10. Kapitel
Wenn es eine Sache gab, die sie wirklich hasste, dann war es alljährliche Frühjahresputz. Und das im Mai, ihrer Meinung nach hatte ihre Mutter die Chance längst verpasst. Trotzdem setzten sich alle lammfromm an den Tisch im Wohnzimmer als Amanda sie gerufen hatte.
„Ich denke ihr wisst alle, was uns wieder bevorsteht. Für dieses Jahr habe ich mir etwas ganz Besonderes überlegt. Dass es keinen Streit mehr bei der Raumverteilung gibt, losen wir die Räume dieses Jahr aus! Dann bilden wir zwei Teams, damit es und auch nicht langweilig wird. William und ich und ihr beiden. Irgendwelche Einwände?" Sofort hatten alle ihre Köpfe geschüttelt.
„Na dann mal los. Bitteschön, zieht einen Zettel." Sie schob eine Schachtel mit lauter kleinen Zetteln zu ihnen rüber. Das könnte was werden.
Nach fünf Minuten war es klar, Amanda und William hatten die Garage, das Wohnzimmer, die Eingangshalle, das obere Badezimmer und die Küche inklusive Abstellkammer, Simon und Zeréna das untere Bad, die Bibliothek, die Flure und den Dachboden. Das jeder für sein eigenes Zimmer verantwortlich war, hatte sich als Regel bereits durchgesetzt.
„Den Dachboden, wirklich jetzt Mom." Zeréna stöhnte. Der Dachboden war komischerweise jedes Jahr wieder verwüstet, dabei gingen sie nur ab und zu hoch, um etwas zu suchen. Außerdem war dieser stickige kleine Raum einer der wenigen im ganzen Haus, der nie renoviert worden war. Und jetzt konnte sich jeder selbst ausmalen, wie es da aussah, wenn sich das Haus bereits seit Generationen im Familienbesitz befand.
Der einzige Lichtblick war wohl, dass sich Candy dazu bereit erklärt hatte, vorbei zu kommen und sich dem Putztrupp von Simon und ihr anzuschließen. Zu dritt war es allemal schneller und spaßiger als zu zweit.
Während ihre Mutter sie also mit Gerätschaften ausstattete, die sie wohl brauchen würden, klingelte es an der Tür und Zeréna sprintete sofort los, um sie zu öffnen. „Candy!", rief sie fröhlich und umarmte ihre beste Freundin, die nur lachte und sie ebenfalls umarmte.
Als die Mädchen aufgehört hatten zu tratschen und ins Haus gegangen waren.
„Wie lange hast du Simon eigentlich schon nichtmehr gesehen?", fragte Zeréna beiläufig und Candy zuckte mit den Schultern. „Hm, gute Frage. Er ist ja immer weg, wenn ich zu Besuch komme. Vielleicht hat er ja Angst vor mir.", scherzte sie und bewaffnete sich mit einem Eimer und einem Lappen, ehe sie sich auf den Weg zum Dachboden machten, um Simon zu helfen, der wohl schon vorgegangen war.
Eine halbe Stunde später setzte sich Zeréna resignierend neben ihren Bruder auf eine Kiste. „Also wirklich, wie kann das hier das unordentlichste Zimmer des ganzen Hauses sein, wenn hier nie jemand oben ist?", beschwerte sie sich und beobachtete ihre Freundin dabei, wie sie eine uralte Kiste öffnete und ihr eine Staubwolke entgegenkam. Und dann passierte etwas, dass sie selten erlebte; ihr Bruder lachte.
Als hätte sich Candy dasselbe gedacht, drehten sich die Mädchen zeitgleich um. Sofort biss er sich auf die Lippe. „Ups.", sagte er und es kam erneut ein belustigtes schnauben von ihm. „Du solltest viel öfter mal lachen, steht dir wirklich gut.", sagte Candy belustigt und kramte nun in der Kiste, von der nicht mal Zeréna wusste, was sich darin befand.
Doch im Moment beobachtete sie nur ihren Bruder, der irgendwie gerötete Wangen hatte. War er etwa verlegen? Schmunzelnd stand sie auf und durchquerte den Raum, um auch einen Blick in die Kiste zu werfen. „Sind das etwa alte Schriftrollen? Ist ja lustig." Candy holte eine hervor und rollte sie vorsichtig auf. „Ein Kaufvertrag für euer Haus. Auf einer Rolle."
Sie lachte kopfschüttelnd und legte die Rolle wieder zurück. „Meint ihr, wir finden da was Interessantes?" Mit einem verschmitzten Grinsen drehte sie sich zu den Beiden Geschwistern um und sah sie erwartungsvoll an. Und irgendwie waren beide gepackt von der Idee, wie bei einer Schatzsuche nach irgendetwas spannendem zu suchen. Vermutlich würden sie eh nichts finden, aber warum durfte man nicht doch noch auf ein Wunder hoffen?
Candy reichte Zeréna eine Rolle und warf auch Simon eine zu. „Na los, wer als erstes was findet, gibt allen ein Eis aus.", scherzte sie und nahm sich selbst eine. Und so fingen sie an, die Jahrzehnte, vielleicht sogar Jahrhunderte alten Schriftrollen ihrer Familie zu lesen, in der Hoffnung, irgendetwas spannendes über ihre Vergangenheit herauszufinden.
Nachdem sie fast eine Stunde später noch immer nichts Interessantes gefunden hatte, war auch von ihrem anfänglichen Enthusiasmus nicht mehr viel übrig. Nur Candy schien die Sache unbedingt beenden zu wollen. „Jetzt kommt schon. Das sind doch nur noch ein paar!"
Zeréna hob abwehrend die Hände. „Ganz im Ernst, wieso langweilst du dich nicht. Wir lesen seit einer Stunde irgendwelche vergilbten Anordnungen über Zeugs, dass wir überhaupt nicht verstehen." Sie erntete nur einen finsteren Blick und sie drückte ihr eine weitere Rolle in die Hand. „Lesen!"
Das rothaarige Mädchen lachte und stand auf. „Ich hol uns jetzt erstmal was zu trinken. Ich komme auch gleich wieder zurück, keine Sorge.", besänftigte sie ihre beste Freundin und stieg schmunzelnd die Leiter hinunter. Zeréna streckte sich genüsslich aus und fragte sich langsam wirklich, was sie eigentlich gesucht hatten. Was konnte man schon großartig in einem alten Haufen Schriftrollen finden, die seit Generationen in einer Kiste verstaubten, ohne dass sie jemals wieder gelesen wurden.
In der Küche traf sie auf ihre Eltern. Wie angewurzelt stand sie einfach nur im Türrahmen mit vor Überraschung weit geöffneten Augen. Nicht nur dass irgendeine ziemlich alte Musik aus dem CD-Player ertönte, ihre Eltern tanzten auch noch. Von ihrem Vater hatte sie das ja noch erwartet, aber ihre Mutter?
„Was tanzt ihr da?", fragte sie beiläufig, nachdem sie sich von der Überraschung erholt hatte. Sie beobachtete die beiden amüsiert dabei, wie sie auf dem Marmorboden hin und her wirbelten, ohne auch nur ein einziges Mal ins Straucheln zu kommen. „Das, meine Liebe,", sagte ihr Vater, ohne den Tanz zu unterbrechen. „Ist Cha-Cha-Cha für Fortgeschrittene."
Amüsiert holte sie Saft und Wasser aus der Vorratskammer und stapelte drei Becher aufeinander. „Sieht spaßig aus, ich wusste gar nicht, dass ihr tanzt." Es freute sie irgendwie zu sehen, dass ihre Mutter auch Mal Spaß haben konnte. Gerade wo sie so selten alle im Haus waren.
Um die beiden nicht weiter zu stören, ging sie wieder zurück in Richtung Dachboden, stieg vorsichtig die Treppen hoch und stellte oben die Flaschen und Becher ab, ehe sie selbst hochkletterte.
„Und, irgendwas gefunden?", scherzte sie. Natürlich hatten sie nichts gefunden. Dennoch nahm sie irritiert zur Kenntnis, wie Simon und Candy über einem Stück Papier gebeugt nebeneinandersaßen und nichts auf ihre Frage erwiderten.
„Hallo? Habt ihr einen Bericht über die erste Mondlandung gefunden oder was ist da los?" Als hätten die beiden sie erst jetzt entdeckt, zuckten beide kurz zusammen und drehten sich zu ihr um.
„Ehm...naja, sowas in der Art. Das hier solltest du dir vielleicht Mal anschauen. Wir werden daraus gerade nicht so ganz schlau.", murmelte ihr Bruder. Das erste Mal seit langem erkannte sie in seinen Augen sowas wie Ratlosigkeit. Zeréna zog eine Augenbraue hoch und setzte sich zu den beiden, ehe sie anfing, die schnörkelige und doch wunderschöne Schrift zu lesen.
Dies ist ein Abkommen, geschlossen durch das Blut und die Magie der Trauernden und Zornigen als Konsequenz eines großen Verlustes. Hiermit verzichten wir auf unser Geburtsrecht und gewährleisten unseren Nachfahren ein normales Leben ohne Magie, mit der Forderung, das die zehnte Generation nach diesem Abkommen aus einer der beiden Familien jemanden auserwählen müsse, der das älteste Kind der Morgan Familie heiraten wird. Dies soll den Frieden der beiden Familien bis in alle Ewigkeiten sichern und die Magie in unseren Herzen neu aufleben lassen.
Gezeichnet, Hamlin Morgan, Caelius Evans und Warin Matthew
„Caelius Evans? Hast du schon Mal was von dem gehört Simon?", fragte sie ihren Bruder nachdenklich und fixierte mit ihren Augen schon den nächsten Namen. „Warin Matthew. Das ist doch..." Aber wer war dieser Morgan? Den Namen hatte sie noch nie gehört. Und überhaupt, was sollte das mit der Magie? Zeréna las sich alles nochmal durch, konnte jedoch die Verwirrung und das Durcheinander in ihrem Kopf nicht beseitigen.
„Ich hab' leider auch keine Ahnung, tut mir leid. Candy hat mich dasselbe auch gerade gefragt." Nachdenklich fuhr er sich durch die Haare, doch Candy klatschte begeistert in die Hände. „Na siehst du, wir wollten was Interessantes, da haben wir was Interessantes. Mission erfüllt!", sagte sie triumphierend und Zeréna bemerkte erneut, dass Simons Blick etwas zu Lange an ihrer besten Freundin hing. Langsam kam ihr ein Verdacht, über den sie nachher unbedingt mit ihm reden musste.
„Wie wär's, wenn wir Mom und Dad fragen? Die beiden kennen sich vielleicht etwas besser in unserer Familiengeschichte aus.", schlug Simon vor und seine Schwester nickte. „In der Bibliothek hängt doch eine Ahnentafel, oder? Da können wir zuerst mal drauf schauen!"
Candy rollte begeistert die Schriftrolle zusammen und machte sich schon daran, die Treppe hinunter zu klettern. Mit neuem Elan folgten die Beiden Geschwister ihr. Was es wohl mit dem Abkommen auf sich hatte? Sogar Simon schien Mal etwas Enthusiasmus an den Tag zu legen.
Als sie die Bibliothek erreicht hatten, hatte Simon die Führung übernommen. Zeréna kannte sich zwar auch aus, aber sie ließ ihrem Bruder gerne den Vortritt. Hinter einigen Regalen erkannte sie bereits die große Ahnentafel, die einen Großteil der Wand ausfüllte. „Nicht schlecht.", sagte Candy mit einem breiten Grinsen. „Das entwickelt sich ja zu einer richtigen Schatzsuche. Wie genau war der Name nochmal?"
„Caelius.", sagten Simon und Zeréna fast zeitgleich, was beiden ein Schmunzeln brachte. „Na dann machen wir uns Mal auf die Suche." Suchend fuhren die mit ihren Fingern über die Tafel den Stammbaum nach oben, um ja nichts zu übersehen, bis Simon ihr nach wenigen Minuten auf die Schulter tippte.
„Ich hab' was. Caelius Evans, Vater von Benjamin, Aurora und Ilaida Evans."
Zeréna richtete ihren Blick auf die Stelle, auf die ihr Bruder zeigte. „Interessant, das könnte hinhauen.", murmelte sie und Candy legte ihr von hinten den Kopf auf die Schulter, um auch was sehen zu können. Für einen Moment studierten sie alle schweigend die Tafel, bis Candy sich räusperte.
„Erinnert ihr euch noch daran, was in dem Abkommen stand? Dass irgendeine zehnte Generation heiraten soll. Zählt mal die Generationen runter."
Mit gerunzelter Stirn fing sie an, die Absätze runter zu zählen. Und als ihr Finger zwischen ihrem und Simons Namen lag, war sie genau bei... „Zehn.", sagte sie leise. Was hatte das Ganze zu bedeuten?
„Ich glaube wir sind hier an einem Punkt angekommen, an dem uns nur noch eure Eltern helfen können.", murmelte Candy und hob ihren Kopf von Zerénas Schulter. „Bevor wir hier irgendwas fehlinterpretieren. Hier." Sie reichte ihrer Freundin die Schriftrolle, doch sie starrte immer noch geistesabwesend auf die Tafel.
Was sollte das? War das ein schlechter Scherz? Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass das alles stimmte und sie genau zu diesem Zeitpunkt auch noch dieses Abkommen fanden? Und was sollte das mit der Magie? Das konnte doch nur ein schlechter Scherz sein!
„Kommst du?", fragte Simon sie vorsichtig und versuchte, Blickkontakt mit seiner Schwester herzustellen. Er schien besorgt zu sein, während er ihr vorsichtig die Schriftrolle aus der Hand nahm. „Lass uns erstmal fragen. Vielleicht ist das auch gar nicht ernst zu nehmen. Wer weiß, was wir da wirklich gefunden haben."
Zeréna nickte und folgte den beiden. Ging es nur ihr so, dass sie sich wegen der Schriftrolle Sorgen machte? Übertrieb sie vielleicht sogar? Das würden sie sicher gleich feststellen.
Ihre Eltern hatten sich in der Zwischenzeit wohl wieder ans Putzen gemacht, jedoch hob Amanda direkt den Kopf, als sie den Raum betraten. „Ach, seid ihr schon fertig?", fragte sie überrascht. Simon schüttelte sofort den Kopf und reichte seiner Mutter die Schriftrolle. „Nein, aber schaut euch das bitte mal an, wisst ihr, was es damit auf sich hat? Die haben wir zufällig auf dem Dachboden entdeckt."
Amanda streifte ihre Gummihandschuhe ab und nahm das Pergament entgegen. „Was ist das?", fragte sie in die Runde und öffnete das Schriftstück. William war inzwischen auch zu ihr gekommen und warf einen Blick über ihre Schulter, um mitlesen zu können.
Zeréna hatte vieles erwartet, aber nicht das, was dann tatsächlich kam. Amanda war leichenblass geworden, ihr Mann starrte entgeistert auf das Pergament und nachdem ihre Mutter damit aufgehört hatte, ihre Lippen zusammen zu pressen, richtete sie das Wort an Candy. „Du solltest jetzt gehen Cassandra."
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