalia, aber wenigstens war er ihm heute besser gelungen als letztes Mal, wo er sich beinahe seine Zungenspitze verbrannt hatte. Die Erinnerung daran ließ ihn laut seufzen, war das doch der Morgen gewesen, nachdem er Sylvia aus den Fluten gerettet hatte. Da war er noch voller Hoffnung und Zuversicht gewesen, doch irgendwie war ihm dann alles aus dem Ruder gelaufen, und nun stand er hier, ein Mensch wie jeder andere, ohne besonderen Fähigkeiten oder Talente.
Sterblich. Unbedeutend. Entbehrlich.
Komm schon, Armand. Jetzt mach aber mal halblang. Du klingst ja schon wie eine wandelnde griechische Tragödie. Das muss jetzt aber aufhören. Wenn du Sylvia zurückgewinnen willst, dann kannst jetzt nicht einen auf Weichei machen.
Er stellte die leere Tasse in die Abwasch, stopfte ein paar Geldscheine in die Tasche seiner Jeansjacke, schnappte sich sein Handy, und machte sich auf den Weg. Irgendwie hatte es Tarkov hinbekommen, dass er immer noch sein göttliches GPS darauf installiert hatte, somit standen ihm immer noch solche praktischen Dinge wie der göttliche Fuhrpark offen, zumindest bis Mr. Z ihm auf die Schliche kam. Aber vielleicht würde der ja auch ein Auge zudrücken. Hatte ihm seine letzte Begegnung mit Mr. Z doch eine gänzlich unerwartete Seite seines alten Bosses gezeigt.
Nach ein wenig scrollen entschied er sich für einen silberfarbenen Tesla, umweltfreundlich und zukunftsweisend, jedoch nicht angeberisch oder protzig. Wenn er nicht ganz daneben lag, dann wäre dies genau auf Sylvias Wellenlänge. In wenigen Augenblicken materialisierte sich das gewünschte Fahrzeug vor seinen Augen und mit einem zufriedenen Blick ließ er sich in den Fahrersitz sinken und den ebenfalls mit göttlichen Features ausgestattete Bordcomputer alles Weitere übernehmen.
Das mächtige Sandsteingebäude der Geisteswissenschaftlichen Fakultät baute sich wie eine riesige Burg vor ihm auf. Parkplatz musste er keinen suchen, darum würde sich auch der allwissende Bordcomputer kümmern, der ihm nun eine Berechtigungskarte für den Parkplatz der Fakultät am Bildschirm anzeigte.
Perfekt.
Mit einem selbstgefälligen Grinsen fuhr er durch den Schranken und rollte auf einen Parkplatz direkt neben den breiten Stufen, die zu dem Gebäude hinaufführten. Von seiner Datei über Sylvia wusste er, dass sie heute früh ein Seminar zu halten hatte. Sein Plan war, sie danach anzusprechen, aber dafür war es jetzt noch viel zu früh. Als sein Blick auf Edgars Foto in Sylvias Datei fiel, kam ihm der Gedanke, Edgar im Gebäude daneben einen Besuch abzustatten, aber er verwarf die Idee wieder. Er würde sich nicht in etwas einmischen, was ihm nicht zustand.
Die Sonne hatte inzwischen ihren Kampf gegen die Wolken gewonnen und breitete ihre Strahlen wie goldene Bänder über den kupferfarbenen Dächern aus. Armand kratzte sich am Hinterkopf und warf einen Blick auf die bunte Geschäftszeile gegenüber der Universität. Mehrere Kaffees, Restaurants, Kunsthandlungen und ein kleines Comic-Buch-Geschäft reihten sich dort eng aneinander. Plötzlich kam ihm eine Idee. Zeit hatte er ja noch genug.
Fünfzehn Minuten später stieg er federnden Schrittes mit einem nigelnagelneuen Iron Man T-Shirt unter seiner Jeansjacke die Stiegen zum Universitätsgebäude hoch. In der Jackentasche hatte er noch eine kleine Überraschung für Sylvia, falls es überhaupt soweit kommen würde, dass sie bereit wäre, von ihm ein Geschenk anzunehmen. Aber den kleinen Funken Hoffnung würde er sich heute nicht nehmen lassen. Er mochte zwar kein Gott mehr sein, aber so cool wie Tony Stark war er allemal.
Er passierte die massiven Atlanten mit einem mitleidigen Blick auf ihre unter der Last gebeugten Schultern, und als er dann die schwere Holztüre hinter sich gelassen hatte und mitten im Strom der Studenten stand, wurde ihm plötzlich bewusst, dass er ja gar nicht wusste, wo Sylvia ihr Seminar halten würde. Er sah sich etwas verloren um, als ihn eine junge dunkelhaarige Studentin mit Piercings in der Nase und an den Augenbrauen ansprach: „Suchst du was Bestimmtes, Iron Man?"
Ja, meine Virginia Pepper Potts, hätte er fast gesagt, aber er konnte sich gerade noch rechtzeitig einbremsen und sagte stattdessen: „Das Einführungsseminar zu Kunstgeschichte, in welchem Hörsaal findet das statt?"
Die Augenbrauen der Studentin wanderten samt ihren Piercings in die Höhe. „Da bist du aber spät dran. Das Seminar hat schon längst angefangen, außerdem läuft das schon das ganze Semester."
„Ich will auch nicht an dem Seminar teilnehmen, ich suche nur jemanden", erklärte er, während er versuchte nicht allzu offensichtlich in ihren Mund zu starren, nachdem er bemerkt hatte, dass sie genau da in der Mitte ihrer Zunge auch ein Piercing hatte.
„Ach so." Die Studentin grinste ihn an. „Ich dachte mir schon, du siehst ein wenig zu alt aus fürs Einführungsseminar." Sie deutete mit dem Finger auf die breite Freitreppe hinter ihr. „Einfach dort rauf in den zweiten Stock und dann der letzte Hörsaal auf der rechten Seite. Kannst nicht daran vorbeilaufen."
„Okay, vielen Dank." Er nickte kurz und machte sich dann auf den Weg.
Zu alt. Für wie alt hält mich die überhaupt?
Am Treppenabsatz angekommen, warf er einen kritischen Blick in eines der Fenster entlang des Ganges. Nein, da hatte sich nichts an seinem Aussehen verändert. Er zuckte mit den Schultern und steuerte zielstrebig den letzten Hörsaal an. Davor befanden sich einige unbequem aussehende Metallstühle, die er geflissentlich ignorierte, und von drinnen kamen gedämpfte Stimmen. Nun, da er kein überirdisch tolles Gehör mehr hatte, konnte er allerdings nicht ausmachen, was gesagt wurde oder ob eine davon überhaupt Sylvias Stimme war.
Er lehnte sich gegen die Wand und verschränkte seine Arme, während er noch einmal alles in seinem Kopf durchging, was er Sylvia sagen wollte, als sich mit einem Mal die Tür des Hörsaales öffnete und die ersten Studenten bereits herausströmten. Angeregtes Geschnatter erhob sich um ihn, als sich mehr und mehr Grüppchen an ihm vorbeidrängten. Als die letzten Studenten endlich den Hörsaal verlassen hatten, warf er einen kurzen Blick hinein. Dort ganz hinten an einem großen Schreibtisch stand Sylvia und war gerade dabei, ihre Unterlagen in ihre Tasche zu packen. Sie sah heute besonders hübsch aus, ihre zu einem Dutt gesteckten Haare umrahmten perfekt ihr zartes Gesicht. Bei dem Anblick wurde ihm ganz warm ums Herz, und er musste sich zurückhalten, nicht in den Hörsaal zu stürmen, vor ihr auf die Knie zu sinken und sie um Verzeihung zu bitten.
Das ist deine Chance, Armand, vermassel sie nicht.
Er holte tief Luft und wollte schon in den leeren Hörsaal hineingehen, als plötzlich vom Ende des Ganges eine breitschultrige Gestalt herannahte. Er brauchte kein Gott mehr zu sein, um zweifelsfrei die Identität dieses Mannes zu erkennen. Das war Edgar, wie er leibt und lebt. Arrogantes Gehabe, weißes Hemd und dunkelgraue Hose, teure Lederschuhe. Armand richtete sich auf und zog seine Jeansjacke gerade, während er jeden Schritt von Edgar mit Argusaugen beobachtete.
Was will denn der hier? Glaubt der im Ernst, Sylvia wird mit ihm reden?
Doch dann kamen ihm selbst Zweifel an seinem eigenen Vorhaben. Wer sagte ihm denn, dass Sylvia was von ihm wissen wollte?
Nein, daran denkst du jetzt nicht. Du hast dir vorgenommen, das wieder hinzubiegen. Noch ist nicht alles verloren.
Eigentlich hatte er ja nicht vorgehabt, Edgar zu konfrontieren, doch das Schicksal schien wie so oft andere Pläne zu haben.
Edgars Schritte verlangsamten sich, als er sich dem Hörsaal näherte, und nun konnte Armand auch ziemlich deutlich erkennen, dass seine schwarzen Haare zwar perfekt frisiert waren, aber die Schatten unter seinen Augen und das bei näherer Betrachtung zerknitterte weiße Hemd sprachen eine andere Sprache.
Gut. Ich hoffe, es geht ihm richtig Scheiße, so miserabel wie er Sylvia behandelt hat.
Edgar musterte Armand mit herablassendem Desinteresse, so als wäre er nichts weiter als ein lästiges, wenn auch unvermeidliches, Möbelstück am universitären Gang. Armand stand Edgar zwar an Körpergröße nichts nach, doch Edgar war eindeutig kräftiger gebaut, was dieser offensichtlich mit Genugtuung feststellte und in einen abfälligen Blick packte.
Idiot. Der hat wohl nach Natalias Fußtritt immer noch nicht genug mit seinem Alpha-Macho-Gehabe.
Doch dann blieb Edgars Blick an Armands T-Shirt hängen. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen und sein Gesichtsausdruck wurde hart wie Granit.
