Prolog 0.2
Der Wächter lief zum Waggon und hielt sein Handgelenk an den Sensor neben der Tür. Das Gerät scannte die flimmernde Nummer auf seiner Haut, leuchtete schließlich Grün auf, woraufhin die Tür des Abteils zur Seite glitt. Das Mädchen und der Junge taten es ihm nach, um durch den zweiten Scan hinter der Abteiltür zu gelangen.
Er warf einen letzten Blick auf die Rampe, dann glitt die Tür zu. Es fühlte sich seltsam an, zu wissen, dass er wohl vorerst nicht mehr zurückkehren würde. Trotz allem war Circle seit über siebzehn Jahren seine Heimat gewesen und er wusste nicht, was ihn hinter der Mauer erwartete.
Er spürte, wie das nagende Gefühl zunahm und ohrfeigte sich innerlich. Er brauchte seine ganze Konzentration, denn jeder Fehler konnte das vorzeitige Ende für sie bedeuten.
Der Supra fuhr mit einem leichten Rucken an und erinnerte ihn daran, sich zu setzen.
Die magnetischen Gleise schnurrten sanft, als der Zug an Geschwindigkeit zulegte, doch ansonsten war es still. Jeder von ihnen war in seine eigenen Gedanken vertieft. Er richtete seinen Blick nach draußen und folgte mit den Augen den dunklen Umrissen der Stadt, die immer schneller an ihnen vorbeizogen.
In den Verwaltungsgebäuden der Rechten Hand brannten teilweise noch die Lichter und auch als sie in die dritte Zone einfuhren, herrschte geschäftiges Treiben, selbst um diese Uhrzeit. Die Maschinen der Drei standen nicht lange still. Die Arbeitstage begann früh und endeten spät. Ein deutlicher Unterschied zu den inneren Ringen, wo die Leute es sich leisten konnten, zeitig nach Hause zu gehen.
Die Jahre, die er beim Waffentransport gearbeitet hatte, kamen ihm wie ein anderes Leben vor. Es war körperlich anstrengend gewesen, dennoch hing sein Herz daran, denn seit seinem vierzehnten Lebensjahr war es sein Alltag gewesen.
»Weiß sie, dass wir kommen?«, fragte das Mädchen urplötzlich in das Schweigen hinein und lenkte damit seine Aufmerksamkeit wieder auf die Gegenwart.
Sein Freund schüttelte unschlüssig den Kopf. »Ich glaube nicht. Die Möglichkeiten, nach drinnen Kontakt aufzunehmen, sind nicht sehr groß. Selbst John kann nicht viel ausrichten. Das Rohrpostsystem wird überwacht und sie haben noch keinen Weg gefunden, die Kontrollen zu umgehen. Es wird nicht leicht, sie davon zu überzeugen, so viel ist sicher«, sagte er und richtete seinen Blick für einige Sekunden in die Ferne. Dann nickte er knapp. »Vielleicht wäre es besser, wenn ihr das Reden übernehmt. Ich könnte mir vorstellen, dass sie mir nicht sonderlich zugetan ist.«
Seine Partnerin stieß ein belustigtes Schnauben aus. »Kann man es ihr verdenken?«
Der Wächter hob einen Mundwinkel, doch das kleine Grinsen schaffte es nicht ganz, bis in seine Augen vorzudringen. »Ich kann froh sein, wenn sie mich nicht gleich versucht zu töten.«
Der Gedanke schien ihn ernsthaft zu beschäftigen. Eine Weile starrte er mit leerem Blick vor sich hin, dann schüttelte es ihn und er wandte sich dem Jungen zu. »Du weißt, wo wir hinmüssen, oder?«
Er nickte. »Es ist nicht sehr weit von der Suprastation entfernt. Wir sollten uns dennoch bedeckt halten. Unsere Tarnung wird beim genauen Hinschauen auffliegen.«
Der Junge war schon einige Male in der vierten Zone gewesen, um neue Waffen an den Zonenschutz zu liefern und ausgesonderte Gewehre zur Reparatur mitzunehmen. Daher kannte er sich recht gut in den anderen Zonen aus.
