Kapitel 2
Zur vereinbarten Zeit wartete Dariel am Dach des Turms auf sein erstes Treffen mit dem Erzengel von Zentraleuropa. Raphael hatte seinem Fährtensucher bereits mitgeteilt, dass Michaela mit den Bedingungen einverstanden war, doch nun ließ sie ihn warten. Zu warten war nie seine große Stärke gewesen. Ruckartig streckte der Engel seine Flügel und faltete sie im nächsten Moment wieder eng an seinen Rücken gepresst zusammen. In dieser Haltung konnte niemand die tatsächliche Farbgebung seiner Schwingen erahnen.
Ein beinahe unmerkbarer Luftzug ließ die Muskeln im Körper des Fährtensuchers Spannung aufbauen. Sie war hier. Der weibliche Erzengel war direkt in seinem toten Winkel gelandet. Ein absichtlicher Verstoß gegen ihre Abmachung mit Raphael, denn ein Energiestoß ihrer Macht würde ausreichen, um Dariel zu Staub zerfallen zu lassen. In diesem Moment hätte der Engel seinem Sire Bescheid geben müssen, um den Auftrag abzubrechen, doch er tat es nicht.
Langsam und geschmeidig wie eine Katze drehte er sich auf dem Absatz um. Dariels türkisblaue Augen trafen auf den Blick der ihren. Das strahlende Hellgrün wirkte ungetrübt. Kein Schatten war auf ihrem Gesicht zu sehen. An diesem Morgen war Michaela wieder ganz der Erzengel, der allgemein als die schönste Frau der Welt bezeichnet wurde. „Lady Michaela", grüßte sie der Fährtensucher mit einem höflichen Nicken und einer angedeuteten Verbeugung.
Den Kopf leicht zur Seite geneigt musterte ihn der weibliche Erzengel. Es gab gar keinen Zweifel. Dieser Engel mit den türkisblauen Augen war jener, der am vergangenen Abend an ihrem Balkon vorbei gerauscht war. Energie knisterte in Michaelas Flügeln. Raphaels Fährtensucher hatte sie derart überrumpelt, dass sie ihn nicht verfolgt hatte und doch hatte er sie in einem Moment gesehen, der ganz und gar nicht für die Augen anderer gedacht war. Es war ein Moment der Schwäche gewesen, einem Erzengel unwürdig.
Auch Dariel war sich sicher, dass sein Gegenüber ihn wiedererkannt hatte. Das Aufflackern ihrer Macht war ihm nicht verborgen geblieben, obwohl sich in ihrem schönen Gesicht keine einzige Regung zeigte. Da er noch am Leben war, ging der Fährtensucher davon aus, dass Michaela Raphael nicht weiter verärgern wollte und ihre Landung lediglich genutzt hatte, um zu testen, wie stark Dariels Selbstbeherrschung war. Viele Engel wären panisch zu ihr herumgefahren, doch nicht er.
In einer fließenden Bewegung öffneten sich die bronzefarbenen Flügel des weiblichen Erzengels, bevor sie diese wieder schloss. Die schwarzen Haare mit den Strähnen aus Kupfer und unterschiedlichen Brauntönen fielen ihr offen in sanften Wellen über die Schultern und endeten erst bei ihrer schmalen Taille. Ihr maßgeschneiderter Hosenanzug betonte jede Kurve an ihrem Körper und davon hatte sie wahrlich genug. Genau an den richtigen Stellen, wie Dariel fand. Michaela war wirklich wunderschön und sie wusste diese Waffe schamlos einzusetzen.
„Raphael hat mir versichert, dass du dich mit all deinen Fähigkeiten der Jagd nach diesem Engel widmen wirst, wenn ich dir Zutritt zu meinem Anwesen gestatte", ihre Stimme klang melodisch und gleichzeitig verführerisch, obwohl sie über ein rein geschäftliches Thema sprach. Dariel hatte noch nie eine solche Stimme gehört, doch er ließ sich nichts anmerken: „Um richtig arbeiten zu können, benötige ich Einsichten in alle den Fall betreffenden Abläufe und Antworten auf etwaige Fragen. Ich kann keine Rücksicht auf Eure Privatsphäre oder territoriale Streitigkeiten nehmen."
Ein kaltes Lächeln schlich sich auf Michaelas Lippen. „Dann schickt mir Raphael einen Spitzel in mein Haus und hat nicht einmal den Anstand, es zu verschleiern?", erkundigte sie sich mit erhobener Augenbraue. Wieder flackerte ihre Macht durch die Luft, doch davon ließ sich Dariel nicht einschüchtern. Ohne darüber nachzudenken, wer vor ihm stand, trat er auf sie zu: „Der Sire erhält lediglich Informationen, die den Auftrag betreffen. Ich bin kein Spion, Lady Michaela, aber ich bin auch kein Verräter."
Türkisblaue Augen durchbohrten sie förmlich. Kein Engel, außer den Mitgliedern des Kaders, hatte jemals ihren Blick erwidert oder war ihr ohne Erlaubnis so nahe gekommen. Erst in diesem Moment wurde Michaela bewusst, dass der Fährtensucher sie trotz ihrer hohen Schuhe um einige Zentimeter überragte. Unter seinem T-Shirt konnte sie die Konturen seiner Muskeln erkennen. Dieser Engel war durch und durch ein Krieger.
„Sollte ich merken, dass Raphael Informationen von dir erhält ..." „Das wird nicht passieren", unterbrach Dariel den Erzengel. Wieder eine Verhaltensweise, die für ihn den Tod bedeuten konnte. Ein Ungehorsam, den Michaela unter ihren eigenen Leuten niemals dulden würde, doch in ihrem schönen Gesicht zeigte sich wieder keine Regung.
Dariel trat einen Schritt zurück, ohne den direkten Blickkontakt abzubrechen: „Habt Ihr noch weitere Fragen, Lady Michaela?" Seine Flügel eng an den Rücken gepresst, nahm der Fährtensucher eine wachsame Haltung ein. „Wirst du den Engel aufspüren können?" Mit einem angedeuteten Nicken antwortete er: „Bisher konnte ich jeden Auftrag erfolgreich abschließen." Noch einmal wanderten ihre hellgrünen Augen über seinen Körper und die angelegten Flügel: „Wir werden sehen, ob du hältst, was du versprichst."
Für einen Augenblick herrschte Stille, bevor Dariel diese durchbrach: „Ich muss den letzten Tatort sehen, um vielleicht eine Spur des Engels aufnehmen zu können." Seine Stimme klang rau und kratzte beinahe spürbar über Michaelas Haut. Ihre Flügel zuckten unmerkbar für ihr Gegenüber. Schweigend kehrte ihr Blick zu seinem Gesicht zurück und sie hob eine Augenbraue. Dariel verstand die Botschaft: „Ihr müsst mir zeigen, wo Ihr das Opfer gefunden habt." Ohne auf ihre Antwort zu warten, schwang er sich mit einem Senkrechtstart, der seine versteckte Kraft demonstrierte, in die Luft und glitt davon.
Dieses Verhalten hätte Michaela bei keinem ihrer Engel geduldet. Niemand ließ die Königin von Konstantinopel einfach so zurück, doch sie hatte Raphael ihr Wort gegeben, dass sie Dariel kein Haar krümmen würde. Bestimmt hatte der Erzengel von New York gewusst, wie oft das Verhalten seines Fährtensuchers sie dazu in Versuchung führen würde. Mit kräftigen Schlägen ihrer Flügel folgte sie diesem in den Himmel.
Dariel flog versteckt in den Wolken, ließ sich jedoch immer wieder fallen, um ihr zu zeigen, dass er weiterhin an ihrer Seite war. Sobald die weißen Fetzen am Himmel verschwanden, nutzte der Fährtensucher einen Winkel, in dem es ihr unmöglich war, die Farbgebung seiner Flügel genau zu erkennen. Als sie es ein weiteres Mal versuchte, entdeckte sie nur einen grauen Fleck, der von der Sonne hell erleuchtet wurde.
Dieses Verhalten war ungewöhnlich für einen Engel. Warum versteckte er seine Flügel vor ihr? Bisher hatte sie nur eine Wand aus dunkeln Federn zu Gesicht bekommen, die er fest am Körper trug. Neugierde flammte in Michaela auf. Eine Emotion, die sie seit langer Zeit nicht mehr gefühlt hatte.
Als sie mit dem Sinkflug zu ihrem Anwesen begann, befand sich der junge Engel direkt neben ihr. Für einen kurzen Augenblick zögerte der Erzengel, denn dies war ihre Gelegenheit, seine Flügel zu betrachten. Unauffällig ließ sie sich zurückfallen, doch kaum hatte sie die richtige Position eingenommen, um einen Blick erhaschen zu können, war Dariel verschwunden.
Die grauen Flügel eng an seinen Körper gepresst stürzte er dem Boden in rasender Geschwindigkeit entgegen. Im letzten Moment und versteckt hinter einem alten Obstbaum öffnete er seine Schwingen und bremste ab. Sanft landete der Fährtensucher in der saftig grünen Wiese und zeigte von seinem Gefieder nichts weiter, als eine graue Mauer.
Wieder hatte Michaela nichts erkennen können. Die Neugierde verwandelte sich in kochenden Zorn. Niemals zuvor hatte sich ihr ein Mann derart widersetzt. Lautlos landete sie neben dem jüngeren Krieger. Das Sonnenlicht ließ den Engelsstaub auf ihrem bronzefarbenen Gefieder leuchten, doch Dariel würdigte sie keines Blickes. Auch das hatte kein Mann je zuvor getan. Wieder eine Verhaltensweise, die ihr missfiel, denn Michaela wurde gerne angesehen und beachtet.
Ihr Blick folgte seinen Bewegungen, als er im hinteren Teil ihres Anwesens auf und ab schlich. Nie hatte sie einen Engel gesehen, der wie eine Katze umher streifte, wenn er sich am Boden befand. Natürlich waren viele Elitekämpfer beinahe lautlos, doch Dariel unterschied sich von jedem anderen. „Wo habt Ihr das Opfer gefunden?", erkundigte er sich. Blinzelnd rief Michaela ihre Gedanken zur Ordnung.
Die bronzefarbenen Flügel so angehoben, dass sie nicht über den Rasen strichen, ging sie voran. „Er lag hier zwischen diesen Rosenbüschen", ihre hellgrünen Augen wurden zu Schlitzen, „er war noch so jung, dass sein Name nicht auf der Liste stehen konnte." „Ein Kind?", Dariels Blick glitt über den Tatort und nahm jede Einzelheit in sich auf. „Nein, doch ein Mann war er dennoch nicht." Der Fährtensucher verstand, was sie ihm mitteilen wollte: „Ich werde mir das Opfer ansehen müssen und ich benötige Bildaufzeichnungen der anderen Opfer aus Eurem Territorium."
„Bildaufzeichnungen werden ausreichen müssen", stellte Michaela kühl fest. Die Arme vor der Brust verschränkt, beobachtete sie ihn. „Ich möchte das Opfer mit meinen eigenen Augen sehen", wiederholte Dariel seine Aufforderung, ohne sie anzusehen. „Das ist nicht möglich." Nun hob er doch den Blick: „Darf ich Euch an die Vereinbarung erinnern? Ihr habt Euch dazu verpflichtet, ohne Einschränkung mit mir zu kooperieren."
Wieder zuckten ihre Flügel unmerkbar. „Ich kooperiere", ihre Stimme hatte erneut diesen melodischen Tonfall angenommen. „Dann zeigt mir die Opfer." Verneinend schüttelte Michaela den Kopf. Ihre Locken glitten über ihre Schulter nach vorne. „Er hatte unsagbare Schmerzen und hätte die Verwandlung nicht überlebt. Ich habe ihn erlöst", jede Verführung war aus ihrer Stimme verschwunden und machte dem Erzengel Platz, der berechnend über einen ganzen Kontinent herrschte.
Türkisblaue Augen erwiderten ihren Blick. Dariel schreckte nicht vor dem zurück, was sie war. „Ein Akt der Gnade", ein Nicken begleitete seine Worte, „Bilder werden ausreichen." Er wandte sich wieder seiner Aufgabe zu. Seine Flügel lagen so knapp am Rücken, dass es fast schon schmerzhaft aussah. Eine graue Wand aus Federn. Noch immer hatte sie keinen Blick auf diese Flügel in ihrer ganzen Pracht erhaschen können.
Wie eine Katze schlich Dariel im hinteren Teil ihres Rosengartens auf und ab. Vermutlich war dieser Garten älter als der Engel vor ihren Augen. Dieser Gedanke ließ Michaelas Mundwinkel zucken. „Ihr habt das Opfer selbst entdeckt?", erkundigte sich seine raue Stimme. Erneut hatte sie das Gefühl, als würden seine Finger dabei über ihre Haut streichen. „Ja", erwiderte der Erzengel. Niemand hätte geahnt, dass ihr inneres Gleichgewicht bei seinen Worten aus dem Takt geraten war.
„Wer hält sich noch in diesem Bereich des Gartens auf?", hakte Dariel nach. Sein Instinkt leitete ihn bei der Untersuchung des Tatorts. „Mein Personal, jedoch ...", mitten in ihrem Satz brach Michaela ab. „Jedoch?" Durchdringende türkisblaue Augen blickten sie an. Nicht eine Spur von Angst spiegelte sich darin, obwohl sie ein Erzengel war und ihn mit einem Aufblitzen ihrer Macht vernichten konnte.
Als sie ihm nicht antwortete, trat Dariel auf Michaela zu. Ihr Gesicht zeigte keine Gefühlsregung. Sie war der perfekte Erzengel, den die Welt so oft zu sehen bekam. Keine Spur des Schattens, den er auf dem Balkon des Turms hatte erkennen können. „Das Personal kommt erst an diesen Ort, nachdem Ihr hier gewesen seid. Ihr seid die Erste", keine Sekunde ließ er sie aus den Augen, „genauso wie an den anderen Tatorten."
Gift blitzte in den strahlend grünen Augen des Erzengels auf. „Beschuldigst du mich, Fährtensucher?", ihre Stimme war leise und dennoch schneidend. Ohne zurückzuweichen, schüttelte Dariel den Kopf: „Niemals." Das Knistern in der ihn umgebenden Luft ließ nach. „Aber die Opfer sind nicht zufällig platziert. Es sind Geschenke", sprach er seine Überlegungen laut aus, „wer immer der Engel ist, er wirbt mit diesem Verhalten um Euch."
Für den Bruchteil eines Herzschlags entglitten der schönsten Frau der Welt die Gesichtszüge, doch gleich darauf hatten sich ihre Mauern wieder geschlossen. Einem weniger aufmerksamen Engel wäre dieser Moment vielleicht entgangen, doch Dariel war ein Fährtensucher und so eben hatte er die der wahren Michaela wieder aufgenommen.
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