Eins
Mal wieder. Ich bin viel zu spät dran. Wenn ich jetzt noch den Zug nach Erfurt kriegen möchte, dann muss ich mich echt beeilen.
Komisch, ich hätte schwören können, dass ich das Zugticket gestern auf meinem Schreibtisch abgelegt hatte. Aber dort ist es nicht.
Meine Finger fahren langsam über die Schreibtischplatte. Ich vermisse mein Zuhause jetzt schon. Vor allem die Zeit mit meinen Eltern. In den Ferien haben wir so vieles gemeinsam unternommen, dass ich gar nicht mehr aufzählen könnte, wo wir überall waren.
Schon lange hatte ich nicht mehr so viel Spaß mit meinen Eltern, wie in den letzten Wochen. Aber dass ich mein Leben wieder viel mehr genießen kann, daran ist keine Geringere als Leni schuld. Wir haben in den Ferien jeden Tag geschrieben und ich kann gar nicht in Worte fassen, wie sehr ich sie vermisse.
Zwar haben wir uns in den sechs Wochen ein paarmal getroffen, aber das ist natürlich nichts dagegen, wenn man im Internat jede einzelne Minute miteinander verbringen und sich sogar ein Zimmer teilen kann. Deshalb bin ich froh, dass die Ferien jetzt vorbei sind und es für mich endlich wieder ins Internat geht.
Mein Blick fällt auf die Uhr, die über meiner Tür hängt. Ich habe noch genau 10 Minuten, sonst kann ich den Zug vergessen. Eigentlich bin ich ja auch schon fertig. Wenn ich nur dieses verdammte Zugticket finden würde.
Verzweifelt suche ich in windeseile mein gesamtes Zimmer ab. Ohne Erfolg. Das Zugticket bleibt verschollen. Genervt versuche ich in unserem Wohnzimmer mein Glück. Und tatsächlich, auf dem kleinen, runden Couchtisch liegt mein Zugticket. Erleichtert nehme ich es auf und bin dabei die Wohnung zu verlassen, da halte ich plötzlich inne.
Die Zettelansammlung im Regal über dem Fernseher ist mir noch nie so aufgefallen. Ich gehe einen Schritt näher ran und erkenne ganz oben auf dem Stapel einen Briefumschlag, der irgendwie zerknittert und verheult aussieht.
Ich hadere mit mir, ob es wirklich das Richtige wäre nachzusehen, was es mit dem Brief auf sich hat. Aber da meine Eltern beide eh gerade auf der Arbeit sind, zögere ich nicht länger und ziehe den Brief heraus.
Beim Blick auf den Adressaten wird mir anders, denn dieser Brief ist an mich adressiert. Doch ich kann mich nicht daran erinnern, diesen Brief schon einmal gesehen zu haben.
Mit einem erneuten Blick auf die Uhr packe ich den Brief in meine Tasche. Es wird hoffentlich niemandem auffallen, dass der Brief nicht mehr da ist.
Langsam schaue ich mich noch einmal in meinem kleinen, schnuckeligen Zuhause um, welches mir in diesem Jahr noch vertrauter und lieb geworden ist, obwohl ich mein ganzes Leben schon hier verbracht habe.
Zögernd verlasse ich dann aber unser Haus, denn ich will auf keinen Fall den Zug nach Erfurt verpassen.
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