IV
Er hatte am Abend zuvor Hamlet in der Originalfassung zu Ende gelesen und war entsprechend ausgelaugt, als er am nächsten Tag seine Runde im Park drehte und mit Bob und J zur Schule fuhr. Sie unterhielten sich über die Sommerferien und darüber, wie anstrengend das Schuljahr werden würde. Er hörte ihnen zu, sagte aber nichts.
Sein Stundenplan war voller als im letzten Jahr, aber er sah trotzdem sofort die Möglichkeiten seine außerschulischen Aktivitäten unterzubringen. Es stand außer Frage, dass er auch nur eine von ihnen für dieses Jahr ausfallen ließ. So anstrengend es auch werden würde.
Alles war verlaufen, wie immer. Er saß im Unterricht ganz vorn, meldete sich alle zwei Fragen, um nicht den Eindruck zu machen, er würde sich zu motiviert beteiligen und achtete genau darauf Blickkontakt zu seinen Mitschülern vermeiden. In der Cafeteria hielt man ihm seinen Platz frei und er nahm sich nur etwas von der Salatauslage, da er zum Morgen schon ein Toast mit Kirschmarmelade gegessen hatte.
Die freie Zeit bis zum Beginn seiner letzten beiden Stunden verbrachte er in der Bibliothek, sah sich auf einem der Computer eine Online-Vorlesung der Universität in England an, die er später einmal besuchen will, und versuchte sich an seinen liebsten Satz aus Hamlet zu erinnern, während er eine kleine Rezension dazu schrieb und sie auf seinem USB-Stick speicherte. Er macht das mit jedem Buch, das er gelesen hatte. Für später, wenn er sie mal wieder lesen und überlegen würde, was er damals über den Inhalt gedacht hatte.
Nach seiner Mittagspause musste er in den Keller der Schule zu seinem Kunstkurs. Auf dem Weg dorthin überlegte er fieberhaft, was auf ihn zukommen würde. Doch nichts was ihm in diesem Moment durch den Kopf schwirrte, entsprach dem, was ihn tatsächlich erwartete.
Der Kurs war klein. Er zählte zwölf Leute und Mr. Park, den kleinen, dünnen Kunst- und Sportlehrer, der bei den Mädchen so beliebt war.
Er konnte ihn gut leiden. Mr. Park war einer der wenigen Lehrer, der keine Fragen stellte, warum er so schnell rennen konnte und in jeder Sporteinheit zu den Besten gehörte. Er quittierte es nur mit einem wohlwollenden Lächeln und schrieb sich die Noten auf. Der Sportlehrer, den er in der siebten Klasse gehabt hatte, war bei weitem aufdringlicher gewesen, hatte ihn gefragt, wo, wann und was er alles trainiert hatte.
Von den Gesichter aus dem Kurs kannte er beinahe alle beim Namen. Auch wenn er sich mit niemandem länger als fünf Minuten unterhält, weiß er eigentlich ziemlich genau, wer diese Leute sind. Denn, obwohl er meist ziemlich apathisch in den Mittagsgesprächen wirkt, lauscht er eigentlich sehr aufmerksam und interessiert den Lästereien und Erzählungen der anderen.
Somi, ein brünettes Mädchen aus Amerika, hatte letztes Jahr neben ihm in Geschichte gesessen und Minho war einer der Jungs, bei denen er zum Essen saß. Den Rest kannte er nur vom Hören und Sehen.
Und glücklicherweise ging es ihnen wohl nicht anders, denn keiner ließ sich dazu herab, ihn zu begrüßen, als er sich an einen freien Platz neben Minho setzte.
„Jeongguk, schön, dass du da bist. Dann können wir ja anfangen", begrüßte Mr. Park ihn lächelnd und er nickte nur hastig bei der Erwähnung seines Namens, bevor er seine Tasche unter seinen Stuhl schob und seine Hände unter dem Tisch faltete. Keiner hatte sich zu ihm umgedreht. Zumindest hatte er das gedacht.
