Kapitel 3
Dariel hatte sich die Bilder der Opfer angesehen. Alle waren erst an der Schwelle zum Erwachsenenalter gewesen. Keiner hatte sich zur Verwandlung in einen Vampir gemeldet. Alle hatten fürchterliche Schmerzen gelitten, denn mit ihnen war nicht gerade zimperlich umgegangen worden. Keiner hatte es überlebt. Michaela hatte jeden von ihnen zu Staub verwandelt. Es waren keine kaltblütigen Morde gewesen, sondern ein Akt der Gnade durch den Erzengel. Die Opfer wären nach der Verwandlung nicht mehr sie selbst gewesen, wenn sie diese überhaupt überlebt hätten.
Wolken waren am Himmel über New York aufgezogen. Das Sichten der Unterlagen und Bilder, die Untersuchung des Tatorts, die Unterhaltungen mit den Angestellten, die die Opfer gesehen hatten, und eine schier endlose Befragung des weiblichen Erzengels hatte Stunden in Anspruch genommen. Erstaunlicherweise hatte Michaela ihr Versprechen gehalten. Sie hatte ihm, ohne zu zögern, Auskunft erteilt.
Nun glitt die Königin von Konstantinopel unter ihm über den Himmel. Den ganzen Tag über hatte sie mehrmals versucht, einen Blick auf seine ausgebreiteten Flügel zu werfen. Ein Lächeln schlich sich auf Dariels Lippen, denn im gleichen Moment schoß sie an ihm vorbei in die Höhe. Offenbar hatte sie ihr Vorhaben noch nicht aufgegeben, doch wieder war er schneller.
Seine Schwingen klappten zusammen und er fiel. Mitten in einer grauen Wolke öffnete der Fährtensucher seine Flügel erneut. Nicht einmal die scharfen Augen eines Erzengels konnten ihn an diesem Ort entdecken. Wachsam glitt er durch den Himmel und ließ sich fallen, als er das nächste Näherkommen ihrer Kraft wahrnahm.
Eine Drehung in der Luft vollführend, sah er zu Michaela auf. Bedrohlich breiteten sich ihre Flügel hinter ihrem Rücken aus. Ihre Federn blitzten und sprühten bronzefarbene Funken. Der angesäuerte Ausdruck auf ihrem schönen Gesicht entlockte ihm ein schallendes Lachen. Der weibliche Erzengel war nicht erfreut, dass Dariel sich ihr widersetzte.
Der verfluchte Engel war ihr erneut entkommen. Sein Lachen klang rau und jagte einen Schauer ihre Wirbelsäule entlang. So viel Ungehorsam in einer Person wäre in ihren Reihen niemals vorgekommen. Warum versteckte er seine Flügel vor ihr? Viel wichtiger war jedoch die Frage, warum es Michaela derart wichtig war, einen Blick auf sie zu werfen. Darauf hatte sie keine Antwort.
Mitten in der Bewegung klappten ihre Flügel zusammen. Wind rauschte um ihre Ohren und zog an ihrem Haar. Der weibliche Erzengel fiel dem Fährtensucher entgegen. Diesmal hatte sie ihn überrascht. Er würde ihr nicht wieder entkommen. Mit einem Ruck öffnete Michaela ihre Schwingen, während Dariel wie ein lachender Blitz neben ihr in die Höhe schoss.
Die Spitzen seiner Federn streiften die ihren. Ein Knistern erfüllte die Luft, als ein Hauch ihrer Macht auf ihn übersprang. Es tat nicht weh. Im Gegenteil es jagte einen angenehmen Schauer durch seinen Flügel und über seinen Rücken. Ihrem verdatterten Gesichtsausdruck, welcher sich für weniger als einen Herzschlag auf ihrem Gesicht gezeigt hatte, war zu entnehmen, dass Michaela eine ähnliche Reaktion erfahren hatte.
Raphaels Turm kam mit jedem Flügelschlag näher, während der weibliche Erzengel, innerlich kochend vor Wut, kapitulierte. Dieser Fährtensucher wollte ihr seine Schwingen nicht zeigen? Fein, sie hatte auch nicht das geringste Interesse daran, sie zu sehen! Zumindest konnte sie äußerlich diesen Eindruck hinterlassen.
Anmutig landete Michaela auf ihrem Balkon, nur um festzustellen, dass Dariel bereits auf sie wartete. „Ich benötige eine Liste aller Engel, die sich zu den Tatzeitpunkten auf Eurem und nun auf Raphaels Territorium befunden haben", seine Stimme war immer noch rau, „der Sire erstellt eine Liste der ihm unterstellten Engel, auf die dies zutrifft." Bevor er seine Bitte aussprechen konnte, unterbracht ihn Michaela: „Du wirst die Liste meiner Engel morgen Früh erhalten."
