Prolog 0.1
┎ ┅ ╍ ┒
Eliminated
–
Wenn die Wahrheit
deine Waffe ist.
┖ ╍ ┅ ┚
Das Geräusch des berstenden Holzes unter seinem Stiefel schnitt so laut durch die stille Nacht, dass es von der Lautstärke her einem Gewehrschuss glich. Er hielt abrupt in seiner Bewegung inne und schielte zu dem Mädchen neben ihm. Vorwurfsvoll blitzten ihn die Augen seiner Partnerin durch die Dunkelheit an und ermahnten ihn lautlos. Er zuckte nur kurz entschuldigend mit den Schultern.
Sie beließ es dabei, denn sie wusste genau, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, um eine Auseinandersetzung zu beginnen.
Obwohl er am liebsten weiter auf- und abgelaufen wäre, um seine Nervosität in den Griff zu bekommen, stellte er sich neben sie und trommelte stattdessen leise mit den Fingern auf seinem Oberschenkel herum.
»Wo bleibt er denn?«, zischte das Mädchen angespannt und sah sich vorsichtig um, während beide in den langen Schatten eines entfernten Gebäudes geduckt waren.
Er drückte einen Knopf an seiner Uhr, woraufhin das Display aufleuchtete, und observierte dann mit zusammengekniffenen Augen die dunkle Umgebung.
Ab und an flutete das Mondlicht das Schwarz der Nacht. Die silbernen Streifen waren beinahe so grell wie die Scheinwerfer, die auf dem gesamten Gelände des vierten Quartals errichtet worden waren und immer wieder die Schatten zurückdrängten. Hier an der Grenze zur ersten Zone standen sie deutlich vereinzelter. Allerdings war er sich sicher, dass sich das bald ändern könnte. Auch ohne die Wahrheit zu kennen, spürte man deutlich, wie die Menschen unruhiger wurden. Sie ahnten, dass bald etwas geschehen würde. Nur konnten die meisten, im Gegensatz zu ihm, nicht sagen, was es war.
Er dachte an die zwei äußeren Ringe der Stadt, – Zone Drei und Vier – in denen die Überwachung deutlich strenger gehandhabt wurde. Dort patrouillierten Wächter des Zonenschutzes ununterbrochen an den Übergängen. Jetzt sicherlich noch häufiger als früher. Es war schließlich immer möglich, dass jemand plötzlich auf die Idee kam, mitten in der Nacht die Ringe durchqueren und rebellieren zu wollen.
Er schüttelte bei diesem Gedanken den Kopf. So langsam verstand er, wie unfair das Leben in Circle war, wenn man nicht in einem der zwei inneren Ringe geboren wurde. Allerdings bestärkte jedes Bisschen der Wahrheit, welches sich ihm offenbarte, dass dieses Vorhaben die richtige Entscheidung gewesen war.
Ein leises Knacken riss ihn aus seinen Gedanken. Sofort fuhr er in den aufrechten Stand und drehte sich in die Richtung, aus der er das Geräusch vermutete. Kampfbereit hob er die Fäuste und sah aus dem Augenwinkel, wie seine Partnerin es ihm nachtat. Die Fingernägel gruben sich schmerzhaft in die weiche Haut seiner Handinnenflächen, jeder Muskel wartete verkrampft auf den Befehl, sich zu verteidigen.
Noch einmal brach ein Ast, dann wurden Schritte laut und schließlich schälte sich eine Gestalt aus der Dunkelheit.
Er wollte bereits nach vorn stürmen und sich auf die Person stürzen, da wurde er von dem Mädchen zurückgehalten, und kaum einen Augenblick später enthüllte das Mondlicht die Identität des Neuankömmlings.
Ein breit gebauter Wächter kam vor ihnen zum Stehen, stemmte die Hände auf die Knie und rang nach Luft. Dann musterte er den Jungen, der immer noch in seiner Kampfhaltung verharrte.
»Wolltest du mich etwa angreifen?«, fragte sein Freund und hob bei der Vorstellung belustigt eine Augenbraue.
