Abschied
Stille erfüllte die ganze Halle. Alle Tiere hatten innegehalten und starrten verwirrt zu Sheila. Diese blickte mir weit aufgerissenen Augen auf die Stelle, an der Ivan verschwunden war. Ihre Mutter stieß einen Schrei aus und rannte hinter sie. "Nein! Nein, das darf nicht wahr sein!", kreischte sie. Sheila wandte sich angsterfüllt zu ihr um und flüsterte: "Was ist passiert?"
Ihre Mutter blickte sie mit einem merkwürdigen Schimmern in den Augen an. Dann flüsterte sie mit zittriger Stimme: "Ich denke, nun ist Ivan dasselbe passiert wie dir, als du noch klein war. Seine Maschinen sind ihm selbst zur Rettung und gleichzeitig zum Verhängnis geworden. Ich glaube... er wurde wie du von der Maschine irgendwohin in die Zukunft, an einen anderen Ort befördert."
Sheila rasten die Gedanken durch den Kopf. Sie würde ihren Vater wahrscheinlich nie wieder sehen, er war verschwunden, verschollen an einem anderen Ort und in einer anderen Zeit! Sie wusste nicht, was sie fühlen sollte. Teils fühlte sie sich schuldig, denn sie war es ja gewesen, die die Maschine nach ihm geworfen hatte! Aber ohne sie wäre er bestimmt gestorben... Sie blickte mehrere Minuten lang auf die Erde, dann erhob sie sich und umarmte ihre Mutter einfach. Als sie sich löste, schimmerten Tränen in den Augen Jennifers. "Es ist alles vorbei! Alles ist gut!", wisperte Sheila ihr zu. "Ivan war gemein, und nun ist er fort!" Ihre Mutter nickte und schluckte schwer. Dann sah sie sich um, blickte auf die vielen Tiere hinab, die ängstlich und zugleich hoffnungsvoll auf Jennifer und ihre Tochter blickten.
"Es ist vorbei! Emanon ist gerettet! Ivan ist verschwunden, zu einer anderen Zeit und einem anderen Ort gegangen. Ihr seid sicher!", rief Jennifer mit erstaunlich fester Stimme. Sheila hielt die Luft an. Würden die Tiere sie und ihre Mutter jetzt akzeptieren oder angreifen? Ein Raunen ging durch die Menge. Ängstlich sah sich Sheila um, ob sich Misstrauen oder Erleichterung in den Gesichtern der Tiere spiegelten. Doch sie konnte es nicht herausfinden. Plötzlich erhob sich Nestor aus den Scharen. Er piepste: "Ich bitte um Ruhe, um ein paar wichtige Worte loszuwerden. Diese Menschen haben unsere ganze Welt gerettet, obwohl der Böse, der hier eingedrungen war, ihr Verwandter ist. Und ich habe mit angehört, wie Anemonius sie zu den Herrschern Emanons ernannt hat!"
Sofort brach ein riesiger Tumult aus. "Menschen als Herrscher Emanons? Niemals!", schrien mehrere Stimmen, ein Zischen der Boa trat aus der Menge. Plötzlich flatterte Tamira auf. Sie hatte Tränen in den Falkenaugen und schien unendlich traurig, aber sie musste etwas klarstellen: "Stopp! Haltet an! Ich, Vertreterin des Königs, befehle euch, ruhig zu sein!" Erstauntes Schweigen. Sheila blickte hinauf zu dem klugen Vogel, ehe er sich auf ihrer Schulter niederließ. "Tamira... ich...", flüsterte Sheila ihr zu, doch er große Vogel rief im selben Moment: "Ich befehle euch, sofort in eure Räume zurückzukehren und euch hier vorerst nicht blicken zu lassen, bis ich es anordne! Dies ist ein Befehl von königlicher Seite!"
Mehrere Wölfe erhoben sich aus den Schatten und trieben die Menge zurück in ihre Höhlen. In wenigen Minuten war die Halle leer. Kaum war das letzte Geräusch verhallt, flatterte Tamira kraftlos zu Boden und begann zu schluchzen. Sheila kniete sich neben sie und streichelte ihr zaghaft über das Gefieder. Hinter ihr kam etwas in die Halle gehüpft. Es war Nestor. Leise sagte Sheila: "Danke, dass du uns so unterstützt hast!" Nestor nickte beschämt und sagte leise: "Was ist denn nun mit Anemonius?"
Sheila blickte zu ihrer Mutter, die stöhnte: "Oh nein, ich habe ihn völlig vergessen! Komm Sheila, sieh nach ihm, er ist gleich in der kleinen Aufenthaltshöhle an dem schmalen Gang. Ich kümmere mich um den Falken!" Doch Tamira schreckte hoch und zischte: "Lass mich in Ruhe! Ich will nach ihm sehen!" Mit diesen Worten flatterte sie durch die Luft davon. Sheila und Nestor kamen hinterher, nur Jennifer blieb verwirrt zurück.
In einer düsteren Ecke fanden sie Anemonius, auf Höhlenmoos gebettet. Sheila kniete sich zu ihm nieder und zog den dicken Pelzmantel aus. Sie legte ihn sorgsam um den Bussard und hob ihn hoch. Langsam strich sie mit ihren Fingern über das weiche Federkleid und flüsterte: "Anemonius?" Ihre Mutter kam hinter sie gelaufen und wickelte ihr Halstuch ab, um damit Anemonius' Wunde zu verbinden. Tamira blickte hilflos zwischen den zwei Menschen hin und her. Vorsichtig sagte Sheila: "Tamira, hol bitte etwas Wasser!" Ängstlich nickte Tamira und flatterte durch den Gang davon. Kurze Zeit später kam sie mit einer kleinen Holzschale voll klarem Wasser zurück. Sheila bedankte sich und begann, das geronnene Blut von Anemonius' Flügel zu wischen. Jennifer half ihr, so gut sie konnte. Vorsichtig setzte Sheila einen neuen Redeversuch an: "Anemonius? Kannst du mich hören?"
Sie spürte, wie Tamira hinter ihnen die Luft anhielt. Dann begann das Federkneul in ihrer Hand, sich zittrig zu bewegen. Sheila schrie freudig auf. "Anemonius! Du lebst!", rief sie erfreut. Erleichterung breitete sich in ihr aus und sie konnte es kaum fassen. Anemonius hob langsam den Kopf und blickte sich verwirrt um. Dann entdeckte er Tamira, die hoffnungsvoll und zugleich unendlich besorgt auf ihn herabblickte. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, dann legte er den Kopf zurück in den weichen Mantel.
*
Es war an einem frühen Morgen. Drei Wochen nach dem Ende des Kampfes um den Kairus. Sheila war mit ihrer Mutter, Anemonius und Tamira nach Hause zurückgekehrt. Anemonius, der noch sehr schwach war, hatte Tamira befohlen, ihnen den Weg nach draußen zu weisen. Da er noch dringend Hilfe benötigte und Tamira ihn auf keinen Fall allein lassen wollte, hatten sie als derzeitigen König Nestor, die mutige Meise eingesetzt. Für Nestor war ein Traum wahrgeworden. Niemals hätte er daran gedacht, einmal als König der Tierwelt dazustehen! Er hatte sich schon immer mehr Beachtung gewünscht, aber so viel Ehre hätte er sich nie erträumt.
Auch für Sheila hatte sich viel verändert. Ihr Zuhause, in dem sie zwar schon eigentlich ewig lebte, kam ihr so unbekannt und fremd vor, wie ein neuer Ort. Auch Jennifer war noch sehr oft verzweifelt, dass Ivan verschwunden war, aber sie versuchte das zu verbergen, um ihre Tochter nicht noch mehr zu belasten. Für Anemonius und Tamira hatten sie ein eigenes Zimmer eingerichtet, in dem sie den Bussard wieder gesund pflegen wollten. Von Tag zu Tag ging es ihm besser und nun war der Tag gekommen, an dem er Abschied von den zwei Menschen nehmen und zurück in sein Königreich ziehen wollte.
Es geschah, als Sheila gerade zu ihrer Mutter ging, um sie zu beruhigen. Jennifer saß am Fenster und sah sehnsüchtig und traurig nach draußen, wie als könnte Ivan jeden Moment durch den frühlingshaften Garten nach Hause kommen. Sheila sah sie mitleidig an, näherte sich ihr leise und legte ihr den Arm um die Schulter. Sie überlegte noch fieberhaft, wie sie ihre Mutter trösten konnte, da flatterte etwas hinter ihr ins Zimmer. Sie wandte sich um und Anemonius, dessen Gefieder noch immer sehr zerzaust war, gefolgt von Tamira, flogen herein. Jennifer wischte sich mit ihrer Hand über die Augen, um die Spuren der Tränen loszuwerden. Dann wandte sie sich den Vögeln zu und versuchte, lächelnd zu sagen: "Guten Tag, schön Sie so froh und munter hier zu sehen! Was gibt es denn?"
Anemonius räusperte sich und sprach langsam: "Ich und... Tamira haben... beschlossen, zurück in unser Königreich zurückzukehren. Ich bin wieder gesund und nun muss ich meine Pflichten als König einnehmen." Tamira nickte traurig. "Danke für alles!", flüsterte sie.
Sheila spürte, wie ihr die Tränen ins Gesicht schossen. So lange hatte sie sich nun um die Zwei gekümmert, und sie waren ihr ans Herz gewachsen. Und jetzt sollte alles vorbei sein? Alles? Jennifers Blick trübte sich auch und sie fragte zaghaft: "Ihr wollt uns für immer verlassen?" Anemonius Augen blinzelten und er musste eine Weile überlegen, ehe er sagte: "Als der Kampf tobte, habe ich Tamira befohlen, euch zu Herrschern über Emanon zu machen, wenn ich es nicht überlebt hätte. Ihr habt mir einen so großen Dienst erwiesen, sodass ich gezwungen bin, euch noch etwas Gutes zu tun; ich habe beschlossen, eine Suche auf den verschwundenen Sasayaku abzusetzen. Und ihn euch zu übergeben, wenn wir ihn finden. Außerdem erkläre ich euch hiermit zu den Verwaltern Emanons in der Menschenwelt und gewähre euch jeglichen Zutritt zu unserer Welt. Ihr sollt unter uns bekannt sein wie ich und meine Gefährtin und jedes Tier soll euch dienen. Und... ich möchte von nun an mehr Zeit mit Tamira verbringen, deshalb ernenne ich sie zur Königin!" Der große Bussard hob vorsichtig seinen Schnabel und rieb ihn an Tamiras Wange. Dann flatterte er auf und rief: "Lebt wohl!"
Mit diesen letzten Worten erhob sich auch Tamira und beide segelten majestätisch in den gerade erst anbrechenden Tag hinaus. Sheila stürzte eilig zum Fenster und starrte mit glasigen Augen auf die zwei königlichen Gestalten, die langsam zwischen den Bäumen verschwanden. Eine Träne rollte ihr über die Wange. Dann spürte sie ihre Mutter neben sich. Auch sie blickte gerührt den Vögeln nach. Sheila umarmte sie und flüsterte. "Mutti, sie haben versprochen, Ivan zu suchen. Und wir werden sie wiedersehen, bestimmt!" Ihre Mutter seufzte schwer und schloss Sheila nun auch in die Arme. Sheila schluckte einen Kloß Tränen hinunter, bevor sie murmelte: "Weißt du was? Wir brechen auf und suchen Ivan, so wie ihr mich gesucht habt! Denn nun haben wir Millionen Tiere, die uns unterstützen werden!" Damit vergrub sie ihren Kopf in Jennifers Schulter und spürte nur noch das leichte Lächeln ihrer Mutter.
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