Es wurde schlagartig wieder still zwischen ihnen, als der Zug in den äußeren Ring einfuhr. Unter der Hochebene flogen Wohnhäuser und bestellte Felder am Fenster vorbei, ehe ein tiefschwarz wirkender Wald die Sicht auf den Boden nahm. Obwohl er die vierte Zone bereits kannte, war er gefangen von dem Anblick, der sich ihm aus dieser Höhe bot.
Doch genauso schnell, wie die Baumkronen vor seinen Augen aufgetaucht waren, so schoss die Umgebung an ihm vorbei, der Zug bremste und blieb schließlich stehen. Er warf seiner Partnerin und dem Wächter einen bedeutungsschweren Blick zu, dann erhoben sie sich wortlos, entwerteten nacheinander ihr Ticket am Scanner und verließen das Abteil. Die blaue Vier an seinem Handgelenk war verschwunden.
Das Erste, was er wahrnahm, war die Luft. Sie schien anders zu sein – klarer, nicht so verdreckt und stickig. Er nahm einen tiefen Atemzug und sah beim Ausatmen dabei zu, wie sich kleine, weiße Wölkchen in der kalten Nachtluft zu unbestimmbaren Formen verbanden und sogleich wieder auseinanderstoben.
»Wollen wir?«, fragte das Mädchen, woraufhin er seinen Blick auf sie richtete.
Sein Freund und er nickten. Er festigte den Griff um seine Waffe, straffte die Schultern und lief voran die Treppe der Hochebene herunter. Die Straße, die direkt darunter verlief, war ausgestorben. Die Zone lag friedlich vor ihnen, doch er wusste ganz genau, dass die Stille nur eine Illusion war.
Wachsam blickten sie sich immer wieder um, während er sie durch die Straßen zu ihrem Ziel führte. Er wusste, dass sie nicht mehr weit entfernt waren und glaubte bereits daran, den Plan ungesehen ausführen zu können, als sie in eine Nebenstraße einbogen und sich zwei Wächtern gegenübersahen. Sofort kehrte die Anspannung zurück, die sich während der Fahrt mit dem Supra ein wenig verflüchtigt hatte. Er nickte den beiden knapp zu, das Mädchen und der Wächter taten es ihm nach.
»Abend«, sagte einer der beiden Männer im Vorbeigehen.
Niemand von ihnen reagierte auf den Gruß, sondern mit gesenkten Köpfen liefen sie weiter, um sich so schnell wie möglich von ihnen zu entfernen.
»Moment mal!«, rief ihnen dieselbe tiefe Stimme hinterher.
Panisch beschleunigten sie ihre Schritte. Sie konnten es sich nicht erlauben, gesehen zu werden. Das würde sie nur Zeit und Fragen kosten, die ihnen nicht zur Verfügung stand und die sie nicht beantworten konnten.
»Stehen bleiben!«, rief der Mann noch einmal, doch dieses Mal klang es eindeutig nach einem Befehl, nicht nach einer Bitte.
Als der Junge das vertraute Klacken hörte, hielt er abrupt an. Das Mädchen und sein Freund schienen es ebenfalls gehört zu haben, denn er spürte, wie sie sich versteiften. Ganz automatisch festigte sich sein Griff um seine Waffe, während er sich umdrehte und in den Lauf des Gewehrs sah, das direkt auf die kleine Gruppe gerichtet war.
»Wieso seid ihr zu dritt?«, fragte der Wächter des Zonenschutzes und musterte sie misstrauisch.
»Anordnung vom Lieutenant«, antwortete sein Freund monoton, doch das schien dem Mann nicht zu reichen.
Er trat einige Schritte näher, beugte sich dann zur Seite und betrachtete die Oberarme der Drei mit zusammengezogenen Augenbrauen genauer. »Wie kommt es, dass ihr für unterschiedliche Quartale zuständig seid?«
Dem Jungen drehte sich der Magen um. Er hätte am liebsten laut geflucht. Wie konnten sie so ein wichtiges Detail übersehen? Fieberhaft suchte er nach einer plausiblen Erklärung, doch seine Gedanken waren wie leer gefegt.
»Und was sind das für Waffen?«, hakte der Mann nach. »Sie gehören nicht zur Ausstattung des Zonenschutzes.«
Er schluckte hart, denn der Kloß, der sich in seinem Hals gebildet hatte, wollte seine Stimme einfach nicht freigeben. Seinen Freunden schien es nicht anders zu gehen, denn sie starrten den Mann mit durchdringenden Blicken an.
Dieser lief zu seiner Partnerin und blieb so dicht vor ihr stehen, dass Wut in dem Jungen aufkeimte. Die Art und Weise, wie er auf sie herabsah, machte ihm deutlich, was er von weiblichen Wächtern hielt.
»Was macht ihr hier? Seid ihr Rebellen? Oder Sympathisanten?«, zischte der Mann hasserfüllt und ging leicht in die Knie, sodass er dem Mädchen direkt in die Augen sehen konnte, die von ihrer Mütze leicht verdeckt wurden.
Seine Partnerin presste ihre Kiefer heftig aufeinander, ihr Atem beschleunigte sich und der Junge hoffte, dass sie nichts Unüberlegtes tat.
»Tss, ihr habt wohl geglaubt, ihr kommt mit dieser lächerlichen Verkleidung durch, was?« Der Mann warf seinem Begleiter einen Blick über die Schulter zu. »Wir nehmen sie mit zum Stützpunkt.«
Als er sich wieder seiner Partnerin zuwandte, blieb ihm kaum Zeit für eine Reaktion, da flog schon ihr Ellenbogen geradewegs auf seine Nase zu. Bei dem hässlichen Knacken richteten sich die Nackenhaare des Jungen auf.
Der Mann brüllte vor Schmerz, sein Begleiter hob die Waffe, um die Situation zu retten, doch da stürmte der Wächter bereits nach vorn und schaltete ihn mit einer Bewegung aus. Er sackte bewusstlos in sich zusammen, das Gewehr landete klappernd neben ihm.
Der Mann mit gebrochener Nase fasste sich wieder und stürmte auf seine Partnerin zu, doch diese wich ihm geschickt aus und streckte ihn ebenso gekonnt nieder.
Obwohl die Situation mehr als schlecht war, konnte der Junge das aufsteigende Lachen nicht zurückhalten. Er prustete los, schlug sich immer wieder mit der Hand auf den Oberschenkel, bis er völlig atemlos zur Ruhe kam.
»Bist du dann fertig?«, fragte sein Freund und sah ihn mit hochgezogener Augenbraue an. Obwohl er angespannt klang, konnte der Junge die Belustigung deutlich in seinem Blick ausmachen.
»Ja, entschuldigt bitte. Es ist nur –« Als er den Blick seiner Partnerin sah, verstummte er und wurde schlagartig wieder ernst. »Wo bringen wir sie jetzt hin?«
Das Mädchen sah sich um und deutete schließlich auf eine verfallene Hütte, die sich ganz in der Nähe befand.
»Wir müssen dafür sorgen, dass man sie so spät wie möglich findet«, stellte sie fest.
Sein Freund nickte knapp, packte einen der Gegner unterm Arm und schleifte ihn von der Straße weg. Das Mädchen tat es ihm nach, während er sich die Gewehre schnappte und ihnen folgte. Er löste die Riemen von den Waffen und fesselte die beiden Männer damit an einen Eisenstab, der in einer Ecke aus dem Boden ragte. Sie zerrissen eine ihrer alten Uniformen und schoben ihren Gegnern jeweils ein Stück Stoff in den Mund. Sobald zusätzlich ihre Augen verbunden waren, versicherten sie sich, dass die Knoten halten würden, dann stürmten sie wieder hinaus und liefen in die Richtung ihres Ziels.
Dieses Mal schlugen sie ein deutlich schnelleres Tempo an, denn solch einen Zwischenfall konnten sie nicht noch einmal riskieren.
Sie erreichten die Hütte ungesehen. Mit wenigen Schritten überbrückten sie den Abstand zur Haustür. Hinter den Fenstern war es dunkel und an ihm nagte bereits das schlechte Gewissen, weil sie die Familie aus dem Schlaf reißen würden. Dann überwand er sich und ließ seine Faust zweimal gegen die Tür fallen.
Obwohl er kaum das Holz berührte, klang das Hämmern in seinen Ohren so heftig, als hätte er sich mit seinem vollen Gewicht dagegen geworfen.
Es dauerte einen Moment, dann hörten sie ein gedämpftes Fluchen, eine fragende Kinderstimme und schließlich wurde die Pforte einen Spalt breit geöffnet. Funkelnde Augen lugten aus der Dunkelheit nach draußen. Misstrauisch musterten sie die kleine Gruppe.
»Wir haben nichts Unrechtes getan!«, sagte eine weibliche Stimme bestimmt.
Seine Partnerin trat einen Schritt vor und lächelte ehrlich. »Das wissen wir. Deshalb sind wir nicht hier, Ma'am.«
»Warum tauchen Sie dann mitten in der Nacht an meiner Haustür auf?«, hakte die Frau gereizt nach und war drauf und dran, die Tür wieder zu schließen.
Der Junge merkte, wie sich sein Freund zwischen ihm und seiner Partnerin in den Vordergrund drängte. Er wollte ihn zurückhalten, doch der Wächter schüttelte seine Hand mühelos ab.
»Erkennst du mich noch, Fiona?«, fragte er und sah sie abwartend an.
Als die Frau ihren Namen vernahm, hielt sie inne. Ihr Blick schoss nach oben, dann trat sie mit zusammengekniffenen Augen auf die Veranda. Trotz ihrer geringen Größe machte sie einen recht standhaften Eindruck. Ihr Gesicht war zu einer grimmigen Miene verzogen.
»Nik? Bist du das?«
Die Stimme eines kleinen Jungen ertönte direkt hinter dem Holz. Der schmale Körper schob sich nur einen Augenblick später zwischen den Beinen seiner Mutter hindurch, die ihn gerade noch am Kragen des alten Hemdes zu packen bekam, bevor dieser ungestüm durch den schmalen Spalt stürmen konnte.
»Du solltest doch an der Treppe warten!«, rügte die Mutter ihren Sohn und schob ihn mit Leichtigkeit wieder ins Haus zurück.
»Wie kannst du es wagen, hier einfach so aufzutauchen?«, fragte sie schließlich an den Wächter gewandt und presste die Lippen aufeinander. Ihre Stimme zitterte – ob vor Wut oder Trauer an die Erinnerungen konnte der Junge nicht sagen. »Ich dachte, ich hätte mich das letzte Mal klar ausgedrückt, als ich sagte, ich will dich nie wiedersehen.«
Sein Freund senkte den Kopf. Es war ihm deutlich anzumerken, wie unangenehm ihm die Situation war. »Das hast du auch«, gab er betreten zu.
»Warum bist du dann hier?«, fauchte Fiona feindselig und stemmte die Fäuste in die Seiten.
»Wir wissen mit Sicherheit, dass sie lebt«, erklärte der Wächter.
Die Augen der Frau verengten sich noch weiter. Anscheinend wägte sie ab, ob sie ihm glauben konnte. Da schob sich seine Partnerin an dem Wächter vorbei.
»Mrs. Whitefield?«, sagte sie mit sanfter Stimme und nahm Fionas Hand in ihre. »Wir kennen uns nicht, aber ich bin mit ihrer Tochter befreundet.«
Verwirrt blickte die Frau zu dem Mädchen, die ihr ein sympathisches Lächeln schenkte.
»Das ist mein Partner«, sagte sie und deutet auf den Jungen. Er trat ebenfalls einen Schritt nach vorn und hob grüßend die Hand. »Wir stehen mit ihrer Tochter in Kontakt und haben von ihr einen wichtigen Auftrag erhalten.«
Die Frau hob die Brauen. »So? Und was für ein Auftrag wäre das?«
Dieses Mal meldete sich sein Freund wieder zu Wort. »Wir sollen euch aus der Stadt bringen.«
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