Er ließ ein wenig verlegen die Arme sinken und zuckte die Schultern. »Du hast eine miserable Kondition, weißt du das?«, feuerte er schnippisch zurück, denn obwohl der Kommentar des Wächters sicher als ein Scherz gemeint war, beleidigten ihn die Worte.
Viel Zeit hatte er nicht, um sich innerlich darüber aufzuregen, denn das Mädchen packte den Wächter indessen am Arm und zog ihn in den Schutz des Schattens hinein.
»Warum hast du nicht unser Zeichen benutzt? Wir haben es uns nicht ohne Grund überlegt. Hätten wir einen Kampf angefangen, dann wäre unsere Mission vorbei, bevor sie überhaupt angefangen hat«, flüsterte sie empört.
Der Wächter blickte unbeeindruckt zu ihr. »Welches Zeichen?«
Sie rollte mit den Augen. »Den Ruf einer Eule«, erwiderte sie mit ernster Miene.
Sein Freund runzelte die Stirn. »Ich imitiere doch keinen bescheuerten Vogel«, stellte er mit einem Schnauben fest.
»Natürlich tust du das nicht«, raunte das Mädchen und sah nicht sonderlich überrascht aus. »Pass wenigstens auf, wo du hintrittst. Wenn es sich weiter so anhört, als würdest du den Wald in der Vier roden, können wir auch gleich quer übers Gelände laufen und dabei unsere Namen brüllen.
»Man hört dich schon, da bist du noch zehn Meilen entfernt«, pflichtete der Junge ihr bei.
Der Wächter lachte auf, erntete von dem Mädchen aber sofort einen Schlag auf den Oberarm, weshalb er sich auf ein unterdrücktes Glucksen beschränkte.
»Seit wann bist du so rechthaberisch?«, fragte er.
»Seit wann bewegst du dich wie ein wildgewordener Eber durchs Unterholz?«, erwiderte seine Partnerin. »Du bist nicht der Einzige, den Schlimmeres erwartet, als nur vorrübergehend von Missionen gesperrt zu werden, falls man uns erwischt.
Der Wächter hob abwehrend die Hände, doch ein schalkhaftes Funkeln blitzte in seinen Augen auf.
»Wo warst du überhaupt so lange?«, fragte der Junge.
»Es gab ein paar Komplikationen. Sie hätten mich fast erwischt, als ich –«
»Hast du sie?«, fiel ihm das Mädchen ungeduldig ins Wort, ohne auf seine letzte Äußerung einzugehen.
Der Wächter grinste. »Mir geht es gut, sie haben mich zum Glück nicht mehr gesehen. Danke, für deine Besorgnis.«
Seine Partnerin legte genervt den Kopf schief. »Also hast du sie nun, oder nicht?«, hakte sie nach.
Zur Antwort griff der Wächter hinter sich und öffnete den Rucksack, den er auf dem Rücken trug, gerade so weit, dass sie einen Blick auf den Inhalt werfen konnte.
Der Junge atmete erleichtert aus. Die Magnete waren da.
»Habt ihr die Uniformen?«, fragte sein Freund im Gegenzug, während er den Reißverschluss wieder zuzog.
Das Mädchen deutete mit einem knappen Nicken auf den Seesack, der ihr quer über den zierlichen Rücken hing.
»Die Gewehre haben wir auch«, fügte der Junge hinzu. Der Wächter nickte zufrieden.
»Wir müssen los, sonst verpassen wir den Supra«, sagte seine Partnerin mit einem Blick auf die Uhr.
Ohne auf eine Antwort zu warten, setzte sie sich beinahe lautlos in Bewegung. Sein Freund und er folgten ihr. Jeder von ihnen kannte das Gelände des Militärs in- und auswendig, denn seit einigen Monaten schon war das vierte Quartal in Zone Zwei zu ihrem neuen Zuhause geworden.