Mr. Park stellte sich kurz vor, wie es jeder Lehrer an diesem Tag getan hatte, wie es jeder Lehrer, jedes Jahr nach den Sommerferien tat, und erläuterte einen Moment lang, weshalb Kunst so wichtig für das Leben war, und was sie in diesem Kurs lernen und kennenlernen würden; nichts, was er nicht schon beherrschte.
Die restliche Stunde sollten sie das zeichnen, was ihnen als erstes in den Kopf kam, und vor den anderen vorstellen. Er hasste es vor der Klasse zu sprechen und wurde zum ersten Mal in dieser Stunde einen Moment von seinen Gedanken abgelenkt, als Mr. Park diesen Arbeitsauftrag verkündete. Zwar geriet er nie ins Stottern oder wurde so nervös, dass er zu leise sprach, doch trotzdem stand er nicht gern vor anderen. Es war nichts dramatisches, schlichtweg die gleiche Hemmung, die er auch davor hatte, Paprika zu essen. Er mochte es nicht, tat es aber trotzdem.
Willig zeichnete er also das Bild nach, dass er in seiner Mittagspause im Internet bei einer Werbeanzeige für Ölfarben gesehen hatte. Er war nicht sonderlich zufrieden mit seinem Endergebnis, aber die Worte, die er am Ende der Stunde dazu sagen wollte, lenkten ihn von diesem harschen Gedanken weg und ließen ihn ein wenig zur Ruhe kommen.
Während des Zeichnens und dem stetigen Kratzen von Bleistift auf Papier, das den kühlen Raum des Kellers erfüllte, dachte er gar nicht mehr an seine Vorsätze, sich auch in diesem Schuljahr so normal wie möglich zu verhalten, doch das fiel ihm erst auf, als es zu spät war, Mr. Park ihn nach vorne an seine Tafel holte und er ohne nachzudenken anfing zu reden.
„Ich hab mein Bild von einem Zitat aus Hamlet inspiriert, auch wenn es vielleicht nicht die beste Arbeit ist. There are more things in Heaven and Earth than are dream't of in your Philosophy."
Er sah nicht auf, als er die Worte aussprach, die er sich farbig in seiner Ausgabe markiert hatte, denn noch während er redete, bemerkte er, wie ein paar Schüler verwundert ihre müden Köpfe gehoben hatten. Was eigentlich nicht sonderlich bemerkenswert war. Sie waren alle nicht älter als fünfzehn und vermutlich wusste nicht einmal die Hälfte von ihnen, wer Hamlet gewesen war. Doch jetzt war es zu spät, um sich selbst aus dieser Misere zu ziehen.
„Der Apfelbaum hat seine Wurzeln in der Erde vergraben, streckt aber gleichzeitig die Zweige in Richtung Himmel. Man könnte es als eine Art Verbindung sehen. Etwas, dass dem Himmel und der Erde gleichwertig ist und deswegen weit über deren jeweilige Importanzen hinausgeht."
„Und warum ausgerechnet ein Apfelbaum?"
Er musste lächeln, da er gehofft hatte, Mr. Park würde fragen.
„Im Christentum steht er für die Erkenntnis von Gut und Böse und wird in der Bibel als etwas negatives - der Baum der Sünde - dargestellt. Wenn man allerdings mal genauer darüber nachdenkt, hat der Apfelbaum den Menschen erst zu dem geformt, der er heute ist. Eigenständig denkend und mit einem funktionierenden Meinungsbild über das eigentliche Gut und Böse. Und ich denke, dass eine solche, eine eigene Entscheidungskraft bei weitem mächtiger ist, als das vorgeschriebene und bekannte, dass der Himmel und die Erde symbolisiert."
Betretene Stille füllte den Raum.
Er sah vorsichtig hoch. Einige seiner Mitschüler sahen zutiefst verwirrt aus. Minho starrte ihn nur verblüfft an und Somi direkt vor ihm legte den Kopf leicht schief, als würde sie sein Bild erst jetzt richtig betrachten. Nur Mr. Park grinste stolz von einem Ohr bis zum anderen.
„Sehr schön, Jeongguk. Wirklich sehr sehr schön. Du kannst dich setzen", meinte er und klopfte ihm fest auf die Schulter, bevor er sein Bild von der Tafel abnahm und mit gesenktem Kopf durch die Reihen zurück zu seinem Platz schlich. Er sah sich nicht um und ließ zu, dass Minho ihm ohne zu fragen die Zeichnung aus der Hand nahm und noch einmal betrachtete.
„Okay, schön. Kommen wir zur Hausaufgabe..."
Ein paar Schüler stöhnten leise auf und er sah hoch, als Mr. Park etwas mit Kreide an die Tafel kritzelte. 20. Dezember 2009.
„Das Abgabedatum", erklärte er und blickte kurz in die Runde, ehe er weitersprach. „Ihr werdet zu zweit arbeiten und fertig jeweils vier Bilder an. Sie sollen alle euren Partner zeigen, so wie ihr ihn oder sie seht. Es ist euch überlassen, wie ihr zeichnet, was ihr für Techniken und was ihr für Farben benutzt. Solange ihr euch erklären könnt, weshalb ihr euch dafür entschieden habt. Klar soweit?"
Sie nickten und er rollte mit den Augen. Er hatte keine Zeit dafür sich mit seinem Partner auseinander zu setzen. Ganz zu schweigen von seiner Abneigung sich überhaupt einen Partner für dieses Projekt zu suchen. Er wollte keine Freunde. Er wollte sein Leben mit niemandem teilen. Seine Welt war voll genug von Büchern, Lesungen und neuen wissenschaftlichen Projekten, die er aus Spaß an der Freude untersuchte.
Jemand meldete sich in den aufgeregten Getuschel.
„Mr. Park. Es geht nicht auf. Muss der, der übrig bleibt, allein machen?"
Er sah auf.
„Nein, entweder bildet ihr Dreiergruppen oder der, der übrig bleibt, wird einen guten Freund oder sein Geschwisterkind zeichnen. Im Prinzip ist es egal. Mir geht es mehr um die Originalität, die eure Bilder haben sollen... gibt es denn jemanden, der allein arbeiten will?", fragte Mr. Park und er wollte gerade seine Hand heben, als sich plötzlich der Junge am Tisch vor ihm umdrehte und anfing einen seiner Bleistift aufzuheben und zwischen den Fingern drehen zu lassen.
„Jeongguk, richtig?"
Er blinzelte und sah probehalber zu Minho, dessen Aufmerksamkeit jedoch noch immer auf Mr. Park lag, welcher gerade die Paare zusammensortierte, die sich bereits gefunden hatten.
Er kannte den Jungen.
Jeder kannte den Jungen.
Kim Taehyung war einer der Menschen, die sein drittes Grundprinzip zu vermeiden vorschrieb.
„Wollen wir zusammen machen? Oder hast du schon einen Partner?"
Taehyung sah nicht sonderlich begeistert aus und auch sein Sitznachbar - Byun Baekhyun, der bis zu diesem Moment sein offiziell anerkannter bester Freund gewesen war - wirkte ein wenig konfus, als Mr. Park ihn fragte, mit wem er die Gruppenarbeit zu tun gedachte.
„Ich wollte eigentlich... allein...", fing er zögerlich an und spürte, wie die Nervosität seine Gliedmaßen schwach werden ließ.
„Ach was", winkte Taehyung jedoch nur ab und legte den Bleistift zurück auf den zerkratzten Tisch. „Ich mach das gern mit dir." Taehyung sagte es, als würde einem mit diesem Angebot eine enorme Ehre zuteil werden.
Und bevor er höflich und ruhig ablehnen konnte, hatte er schon aufgezeigt und ihre beiden Namen für die Liste genannt.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro