Leis Chardro
Der erste Blick in die Stadt verschlug mir die Sprache. Vor zehn Jahren war ich aus einem reichen fröhlichen Land in ein Gefängnis gebracht worden. Und jetzt, wo ich endlich wieder frei war hatte sich alles verändert. Nichts sah mehr so aus, wie ich es aus meiner Kindheit in Erinnerung hatte. Ich war zwar noch nie in dieser Stadt gewesen, aber ich konnte nicht glauben, dass Baihle schon vor der Machtübernahme so heruntergekommen ausgesehen hatte.
Die Häuser waren grau und trist. Ziegelsteine schimmerten durch die verblichenen Wandfarben hindurch, die einst in strahlendem gelb, rot, blau und grün geleuchtet haben mussten. Einige Fenster waren eingeschlagen worden und nun mit Tüchern verhängt, um den Wind abzuschirmen. Die Straßen waren schmutzig und stanken ekelerregend nach Urin und Erbrochenem. Ich hielt mir die Hand vor das Gesicht. Mir war schlecht.
„Weitergehen", zischte Liam mir mit zusammengebissenen Zähnen ins Ohr, während er mich mit seinen Händen vor sich herschob und mich so zwang, noch tiefer in diese triste Hölle einzudringen.
Unsicher setzte ich einen Fuß vor den anderen. Es war, als wäre ich in eine ganz andere Welt eingetaucht, in der ich mich nicht auskannte. Liam schob mich mit Nachdruck auf eine Gasse zwischen einem kleinen Haus und einem leerstehenden Gasthaus zu. Er lief zwar nicht unbedingt schneller, aber ich konnte spüren, dass er es eilig hatte. Die Zwillinge folgten uns im Gleichschritt und ausnahmsweise immer noch schweigend. Ich wunderte mich, dass die beiden es schon so lange durchhielten ohne auch nur einen einzigen Ton von sich zu geben.
„Wo sind die ganzen Leute?", flüsterte ich Liam über die Schulter zu. Ich konnte einfach nicht länger mit meinen Fragen warten und außer uns war hier niemand zu sehen.
Liam antwortete nicht. Was hatte ich eigentlich erwartet? Also lies ich mich von den drei Dea einfach in die dunkle Gasse führen. Die Luft war feucht und die Hauswände glänzten schimmelig.
„Ich liebe es, wenn sich deine Augenbrauen so runzeln, wenn du sauer bist.", meinte er und strich mir liebevoll mit dem Daumen über die Wange. Verdutzt entglitten mir meine Gesichtszüge. Hatte er das gerade wirklich gesagt? Hatte ich seine Hand eben wirklich auf meiner Wange gespürt?
„Hallo, zum hundertsten Mal, aber unsere Mission hier ist keine Sightseeing Tour sondern ein unauffälliges Beschaffen von Waffen und Proviant und danach ein schnelles Verschwinden. Wir sind hier nicht willkommen!", warfen Ferris und Deren leise zischend ein. Die Zwillinge hatten Recht. Wenn die Wachen in der Stadt unter unsere Kapuzen schauten wollte ich wirklich die Letzte sein, die erkannt und verpfiffen wurde.
Eilig setzten wir wieder unseren Weg fort. Die Dea führten mich durch einige kleine Sträßchen nach links und nach recht und blieben schließlich vor einem nicht ganz so alten Haus mit einer auffälligen frisch gestrichenen grünen Tür stehen.
Liam klopfte fünf Mal in einem bestimmten Rhythmus auf die Holztür. Die paar Sekunden, die wir warten mussten, bis eine alte krächzende Stimme „Ich komme!", rief kamen mir wie eine halbe Ewigkeit vor. Vor allem, weil Ferris und Deren die ganze Zeit nervös die Straße hinauf und hinunter schauten. Ihre plötzliche Vorsicht machte mich ganz unruhig.
Kurz darauf öffnete sich die Tür und in dem dunklen Schatten dahinter konnte ich die Gestalt einer alten buckligen Frau ausmachen. „Rein da.", drängte Liam und schob mich förmlich über die Türschwelle.
Hinter der Tür befand sich nur ein einziger Raum, von dem keine weiteren Zimmer abzweigten. In der hinteren Ecke links stand ein schmales Bett mit einer großen Sitzmulde im Stroh. Daneben befand sich ein kleiner Ofen, in dem Flammen vor sich hin knisterten. Im vorderen Teil stand ein robuster aus Holz gearbeiteter Tisch, der bereits Tiefe Kerben hatte, als ob man mit Messern Brot darauf geschnitten hätte.
„Du musst Eloen sein!", sprach die alte Frau mich an, aber mit einer auf einmal viel jünger klingenden Stimme. Und dann sah ich, wie sich die verkrüppelte alte Frau streckte, größer und schlanker wurde, die Haare wuchsen und einen roten Lockenschopf bildeten. Ehe ich mich versah stand auf einmal eine junge hübsche Frau vor mir, die mir sogleich um den Hals viel.
„Ava sei gesegnet, sie hat meine Gebete erhört!", Leis ließ mich wieder aus ihrer Umarmung los, um mich genauer zu betrachten. Verdutzt über ihre Nähe blieb ich entgeistert stehen. „Eloen Niam Glynwarin, es ist mir eine Ehre der Retterin Eldoras die Gastfreundschaft anbieten zu können. Setzt dich doch.", sie wies mit einem ausgestreckten Arm auf die Bankreihe rund um den Tisch. An ihrem Handgelenk klimperten mehrere aus Silber geformte Symbole, die auf lederne Bänder aufgefädelt und mit mit Perlen verziert waren.
„Nicht so stürmisch, Leis."
„Ferris, Deren! Ihr seid es wirklich! Kinder, es ist so schön euch wieder zu sehen! Es ist schon eine Weile her, seitdem ihr das letzte Mal hier wart. Aber sagt, ist es wahr, dass Coille nicht mehr existiert. Mir sind Gerüchte zu Ohren gekommen, dass kein Wesen überlebt haben soll. Ach, ich hatte solche Angst um euch!"
Währen sie die beiden zu dem Tisch führte strubbelte sie ihnen durch das wuschelige Haar, das darauf hin nur noch wilder von ihren Köpfen ab stand. Ich schmunzelte. Ich hatte schon immer alle bewundert, die einfach reden konnten ohne je ihren Satz zu beenden, ohne Luft zu holen und ohne jemals in die Lage zu kommen, dass ein unangenehmes Schweigen auftrat. Dieses Fünkchen Normalität und Beschwingtheit, das Leis in ihrem ganzen Haus verbreitete war erleichternd und ich begann allmählich, mich wieder zu entspannen.
Liam hatte sich inzwischen auch zu mir auf die Bank gesetzt, die unter dem Gewicht von uns allen gefährlich zu knarzen begann. Während ich an einem Tee schnupperte, den Leis mir vorgesetzt hatte und der lecker nach Minze und Salbei roch, erzählten die anderen Dea Leis alles was bisher geschehen war. Der Tod von Brian schien sie sehr zu treffen, ich meinte eine Träne ihre Wange hinunter kullern zu sehen.
„Es tut mir leid, Leis. Wir haben überall gesucht.", Liam legte ihr in einer warmen Geste eine Hand auf die Schulter
„Den Geheimgang muss ich mir demnächst selbst einmal ansehen, das ist bestimmt sehr praktisch!", lenkte Leis ab und veränderte ihre Haltung sodass Liams Hand von ihrem Am glitt, ihre Stimme war etwas leiser und brüchiger als zuvor. Sie musste Brian gut gekannt haben. Als hätten ihre Gefühle ihr die Kontrolle über ihre Gestalt genommen verfärbten sich ihre Hände von hautfarben zu blau, zu grün, zu rot, wurden länger und schuppig, wieder kürzer, bekamen Krallen und Schwimmhäute, verwandelten sich von einer in die andere Form, als wüsste ihr Körper nicht, in welcher Gestalt er am besten mit der Trauer umgehen konnte. Sie blickte auf und lies ihre wieder menschlichen Hände unter die Tischplatte fallen. „Es ist gut, dass ihr nicht durch das Tor gekommen und auch bisher noch keiner Wache begegnet seid. In der ganzen Stadt hängen Plakate von dir, Liam, und auch von der Auserwählten.", ich verschluckte mich beinahe an dem süßen Kräutertee. Der Auserwählten? Wurde ich schon so genannt? Was würde als nächstes kommen? Retterin der Unterdrückten? Heldin ihres Volkes? Von einer unsichtbaren Last wurden meine Schultern nach unten gedrückt. Wie sollte ich dieser Aufgabe nur gerecht werden?
„Ja, wir müssen vorsichtig sein.", stimmten die Zwillinge ihr zu. Sie saßen zu beiden Seiten von Leis. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich geschworen, dass die drei sich wie eine kleine Familie verhielten. Vielleicht waren sie das ja auch tatsächlich. Vielleicht war Leis so etwas wie eine Ersatzmutter für die beiden Jungs.
„Wir werden in der Stadt ohnehin die ganze Zeit über unsere Kapuzen auf behalten, damit uns niemand sieht. Aber mir wäre es lieber jetzt los zu gehen. Je länger wir warten desto mehr Zeit verschaffen wir damit Ryan.", warf Liam ein.
Leis nickte. „Ich habe verstanden, ihr müsst los. Es war schön, mal wieder mit jemandem reden zu können, ohne Angst zu haben, dass er ein Spitzel des Teufels ist.", sie lächelte, aber es erreichte nicht ihre Augen. Das Leben versteckt in einem falschen Körper, verborgen hinter Zuneigung zu ihrem Beherrscher und der Angst von Wachen entlarvt zu werden forderte einen hohen Preis von ihr.
Gemeinsam standen wir vom Tisch auf, woraufhin die Holzbalken der Bank stöhnend ächzten. Der Tee dampfte immer noch in den halb vollen Tassen, als wir uns erhoben.
„Wenn ihr noch kurz wartet kann ich euch ein wenig Proviant herrichten, dann müsst ihr nicht alles kaufen.", sagte Leis und war schon auf halbem Weg zu einer kleinen Arbeits- und Kochplatte, die neben dem Ofen stand. Sie öffnete bereits den Schrank und holte drei große Leibe Brot daraus hervor, als Liam abwehrte.
„Nein, das können wir nicht von dir verlangen, ich weiß doch, dass die Stadt teuer ist und du kaum Geld hast. Ich habe genug dabei, um alles nötige zu kaufen."
„Nein", widersprach Leis ihm nur bestimmt. „Die Göttin Ava hat mir diese Brotleibe für euch geschenkt. Ich hatte schon Vorahnungen, als der Bäcker sie mir kostenlos gegeben hat. Sie sind zwar nicht mehr ganz frisch, aber es sollte für euch reichen.", ich sah, wie Liam innerlich aufgab.
„Danke, Leis, vielen Dank. Ich lasse dir ein wenig Geld da.", er zog einen Goldsack aus der Tasche. Ein wenig Geld? Hatte ich mich gerade etwa verhört? In dem Sack musste ein Vermögen liegen. Wie viel Gold hatte Liam wohl noch in den Tiefen seines Mantels verborgen?
„Ach, das ist doch nicht nötig! Ich habe meine Methoden, ich komme schon an das Geld, das ich benötige. Vergiss nicht: Ava hat mich mit der Gabe des Gestaltwandelns gesegnet.", sie blickte zu uns über die Schulter, während sie das Brot in Tücher wickelte. Ein geheimnisvolles Grinsen auf den Lippen.
Vielleicht war Leis doch nicht so abergläubisch, wie ich die ganze Zeit über gedacht hatte. Dieses Grinsen sah eindeutig nach einer kleinen Rebellin aus.
Doch bevor ich genauer darüber nachdenken konnte hatte Leis bereits einen kleinen Rucksack mit dem Brot, geräuchertem Speck und getrocknetem Obst vollgepackt und drückte ihn mir in die Hand.
„Pass gut darauf auf, ihr werdet das Essen noch brauchen, wenn ihr die Reise in die Felsenwüste antretet. Es ist eine trostlose Gegend.", ich nickte. „Danke dir."
Leis umarmte mich zum Abschied noch einmal und flüsterte mir ins Ohr „Erfülle deine Pflichten und befreie dein Land, denn du solltest die rechtmäßige Herrschaft darüber inne haben, Eloen Niam Glynwarin, Auserwählte Avas."
Leis lies mich wieder los und wandte sich nun den Zwillingen zu. „Und ihr beiden passt gut auf sie auf. Sie ist etwas Besonderes. Und vergesst mich nicht, ich weiß, dass ihr nicht zurück kehren werdet, egal was passieren wird."
Ein Damm schien gebrochen zu sein und die Zwillinge stürzten sich in ihre offenen Arme, um sie ein letztes Mal fest zu drücken. Als Liam sich im Hintergrund leise räusperte gingen sie schließlich wieder auseinander. Ich funkelte ihn böse an, konnte er nicht diese eine Minute einfach mal die Klappe halten und warten? Immerhin würden die drei sich wahrscheinlich wirklich nie wieder sehen. Aber der Moment war vorbei und ich sah, wie sich Ferris verstohlen eine Träne von der Wange wischte. Leis musste den beiden wirklich viel bedeuten, wenn es sie so hart traf. In diesem Moment sahen sie wieder aus, wie unschuldige Kinder und nicht wie Krieger.
Leis atmete einmal tief durch und straffte die Schultern um zumindest ein bisschen Haltung zu bewahren. Dann streifte sie zwei ihrer Amulette vom Handgelenk und gab sie Ferris und Deren. Das Silber der Symbole funkelte im Licht, das durch das Fenster hereinschien. Die beiden nahmen die Armbänder entgegen und streiften sie jeweils über das rechte Handgelenk.
„Danke", brachte Deren mit einer rauen Stimme heraus, Ferris sagte überhaupt nichts, er versuchte es ausschließlich mit einem kläglich scheiternden Lächeln.
„Los jetzt, geht! Und passt gut aufeinander auf, ihr müsst zusammenhalten, versteht ihr? Ich werde für euch beten."
Liam öffnete hinter mir die Tür und ich spürte, wie ein kühler Windhauch um meine Beine strich. Ich drehte mich um und zog mir die Kapuze wieder tief ins Gesicht. Dann betraten wir gemeinsam die Straße und Leis zog hinter uns die Tür ins Schloss. Ich konnte gerade noch sehen, wie eine vom Alter fleckige Hand sich aus dem Türspalt zog, bevor die Tür ins Schloss fiel. Sie war wieder die einsame alte Dame.
„Kommt schon lasst uns gehen. Dann haben wir es schneller hinter uns. Ich glaube es ist das beste, hier so bald wie möglich wieder weg zu kommen.", meinte Liam mit einem Blick auf die Zwillinge. Die beiden lächelten nicht, sie witzelten auch nicht und sie schubsten sich auch nicht spaßeshalber gegenseitig von der Straße. Liam hatte recht, es würde für die beiden einfacher werden, wenn sie erst mal aus der Stadt heraus waren und sie nicht mehr andauernd an Leis denken mussten.
Bevor wir aber los gehen konnten zog Liam noch einen Goldsack aus einer Innentasche seines Mantels und reichte ihn einem der Zwillinge. „Wir treffen uns spätestens bei Sonnenuntergang am Osttor, dann können wir direkt weiter in Richtung der Steinwüste ziehen.", erklärte Liam, griff Ferris, der ein wenig angeschlagener als Deren aussah, an der Schulter und drückte ihn kurz.
„Ok, dann los. Ich will endlich aus diesen unbequemen Schuhen raus.", jammerte ich, halb um die Stimmung ein wenig aufzuheitern, halb, weil ich langsam wirklich keine Geduld mehr mit diese dünnen Stoffschuhen hatte.
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