Nun hat es wohl auch sein Erbsengehirn geschnallt.
Edgar verschränkte seine muskulösen Arme vor seiner breiten Brust und nickte betont langsam. „Iron Man, hm? Ist das die billige Version, mit der du Sylvia beeindrucken willst?"
Armand schoss ihm einen kalten Blick zu. „Ich habe es nicht nötig, Sylvia zu beeindrucken. Sie ist schließlich intelligent genug, für sich selbst zu entscheiden."
Edgar grunzte abfällig. „Auch noch einen auf schlau machen, nachdem du mir mein Mädchen ausgespannt hast."
Ein wenig Erleichterung machte sich in seiner Magengrube breit, denn wenigstens bestätigte ihm das, dass Edgar noch nicht darüber Bescheid wusste, was gestern zwischen ihm und Sylvia vorgefallen war.
„Du verwechselst da wohl etwas. Ausspannen bedingt, dass sich jemand in einer Beziehung mit einer anderen Person befindet. Ein Ex-Partner hat da gar nichts zu melden."
Plötzlich baute sich Edgar direkt vor ihm auf und schnauzte ihn grob an. „Du bist derjenige, der hier gar nichts zu melden hat. Tauchst da einfach aus dem Nirgendwo auf und glaubst, du kannst mit ein wenig Superheldennachmache bei Sylvia Eindruck schinden."
Der Hass, der ihm aus den dunklen Augen von Edgar entgegenschlug, brachte seine eigene aufgestaute Wut zum Überkochen. Er baute sich ebenfalls zu seiner vollen Größe auf und fixierte Edgar mit einem vernichtenden Blick. „Wäre ich nicht aus dem Nirgendwo aufgetaucht, so wäre Sylvia jetzt nicht mehr am Leben. Wenn du nicht so ein Arschloch gewesen wärst und sie ständig nach Strich und Faden betrogen hättest, dann —"
„Was faselst du denn da für ein Zeug?", fiel ihm Edgar ins Wort, doch sein Gesicht hatte plötzlich etwas an Farbe verloren. „Was meinst du mit ‚nicht mehr am Leben sein'?"
Armand hatte zwar nicht vorgehabt, Sylvias Selbstmordversuch zu offenbaren, aber er konnte seine im Affekt gesagten Worte jetzt nicht mehr zurücknehmen, also blieb ihm nichts anderes übrig, als in die Offensive zu gehen. „Exakt das, was ich gesagt habe. Sylvia wollte sich das Leben nehmen. Ich war zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle, um das zu verhindern, und ich werde alles daran setzen, dass so etwas nie wieder passiert und wenn es das letzte ist, was ich tue."
Edgars Augen weiteten sich plötzlich und er machte einen Schritt zurück. „Das ... das wusste ich nicht." Er schluckte und dann blickte er auf einen Punkt hinter Armands Schulter, wo die Tür zum Hörsaal immer noch einen Spalt weit offenstand.
Ohne sich umzudrehen, wusste Armand bereits, wer da hinter ihm stand, denn der Duft nach Honig und Maiglöckchen war absolut unverwechselbar.
Sein lebendig gewordener Frühlingsmorgen.
„Du gehst jetzt besser, Edgar, und kommst nie mehr zurück", hörte er sie sagen, und eine Mischung aus brodelnder Wut und schneidender Kälte schwang in ihrer Stimme mit.
Edgars Schultern spannten sich an und er presste seine Lippen aufeinander, als müsste er sich zwingen, nichts zu sagen. Doch dann nickte er kurz und drehte sich weg. Armand beobachtete mit nicht wenig Genugtuung, wie Edgar mit hängenden Schultern langsam den Gang entlangging und letztendlich in der Menge der Studenten verschwand.
Dann drehte Armand sich um und sein Blick fiel auf Sylvias Gesicht. Ein Wintertag konnte nicht eisiger sein. Da war keine Spur von Sanftheit und Zuneigung, als sie sagte: „Das Gleiche gilt auch für dich, Armand."
Bevor er noch irgendetwas sagen konnte, war sie schon wieder im Hörsaal verschwunden und hatte die Tür hinter sich zugeknallt.
Armand ließ seine Stirn gegen die Tür sinken und seufzte.
Na bestens, jetzt hast du dir auch noch gleich dein eigenes Grab geschaufelt.
Von drinnen war ein gewaltiges Rumpeln zu hören, so als wäre jemand gerade dabei, die Einrichtung auseinanderzunehmen.
Armands Hand wanderte in seine Jackentasche zu dem kleinen Geschenk, das er für Sylvia gekauft hatte. Er umschloss es mit festem Griff. So leicht würde er nicht aufgeben. Nicht so kurz vor dem Ziel. Zeit zu sterben und sich ins Grab zu legen hatte er später noch genug. Jetzt musste er erstmal beweisen, dass er auch als Mensch etwas von der Liebe verstand.
Er holte tief Luft, drückte die Türschnalle nach unten und trat ein.
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