VI
Er hatte vieles über Charisma und die Aura der Menschen gelesen. Welche Farben sie haben konnten, woran sich Charismatiker erkennen ließen und was die psychologische Erklärung dafür war, wieso man sich zu ihnen hingezogen fühlt.
Zwar hatte das nicht in all den Büchern gestanden, doch nachdem er dieses Thema nach zwei Monaten für langweilig und somit abgeschlossen erklärt hatte, war ihm in den Sinn gekommen, dass in der Theorie jeder Mensch Charisma besaß, nur nicht in der gleichen Menge und Wirkung.
Als er mit zwölf in einen neuen Taekwondo-Kurs gekommen war, hatte er einen Partner gehabt, der so ein verblüffendes Auftreten gehabt hatte, dass er sich von ihm zu Boden werfen lassen hat, bevor er auch nur über seine Strategie nachdenken konnte. Der Junge war ruhig gewesen, hatte nie viel gesagt, stand meistens mit zwei anderen Freunden zusammen, hatte aber vorzugsweise bei Gesprächen teilnahmslos zur Decke gestarrt. Doch sobald er jemandem gegenüber gestanden hatte, bereit für die nächste Runde, war ein Feuer in seinen Augen entflammt und der introvertierte, verträumte Junge wurde innerhalb einer Sekunde zu etwas mysteriösem; das Phänomen der stillen Gewässer.
Auch wenn sie alle es nicht wahrnehmen wollen, besitzen sie Charisma. Der Bann die Menschen zu faszinieren und zu beeindrucken.
Er wollte nicht eingebildet klingen, aber später am Montag war er der festen Überzeugung er, dass es sein Charisma, seine Ausstrahlung gewesen war, die Taehyung beeindruckt haben musste, als er da vorn gestanden und sich zum Lehrerliebling gemacht hatte. Anders konnte er sich nicht erklären, weshalb dieser Junge auf ihn zugekommen und praktisch dazu genötigt hatte, sein Partner für dieses Projekt zu sein.
Er konnte nicht leugnen, dass ihn dieses plötzliche Interesse aus dem Konzept gebracht hatte. Auch wenn das Fußballtraining verlaufen war wie immer - Baekhyun schien ihn erst wieder erkannt zu haben, als er bei einem Probespiel durch seine Abwehr gebrochen und den Ball mit einer solchen Wucht ins Tor geschossen hatte, dass selbst der Torwart (ein kleiner, schmächtiger Junge, der sich eingebildet hatte, er könnte trotz seiner zarten zwölf Jahre mit ihnen mithalten) zur Seite gesprungen war - fühlte er sich den Rest des Tages ein wenig, als hätte ihn jemand aus seiner Fahrspur gehoben und irgendwo weiter rechts abgesetzt. Zwischen den LKW's, da wo alles ein wenig langsamer lief.
Beim Abendessen saß er seiner Mutter und Taeyang gegenüber und starrte auf seinen Teller. Stumm, wie ein Fisch, lauschte ihren Gesprächen und nickte ab und zu, wenn Taeyang ihn fragte, ob das Essen in Ordnung wäre.
Sie unterhielten sich über die Arbeit - seine Mutter erzählte von einem ihrer Patienten, der nach einem Autounfall sechs Monate im Krankenhaus gelegen und heute entlassen worden war, sie hatte in den letzten sechs Monaten sehr viel von ihm erzählt -, über die neusten Nachrichten aus der Politik und wie wunderbar Taeyang das Essen gelungen war.
Und dann, gerade als sie beinahe mit dem Nachtisch - Crème Brûlée - fertig waren und er schon gehofft hatte, heute nicht mehr erklären zu müssen, dass er zum ersten Mal in seinem Leben eine Verabredung hatte, holte seine Mutter Luft und drehte sich zu ihm.
„Wie war's in der Schule, Schatz? Hast du etwas Neues gelernt?"
Er schüttelte den Kopf und starrte auf seine Schüssel und die abgekühlte Karamellschicht, die er immer zum Schluss aß. „Nein."
Es war die erste Frage, die sie stellten. Ob er etwas Neues gelernt hatte. Und er wusste bis heute nicht, ob sie neugierig oder vorwurfsvoll klingen sollte.
Sie nickten.
„Sind die neuen Kurse in Ordnung?", fragte Taeyang und er wich seinem Blick aus, während er wieder nickte.
„Sie sind okay..."
Er wusste, was jetzt folgen würde. Und er wusste, dass er die Wahrheit sagen musste.
„Und... hast du neue Leute kennengelernt?" Sie sagten niemals 'Freunde'. Vermutlich weil sie genau wussten, dass er mit all seinen 'Freunden', die er an der Schule hatte, niemals das machen würde, was normale Freunde miteinander machten. Und deswegen fühlten sie sich schlecht. Sie wussten es nur noch nicht.