Wieder einmal zeigte sich auf ihrem Gesicht nicht die geringste Regung. Diese Frau schien ihre Maske nie abzulegen. Es sei denn, Dariel entriss sie ihr für einen Herzschlag oder sie fühlte sich unbeobachtet. „Vielen Dank, Lady Michaela", höflich verneigte er sich vor ihr, „ich werde Euch morgen zur vereinbarten Zeit von hier abholen." Ohne auf ihre Antwort zu warten, ließ der Fährtensucher sich mit eng an den Rücken gepressten Flügeln rückwärts vom Balkon fallen.
Gerade noch rechtzeitig unterdrückte Michaela den Drang, ihm hinterher zu sehen. Bestimmt hatte er sich absichtlich so verhalten, um sie zu provozieren. Innerlich zählte sie bis drei, dann betrat sie die ihr zugewiesene Suite des Turms. Obwohl die körperliche Anstrengung an diesem Tag gering ausgefallen war, führte ihr erster Weg sie in das geräumige Bad.
Als Erzengel war sie nicht zart besaitet, doch die Bilder der Toten hatten Spuren hinterlassen. Michaela fühlte sich dreckig. Hastig schlüpfte sie aus ihren Kleidern und trat unter den automatisch angehenden Wasserstrahl. Die Leichen waren beinahe noch Kinder gewesen. Mit einem Handgriff drehte sie die Temperatur in die Höhe.
Stetig fielen die Tropfen auf ihre Haut, die Haare und die Flügel. Erst nach einer Weile spürte sie, dass ihre bronzefarbenen Federn anfingen, Wasser aufzusaugen. Die Schwingen wurden schwerer, doch sie spürte es kaum, denn sie besaß die Kraft eines Erzengels. Langsam streckte sie ihre Muskeln in den Flügeln und zog sie dann wieder zusammen. Mit geschlossenen Augen genoss sie die heiße feuchte Luft ihrer Umgebung.
Graue Federn, die über ihre strichen. Bronzene Funken, die aufstoben und auf ihn übersprangen. Ein männliches, raues Lachen, das klar machte, dass ihre Energie ihn nicht verletzt hatte. Fest biss Michaela die Zähne aufeinander. Nein! So durfte sie gar nicht erst denken. Dieser Engel war Raphaels Fährtensucher. Zugegeben, er war auf eine männliche Art hübsch und er war stark, doch neben einem Erzengel war er lächerlich schwach. Michaela konnte ihn zu Staub verwandeln, ohne sich anstrengen zu müssen.
Kopfschüttelnd stellte sie das Wasser ab und griff nach einem der herrlich weichen Handtücher. Das Stück Stoff fest um den Körper geschlungen, schüttelte sie ihre Flügel aus. „Lächerlich", murmelte sie zu sich selbst, während sie aus der Dusche stieg. Vereinzelte Tropfen fielen aus ihren Federn zu Boden, während sie vor den großen Spiegel trat. Hellgrüne Augen sahen ihr entgegen. Mit einem Kamm entwirrte Michaela die langen Haare, deren hellere Strähnen im nassen Zustand weniger herausstachen.
Obwohl Erzengel kaum Schlaf brauchten, war sie müde. In Dariels Gegenwart hatte sie vergessen, dass sie noch am vergangenen Abend über den Schlaf der Engel nachgedacht hatte. Er würde diesen gewiss noch für eine lange Zeit nicht wählen. Der Fährtensucher war jung und überschäumend an Energie. Das konnte sich ändern, wie Michaela wusste.
Nur mit dem weichen Handtuch, das nicht einmal die Hälfte ihrer Oberschenkel bedeckte, trat der Erzengel zurück in den Hauptraum der Suite. Die zur Seite gezogenen Vorhänge bewegten sich sanft im Wind, der durch die offene Balkontüre eindrang. Warum sollte sie diese auch schließen? Niemand wäre lebensmüde genug, um sich ungefragt auf ihrer Etage aufzuhalten.
Mit diesem Gedanken erstarrte Michaela. Ein kalter Schauer lief ihren Rücken entlang. Dort lag etwas. Auf ihrem Balkon zeichnete sich ein Umriss ab, der dort nicht sein sollte. Ihr Herz hämmerte wie wild gegen die Rippen, als sie näher trat. Jeder Schritt brachte mehr Gewissheit. Sie hatte wieder ein Geschenk erhalten. Funken sprühten an ihren Federn, während gleichzeitig sämtliche Wärme aus ihrem Körper wich.
Ohne darüber nachzudenken, dass es gegen ihre Vereinbarung mit Raphael verstieß, schickte sie ihre Gedanken zusammen mit ihrer Macht auf die Suche. Solange Dariel sich noch in New York aufhielt, würde sie ihn finden. Er musste von dem neuen Opfer erfahren und es mit eigenen Augen untersuchen, bevor sie das Geschenk für immer zerstörte.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro