Streit auf des Messers Schneide
Sheila hockte noch immer in ihrem Versteck und lauschte, wer hier in ihrer Nähe war. Endlich hörte sie Worte aus dem Piepsen heraus. Ängstliche Worte. "Was ist hier los?", fragte ein Singvogel. Eine Stimme, die Sheila sehr bekannt vorkam, antwortete: "Ich habe echt keine Ahnung. Ich weiß nicht, was hier vor sich geht, aber Ihr seid gewiss außer Gefahr. Wer sollte Euch schon etwas antun? Schließlich seid Ihr nur die Nebenrolle in der Verwaltung Emanons... Obwohl ich mich manchmal frage, warum solche Winzlinge wie Ihr überhaupt einen eigenen König haben..." Obwohl die Stimme sehr herablassend klang, wurde Sheila bei ihr wärmer ums Herz. Tamira! Sie war hier! Wenn Sheila mit ihr reden könnte, würde vielleicht alles gut werden...
Sie rappelte sich vom Boden auf, schob den Schnee zur Seite und rief nach dem Falken, noch bevor die andere Stimme, die der Meise, protestieren konnte. Erschrocken wandte Tamira sich um, und sofort wurde ihr Erschrecken zu Staunen. "Das Mädchen! Wie... wie kommst du hierher? Du warst doch eingesperrt, Anemonius hat mir erzählt, dass..." Sheila unterbrach sie. "Tamira, ich... ich muss mit dir reden. Bitte, ich möchte euch nichts tun, ich will nur aus diesem Wald heraus! Ich werde von Anemonius gesucht, und man will mich umbringen lassen, nur wegen eines Missverständnisses!" Tamira schaute ebenso verwirrt, wie die kleinen Blaumeisen neben ihr. "Ich verstehe nicht recht...", gab sie zu.
Sheila ließ sich erschöpft in den Schnee fallen und begann zu erzählen. Zuerst hastig, dann langsamer. Sie erklärte Tamira das Problem mit ihrer Familie, dass ihr Vater böse und ihre Mutter gut war, sie aber auf der Seite ihrer Mutter stand. Dass Jennifer plötzlich verschwunden war und sie sie nicht finden konnte. Und dass Anemonius sie töten lassen wollte, weil er dachte, sie würde Emanon vernichten wollen. Als sie geendet hatte, trat eine ungläubige Stille ein. Sheila versuchte verzweifelt, Tamiras Blick zu verstehen, doch er blieb undurchdringlich. Die Meise blieb ebenfalls stumm, und Sheila wusste nicht, auf welcher Seite sie stand. Sie hielt den Atem an.
Plötzlich sauste etwas durch die Luft. Es waren Schwingen, große Schwingen. Sheila drehte sich erschrocken um und erblickte zwei riesige Raubvögel, dir ihre scharfen Schnäbel auf sie gerichtet hatten und zornig riefen: "Da ist sie! Fangt sie, bringt sie um!" Sie flatterten im Sturzflug auf Sheila zu. Ihr blieb das Herz stehen. Panisch schrie sie auf und ließ sich zu Boden fallen, die Krallen zischten über sie hinweg, zerrissen den Mantel... Sheila riss den Kopf herum und blickte Tamira an, sie flehte: "Tamira! Bitte hilf mir!" Schon sausten erneut wütende Schwingen durch die Luft, es war aus, die Krallen durchdrangen den Mantel, zerrissen ihre Haut... Sheila schrie auf, sie spürte einen unerträglichen Schmerz, ihr wurde schwarz vor Augen...
Plötzlich ein lauter Ruf. Sheila zuckte zusammen und blieb mit geschlossenen Augen liegen. die Krallen waren verschwunden! Wer hatte da geschrien? Wie aus weiter Ferne drang eine Stimme an ihr Ohr, eine leise, helle Stimme...
"Ich, Nestor Meelin, der König der Singvögel und der anderen Kleinvögel, ebenso anerkannt wie Tamira, die Verwalterin von Emanon, befehle euch, dieses Mädchen in Ruhe zu lassen!" Sheila konnte förmlich spüren, dass die kleine Meise, die noch vor Sheilas Eintreffen so von Tamira beleidigt worden war, ja von ihr abgestuft wurde, sich nun rechtfertigen wollte. Oder tat ihr Sheila schlicht und einfach Leid? hatte sie ihre Geschichte berührt? Alles um sie herum wurde still. Sie versuchte, ihre Augen zu öffnen, und blickte auf das kleine Geschöpf, das feindselig zu den Raubvögeln starrte. Es lag Ärger in der Luft, die Stimmung war zum Zerreißen gespannt.
Endlich fand Tamira wieder Worte. "Hört nicht auf diesen Zwerg! Er will sich bloß wichtigmachen! Nehmt sie gefangen und bringt sie zu dem König von Emanon, nicht zu lächerlichen Singvögeln!" Sheila zuckte zurück. Tamira lieferte sie aus, nur um einen dämlichen Streit zu gewinnen? Sie konnte es kaum fassen. Inständig hoffte sie, dass Nestor sie weiter verteidigen würde, denn sonst wäre es um sie geschehen. Die kleine Meise konnte diese Beleidigung allerdings nicht auf sich sitzen lassen. Er piepste heftig: "Was erlaubst du dir, du bist nur eine unwichtige Stellvertreterin! Niemand braucht dich! Anemonius will dich nur zur Seite, weil absolut in dich verknallt ist, das weiß doch jeder! Wann hast du je schon einmal eine wichtige Arbeit ausgeführt? Aber ich,... ich bin König und..."
Wäre Tamira ein Mensch gewesen, wäre sie vor Verlegenheit und Wut rot geworden, dachte Sheila. War der König von Emanon wirklich in einen Falken verliebt? Sie konnte es sich kaum vorstellen. Tamira unterbrach Nestor wütend: "Halt deinen vorlauten Schnabel, du mieser Winzling! Anemonius hat mich zur Stellvertreterin gewählt, weil ich viele gute Fähigkeiten besitze und klug und besonnen bleibe! Im Gegensatz zu dir, du bist nur Verwalter von einer der zigtausend Tierarten, wer interessiert sich schon für dich? Wachen, nun packt sie endlich!" "Nein!", schrie Nestor, "Ich verbiete es euch! Nehmt lieber diesen Falken fest, der unserem König den Kopf verdreht!" Die zwei Raubvögel waren unschlüssig und starrten abwechselnd auf Sheila, dann auf den kleinen Nestor. Sie schienen nur darauf zu warten, dass ein endgültiges Urteil fiel und sie Sheila unter ihren Krallen zerfleischen konnten. Ihr lief ein eisiger Schauer über den Rücken und sie betete, dass der kleine Vogel die Kraft hatte, sie zu retten, auch wenn es fast unmöglich schien.
Doch nun blitzten Tamiras Augen siegessicher auf und sie zischte: "Was hast du schon zu sagen, im Gegensatz zu dem großen Anemonius? Nicht ich, sondern er hat dieses Urteil gefällt! Er will, dass dieser Mensch stirbt, wie kannst du ihn dann retten?" Sheila schrak zusammen. Es war unmöglich, diese Worte abzustreiten! Auch Nestor schien verzweifelt. Sheila vermutete, dass er durch diesen Streit beschlossen hatte, sie zu retten, auch wenn es ihm selbst an den Kragen ging. Doch wie sollte er jetzt noch eingreifen?
Sie konnte förmlich das Gehirn der Meise rattern hören, und schlang ihre Arme zitternd um die geschundenen Schultern. Die Raubvögel scharrten schon mit den Füßen, für sie klang das wie ein Befehl, Sheila endlich zu greifen. "Was ist nun, wir sollen sie doch töten, oder?", zischte einer von ihnen. Sheila hätte am liebsten laut 'Neeeeiiin!' geschrien, aber sie brachte vor Schreck keinen Ton hervor. Tamira öffnete schon den Schnabel, um ihren Befehl zu geben, da rief Nestor erregt dazwischen: "Wag es nicht, Tamira! Ich würde nämlich zu gern wissen, was passieren würde, wenn Anemonius, der König Emanons, erführe, dass du ihn auch so magst wie er dich... Ob er sich freuen würde..?
Tamiras erschrak und ihr Blick wechselte von boshaft zu entsetzt. "Das...das würdest du nicht tun! Das wäre... das wäre eine Lüge!" "Oh doch, und ob ich das tun würde... Schließlich muss er doch wissen, wie es um dich steht!" Nestors Lächeln wurde boshaft. Ja, man konnte es wirklich als Lächeln bezeichnen, so freute er sich über seinen Einfall. Sheila war klar, dass Tamira garantiert nicht wollte, dass man ihre Gefühle an Anemonius weitergab. Sie würde gehorchen, oder...?
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Hey,
bald veröffentliche ich das nächste Kapitel;-) wie hats euch bis dahin gefallen? Seid ihr neugierig auf mehr oder fandet ihr die Geschichte gähnend langweilig? Ich hoffe ihr findet die Kapitel nicht zu kurz;-)
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