Kapitel 24
Michaela stand am Rand des Daches von Raphaels Turm. Ihre Flügel lagen anmutig zusammengefaltet an ihrem Rücken an. Die weiblichen Kurven ihres Körpers wurden von dem Hosenanzug, den sie auf ihren Reisen immer gerne trug, hervorgehoben. Das lange schwarze Haar mit den Strähnen in verschiedenen Braun- und Kupfertönen war zu einem Zopf geflochten, der ihr über eine Schulter fiel. Die Absätze ihrer Schuhe waren etwas weniger hoch, als man es von ihr gewohnt war, doch das störte das Gesamtbild nicht.
Auch an diesem Tag war der Erzengel von Zentraleuropa eine einzigartige Erscheinung. Die schönste Frau der Welt und noch dazu eine der Mächtigsten. Das war sie. Das sahen die Menschen, Vampire und Engel in ihr. Keiner konnte sehen, dass hinter der Fassade der Perfektion ein kleiner Teil von Michaela sterblich geworden war.
Der Blick ihrer hellgrünen Augen war auf den endlosen Horizont gerichtet. Auf diesen würde sie schon bald zufliegen. Ihre bronzefarbenen Flügel würden sie über den Himmel tragen bis sie in Budapest landete. Dann würde ihr Leben wieder den gewohnten Gang nehmen und keiner würde den kleinen Schatten sehen, der sich in das sonst so strahlende Grün geschlichen hatte. Keiner würde jemals erfahren, was sie in New York zurückgelassen hatte.
Ein leichter Windstoß verriet, dass Raphael hinter ihr gelandet war. Seine weißgoldenen Flügel streiften absichtlich die ihren, als er neben sie trat. „Kein anzüglicher Kommentar darüber, dass ich dich berührt habe?", erkundigte sich seine glasklare, tiefe Stimme, „verlierst du deinen Biss, Hohepriesterin?"
„Die Dinge ändern sich, Raphael. Vielleicht ändere ich mich auch", erwiderte der weibliche Erzengel, ohne ihn anzusehen, während sie die Arme vor der Brust verschränkte. Wieder raschelte es hinter ihnen. Für einen kurzen Moment tauchten seine ausgebreiteten Schwingen sie in ihren Schatten: „Eine Menge Männer werden zutiefst erschüttert sein, das zu hören."
Hellgrüne Augen sahen ihn wachsam von der Seite an. Michaela war um einige Zentimeter kleiner als der männliche Erzengel neben ihr. „Sie werden damit leben müssen", ein kleines, aber ehrliches Lächeln schlich sich auf ihre Lippen und verriet, dass trotz der stattfindenden Veränderung in ihr noch immer die verführerische Hohepriesterin von Byzanz steckte, „genauso wie die Frauen, die darauf gehofft haben, dass deine sterbliche Geschmacksverirrung nur von kurzer Dauer ist."
Lachend warf Raphael den Kopf in den Nacken. Es war so ehrlich und rein, dass Michaela sich sicher war, dass noch nicht viele Lebewesen dieses mächtige Wesen so gesehen hatten. Nur seinen Freunden und seiner Gemahlin war dieser Anblick bisher zu Teil geworden. Schützend legte sie ihre eisernen Schilde um diese Erinnerung. Ein Augenblick des absoluten Friedens zwischen zwei Mitgliedern des Kaders. Eine absolute und kostbare Seltenheit.
Erst als der Herrscher über New York verstummt war, brach Michaela das Schweigen: „Ich weiß, dass ich nicht für meine Loyalität bekannt bin und dass ich mich bisher aus den Koalitionen des Kaders herausgehalten habe. Mein eigener Vorteil hat darüber entschieden, mit wem ich ins Bett gestiegen bin und das nicht nur wortwörtlich, sondern auch im politischen Sinne. Das kann ich nun nicht länger tun."
Saphirblaue Augen musterten sie aufmerksam. Raphael hatte damit gerechnet, dass es zu diesem Gespräch kommen würde. Allerdings war er davon ausgegangen, dass er es beginnen musste, denn Michaela versuchte für gewöhnlich, über ihre Schwächen mit einem Lächeln und einem Augenaufschlag hinwegzusehen. „Kannst du Urams Gift in dir kontrollieren?", fragte er geradeheraus. Als Herrscher über ein ganzes Territorium musste er wissen, worauf er sich einließ. Er musste die Seinen beschützen.
