Vier
Gestern bin ich noch ewig durch die Stadt gelofen, bis es dunkel wurde. Ich habe versucht mein Gedanken zu ordnen und mir irgendwie einen Überblick über das, was gestern alles passiert ist zu verschaffen. Aber ich bin immer noch total überfordert mit dem Gedanken, dass meine Eltern nicht meine Eltern sind.
Nach meinem nächtlichen Spaziergang bin ich erst spät nach Hause gekommen. Die Schiller fand das natürlich nicht so cool. Auch Sibel war alles andere als erfreut, als ich mitten in der Nacht das Licht in unserem Zimmer angemacht habe.
Obwohl ich schon so spät zu Bett gegangen war, konnte ich einfach nicht einschlafen. Die Gedanken an diese Frau von Blumenberg waren einfach viel zu laut.
Und jetzt liege ich hier mit üblen Kopfschmerzen und warscheinlich so heftigen Augenringen, dass man mich mit einem Panda verwechseln könnte.
Frau Schiller springt schon wieder im Dreieck, weil ich doch nur schwänzen will. Wenn die wüsste. Wieso sollte ich auch den ersten Schultag schwänzen wollen, der doch eh immer total chillig ist.
Genervt zwinge ich mich dann aber doch noch dazu aufzustehen und schleppe mich übermüdet in den Waschraum. Ich spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht, in der Hoffnung, dadurch etwas wacher zu werden.
Ich versuche meine Augenringe noch mit etwas Make-up zu überdecken und mache mich dann auf den Weg zur Schule.
Normalerweise würde ich vor der Schule noch gemeinsam mit Leni frühstücken und dann würden wir gemeinsam zur Schule gehen. Aber erstens habe ich keine Zeit für ein Frühstück, weil ich meine Zeit schon zu viel verplempert habe und zweitens hat Leni mit mir eine Beziehungspause eingelegt.
...
In der Schule angekommen gibt es zuerst, wie jedes Jahr, eine Begrüßungsrede von Chucker. Chung und Stocker. Unserer Direktorendoppelspitze.
Ich höre gar nicht genau zu, ich bin viel zu sehr damit beschäftigt Leni zu beobachten. Die Braunhaarige schaut konzentriert auf unsere Direktoren und scheint interessiert zuzuhören. Habe ich ihr eigentlich jemals gesagt, wie süß sie aussieht, wenn sie sich konzentriert?
"...und deshalb begrüßen wir ganz herzlich neu in unserem Kollegium: Constanze von Blumenberg!"
Als ich den Namen 'von Blumenberg' höre, schaue ich geschockt nach vorne. Auf der kleinen Bühne stehen Chung und Stocker, die gerade fett ihre neue Kollegin ankündigen.
Direkt daneben steht sie: Die Frau, die ich gestern bei Frau Schiller gesehen habe. Unsere neue Referendarin. Sie nimmt das Mikrofon, das Herr Chung ihr in die Hand drückt und beginnt zu reden.
"Ja genau, also ich bin Constanze von Blumenberg und ich studiere gerade Deutsch und Geschichte auf Lehramt. Ich bin selbst mal hier auf das Einstein gegangen und deswegen war mir sofort klar, dass ich hier mein Referendariat machen will."
Genau ab diesem Moment weiß ich was hier abgeht. Diese Constanze ist meine Mutter. Warscheinlich wird das ganze hier wie in den Filmen ablaufen. Meine Mutter schleicht sich heimlich in meine Schule ein und versucht mich auf diese Weise irgendwie kennen zu lernen. Schade nur, dass ich schon weiß, was hier abgehen wird.
Ich möchte meine Mutter nicht kennenlernen. Die Frau, die meint eine Tochter zu brauchen, sich aber doch nicht um ihr eigenes Kind kümmern kann, ist für mich gestorben.
Vielleicht bin etwas zu streng. Irgend etwas tief in mir hat eben doch das Bedürfnis sie kennen zu lernen.
"Heute werden wir euch erst einmal alle Profile für das kommende Schuljahr vorstellen. Ihr könnt einfach zuhören und schauen was euch am besten gefällt. Die Vorstellungen gibt es in den jeweiligen Klassenzimmern. Viel Spaß!"
Nach dem Schlusswort von Herr Chung nimmt die Menge der Schüler im Eingangsbereich nach und nach ab. Alle strömen in Richtung der Zimmer. Ich bleibe jedoch stehen und beobachte ganz genau jede Bewegung meiner Mutter.
"Hey, willst du dir die Profil Fächer nicht anschauen?"
Als ich noch total in meinen Gedanken vertieft war, ist Frau von Blumenberg auf mich zugenommen. Ich scheine die Einzige zu sein, die noch hier steht. Sie lächelt mich fragend an.
"Doch klar."
Schnell laufe ich los und hoffe, dass sie mir nicht folgt. Ich will nicht mit ihr alleine sein. Doch mein Wunsch geht leider nicht in Erfüllung.
"Du bist schon länger hier, oder?"
Und Smalltalk möchte ich mit ihr erst recht nicht führen. Ich nicke nur und verschnellere meine Schritte. Auch sie macht größere Schritte und kommt mir so locker hinterher.
"Bist du auf der Flucht?"
Sie lacht. Sie scheint es wohl als einen Witz zu sehen. Ich finde es allerdings gar nicht so witzig, denn ja, ich bin auf der Flucht vor einer viel zu neugierigen Mutter.
"Können Sie mich bitte in Ruhe lassen?"
Ich explodiere fast vor Wut. Meine Mutter läuft die ganze Zeit neben mir her, aber traut sich nicht mir ins Gesicht zu sagen, dass ich ihre Tochter bin, stattdessen schickt sie mir einen verdammten Brief.
Ich betrete irgendein Klassenzimmer und setzte mich auf einen der freien Stühle. Ist es Schicksal, dass ich mich direkt neben Leni setze? Ich laufe gerade von einem Problem ins Nächste. Erst meine Mutter und dann Leni.
Mir muss deutlich anzusehen sein, dass es mir schlecht geht, dass ich gerade einfach nur wütend bin. Denn auf einmal spüre ich Lenis Hand, die beruhigend meinen Oberschenkel auf und ab streicht.
Ich atme tief durch und schenke ihr ein kleines Lächeln. Sie lächelt zurück. Bin ich gerade im falschen Film? Wir, also eigentlich Leni, hatte doch eine Beziehungspause beschlossen.
"Denk ja nicht, dass jetzt alles wieder gut zwischen uns ist... Aber ich sehe doch wie es dir geht."
Noch ein aufmunterndes Lächeln von Leni. Ich fühle mich gestärkt, für das, was jetzt kommt. Doch keine Sekunde später, sinkt meine Laune wieder, als Frau von Blumenberg das Zimmer betritt.
"Hey ihr alle! Also noch mal für alle, ich bin Constanze von Blumenberg und ich mache hier mein Referendariat. Ich werde euch in Deutsch und Geschichte unterrichten, aber auch in zwei Profilfächer. Vorausgesetzt natürlich ihr wählt diese."
Frau von Blumenberg nimmt einen der Stifte und schreibt an unser SmartBoard:
"MANDARIN"
"DEMOKRATIE"
"Warscheinlich hören sich die Fächer für euch langweilig an, aber ich kann euch sagen, Mandarin ist zwar eine schwere Sprache, aber meiner Meinung nach..."
Ich höre nicht mehr richtig hin, sondern lehne mich ein Stück zu Leni. Die Braunhaarige scheint wieder konzentriert zu zuhören. Ich flüsterte in ihr Ohr.
"Ich muss mit dir reden. Hast du heute Nachmittag Zeit?"
Nach einer langen Minute nickt sie, aber konzentriert sich direkt wieder auf Frau von Blumenberg Vortrag.
"... Wir werden im Fach Demokratie auf keinen Fall nur theoretisch alles behandeln. Wir werden vieles Nachstellen, in Rollenspielen zum Beispiel. Gibt's noch Fragen? Sonst würde ich sagen: Ich würde mich freuen, wenn ich euch für eines meiner zwei Profilfächer begeistern konnte. Wir sehen uns hoffentlich bald."
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