„Ich muss mit einem Jungen zusammen eine Projektarbeit machen. Außerhalb der Schule."
Taeyangs Gesicht hellte sich augenblicklich auf und seine in Falten gezogene Stirn glättete sich, während seine Mutter skeptisch die Augen zusammenkniff.
Sie beide wollten, dass er zur Schule ging. Taeyang allerdings schien sich als einziger zu interessieren, wie es um seine zwischenmenschlichen Aktivitäten stand.
„Das ist ja super. Wie heißt er denn?", fragte er, bevor seine Mutter irgendetwas erwidern konnte.
„Kim Taehyung."
„Und wann wollt ihr euch treffen?"
„Freitagnachmittag. Nach dem Training."
„In welchem Fach?"
„Kunst. Der Zusatzkurs", antwortete er seiner Mutter und hoffte inständig, dass jetzt nicht das kommen würde, was er die ganze Zeit schon über befürchtet hatte...
„Und... wie ist er so?"
Es war eine Frage, die sie beide aus unterschiedlichen Gründen interessierte. Eine Frage, die ihn ebenfalls interessierte, denn bislang hatte er sich nicht getraut darüber Gedanken zu machen.
Taehyung sitzt an dem dritten Tisch von rechts, direkt neben dem Fenster. Er hat Freunde, die ältere Geschwister haben, von denen sie sich Alkohol kaufen lassen können. Und er ist beliebt.
Jeder findet ihn nett, zuvorkommend, ein bisschen weniger Arschloch, als den Rest seiner Gruppe. Die Mädchen mögen ihn, er trägt immer die neusten Klamotten und besitzt - im Gegensatz zu ihm - Charisma, dass beinahe jeden in seinen Bann zieht.
Er weiß nicht, ob er Taehyung sympathisch finden soll. Vertrauen sollte man ihm nicht, dafür ist er zu loyal seinen Freunden gegenüber, die alles tun würden, um einen Schüler aus Schule zu mobben, den sie nicht mögen (und es gab ziemlich dämliche Gründe, die sie haben, um jemanden nicht zu mögen). Er wusste von Anfang an, dass er diese Gruppe um jeden Preis meiden sollte. Es gibt nicht viel, was er über einen längeren Zeitraum will (um genau zu sein, gibt es genau eine Sache, aber das wusste er in diesem Jahr noch nicht), doch ein entspanntes Schulleben zu führen, ohne Ärger und Menschen, um die er sich Gedanken machen musste, gehört dazu.
„Nimmt er irgendetwas?"
„Seunghee, die Kinder sind vierzehn."
Seine Mutter funkelte Taeyang an.
„Na und?"
„Nein, ich glaube nicht", murmelte er leise, auch wenn es eine Lüge war. Eigentlich ist es ziemlich sicher, dass Taehyung sich regelmäßig zum Trinken trifft. Aber hoffentlich nicht an dem Abend, wo sie zusammen das Kunstprojekt bearbeiten würden.
„Schön. Aber, Schatz, du weißt, dass du nach dem Training Klavierunterricht hast, oder?" Sie klang vorwurfsvoll.
„Mr. Min ist noch nicht von seiner Konzertreise zurück, Mom." Er sagte gerne Mom zu ihr. Es klang nicht so persönlich.
Seine Mutter schien zu überlegen und Taeyang starrte auf seine Glasschale. Aus solchen Dingen hält er sich heraus. Taeyang ist nicht sein richtiger Vater, würde es nie sein und obwohl er es liebend gern tun würde, mischt er sich bei solchen Entscheidungen nie ein.
„Von mir aus. Aber arbeitet bitte."
„Ja, Mom."
„Auch wenn es nicht wichtig ist..."
„Ich weiß, Mom."
Betretene Stille legte sich über den Tisch und er fürchtete sich bereits jetzt vor Freitag. Er wusste viel über Taehyung.
Er wusste, dass er schon mit vielen Mädchen gegangen war, und er wusste, dass das nie länger, als sieben Tage.
Er wusste, dass Taehyung Freunde hatte, die ihn hassen würden.
Er wusste, dass Taehyung sehr reich sein musste.
Und er wusste, dass Taehyung sich für Kunst interessierte. Aber das war alles.
„Hast du Hamlet fertig?", fragte Taeyang, dem die Situation am schwersten auf den Schultern zu drücken schien und er nickte und dann redeten sie den restlichen Abend über die dänische Tragödie.
Auf dem Weg zu einer Matinee und ich weiß nicht, ob ich dumm oder engagiert bin...
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