„Nur im Zustand der Stille beherrscht mich meine Macht", erwiderte Michaela und überraschte ihr Gegenüber dabei mit ihrer Ehrlichkeit. Schwäche machte angreifbar. Erzengel durften daher niemals schwach wirken, erst recht nicht vor anderen Mitgliedern des Kaders der Zehn. Wenn sie es doch taten, unterschrieben sie damit ihr eigenes Todesurteil.
„Elena hat immer noch ein sterbliches Herz. In der letzten Stille wollte ich sie töten, denn sie hat mich schwächer gemacht. Dafür hat sie auf mich geschossen", Raphael breitete den Flügel aus, auf dem sich das goldene Muster der längst verheilten Verletzung zeigte, „meine Gefährtin hat mich ein kleines Stück sterblich gemacht." Der weibliche Erzengel starrte mit unverhohlenem Interesse auf die wunderschöne Narbe: „Bereust du es?"
Über diese Frage musste Raphael nicht nachdenken: „Keine Sekunde meines Lebens. Müsste ich die Entscheidung erneut treffen, würde ich wieder mit ihr fallen." Helles Grün traf auf Saphirblau. „Sie ist deine größte Schwäche", Michaela legte den Kopf zur Seite, „und gleichzeitig verleiht sie dir nie dagewesene Stärke."
Als Zeichen der Zustimmung neigte der Erzengel von New York den Kopf. Sein weibliches Gegenstück war niemals dumm gewesen. Sie versteckte ihren rasiermesserscharfen Verstand lediglich hinter ihrem hübschen Äußeren. Eine Fassade auf die Raphael schon lange nicht mehr hereinfiel und die viele Männer ihr Territorium oder ihr Leben gekostet hatte.
„Dariel hat mir in den letzten Tagen beigebracht, dass man sich das Vertrauen eines anderen verdienen muss und dass Freundschaft nur entstehen kann, wenn man einander vertraut", schlug Michaela den Bogen zurück zu ihrem eigentlichen Thema, „dein Fährtensucher ist zu meiner größten Schwäche geworden, Raphael. Kann ich dir vertrauen, dass du ihn nicht gegen mich einsetzt?"
Wieder streckte der männliche Erzengel seine Schwingen. „Eine Koalition zwischen Europa und Nordamerika hat es seit Jahrhunderten nicht mehr gegeben", stellte Raphael mit einem Lächeln fest, „du wirst aufhören müssen, meine Gemahlin zu ärgern. Vielleicht werdet ihr in den nächsten Jahren sogar noch Freundinnen."
Mit einem theatralischen Seufzen stieß Michaela ihm den Ellenbogen in die Rippen: „Manche Dinge halte ich für ausgeschlossen." „Wie die Tatsache, dass du für den Rest deines Lebens eine monogame Beziehung führen könntest?", warf der Herrscher von New York lachend ein. Die harmlosen bronzefarbenen Funken, mit denen der weibliche Erzengel ihn beschoss, wehrte er mit einer flüchtigen Handbewegung ab.
Hinter ihnen kam ein Luftzug auf. Zwei Engel waren auf dem Dach gelandet. Auch ohne hinzusehen wusste Michaela, dass es sich dabei um Elena und Dariel handelte. Sie waren gekommen, um sich zu verabschieden. „Freies Geleit?", erkundigte sich der weibliche Erzengel. Ihre hellgrünen Augen erwiderten Raphaels intensiven Blick mit einer Leichtigkeit, die ihre Stärke demonstrierte.
Wir werden erst wissen, ob sie es tatsächlich ernst meint, wenn wir es versuchen, warf Elenas Stimme in Raphaels Kopf ein. Seine Gemahlin hatte recht. „Freies Geleit", sprach der Erzengel von New York die Worte aus, die ihm im Zusammenhang mit Michaela niemals in den Sinn gekommen wären. Als sich die beiden Mitglieder des Kaders die Hände reichten und damit das neue Bündnis besiegelten, lag ihre Kraft für alle Anwesenden deutlich spürbar in der Luft.
„Komm gut nach Hause, Michaela." Raphael trat einen Schritt zurück, um seiner Gemahlin Platz zu machen. Die Jägerin streckte dem weiblichen Erzengel die Hand entgegen. Skeptisch musterte diese die Geste. „Ich verstecke keine Messer", versprach die zum Engel gewordene Sterbliche, „Dariel hat mich darum gebeten."
Um die Mundwinkel des Erzengels von Zentraleuropa zuckte es. „Ich musste ihm versprechen, dich nicht unter Strom zu setzen", gab Michaela zu, während sie die Hand der Jägerin ergriff. Für einen Moment herrschte Stille, doch dann lachte Elena: „Ich wünsche Euch einen guten Heimflug, Lady Michaela."
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