Die trockenen Zweige und das knirschende Laub unter ihren Füßen erschwerten es ihnen, sich ungesehen fortzubewegen. Deshalb schlugen sie widerwillig – aber zur Sicherheit der Mission – ein etwas gemäßigteres Tempo an. Sie erreichten ungesehen den Zaun, der das Gelände von der Hauptstraße trennte. Der Wächter rannte voraus und steuerte bereits auf das Haus zu, in dem ihre Kollegen Wache hielten.
Er hoffte inständig, dass dieser Teil des Plans aufging. Wenn nicht, würden sie es nicht sehr weit schaffen.
Sein Herz schlug heftig gegen seinen Brustkorb, als sie mit federleichten Schritten dicht an der kalten Betonwand des Gebäudekomplexes entlangschlichen, um zu dem abgelegenen Teil des Zaunes zu gelangen. In einigen Metern Entfernung blieben sie stehen.
Der Junge angelte sich einen Stock vom Boden und positionierte sich vor dem Zaun. Sein Atem beschleunigte sich und seine Finger zitterten unkontrolliert. Sie hatten nur einen Versuch. Sobald der Stock gegen den Zaun schlug und dieser noch immer unter Strom stand, würde die Berührung Alarm auslösen und mit ihrer Tarnung wäre es vorbei.
»Nun mach schon!«, zischte seine Partnerin. »Wir haben nicht mehr viel Zeit.«
Nur schwer konnte er seine Muskeln dazu überreden, mit dem Arm auszuholen und den Stock loszulassen. Es war, als würde die Welt für einen kurzen Moment stillstehen, bevor das Holzstück auf das Metall traf und mit einem hohlen Dröhnen davon abprallte. In seiner Brust explodierte etwas und er konnte nicht sagen, ob es durch die Erleichterung oder das heftige Ausstoßen der angehalten Luft verursacht wurde.
Seinen Freunden schien es ähnlich zu gehen, denn sie alle warfen sich triumphierende Blicke zu und atmeten beruhigt aus. Doch viel Zeit zur Freude blieb ihnen nicht, denn der Supra würde nicht auf sie warten.
Das Mädchen und der Wächter hatten sich schon wieder gefangen und nahmen bereits Anlauf, um den Zaun zu überwinden. Als er ihnen folgen wollte, versuchte die Nervosität erneut die Kontrolle über seinen Körper zu ergreifen, doch er drängte sie entschieden zurück und rief sich zur Ordnung. Er hatte die Übung bereits hunderte Male im Training erfolgreich absolviert, warum sollte er es jetzt also nicht schaffen?
Mit zusammengebissenen Zähnen zurrte er die Bänder der Gewehre so fest, dass es ihm beinahe die Luft abschnürte. Schließlich nahm er Anlauf, ergriff die Kante des Zaunes und schwang nacheinander beide Beine darüber. Elegant glitt er zur anderen Seite, wo er heimlich auf seinen Füßen landete. Ein selbstsicheres Lächeln erschien auf seinen schmalen Lippen, denn das Training hatte sich anscheinend wirklich gelohnt.
Mit einem letzten Blick zum Wachthaus wandte er sich ab und sprintete über die Straße, auf der zu dieser Uhrzeit keiner mehr unterwegs war. Mit flinken Schritten lief er die Treppe der betonierten Hochebene empor und kam hinter seinen Freunden zum Stehen.
Seine Partnerin hatte bereits die Uniformen aus ihrer Tasche geholt und drückte ihm stillschweigend eine davon in die Hand. Mit einem Seufzen sah er den Wächter an, der sich bereits aus seiner Kleidung schälte, und tat es ihm dann nach.
Der Rot der Uniform war ungewohnt und es fühlte sich falsch an, sie zu tragen. Doch auf solche seltsamen Belange konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Als Wächter des Zonenschutzes könnten sie sich um diese Uhrzeit ungesehen durch die Straßen von Zone Vier bewegen, da es deren Aufgabe war, die Straßen auf verbotene Treffen oder Aktivitäten zu überprüfen.
Als er fertig war, reichte er seiner Partnerin und dem Wächter jeweils eines der Gewehre. Ihre alten Sachen stopften sie in den Seesack, dann traten sie zu dem Head-Up-Display, welches mit grell leuchtender Schrift verkündete, dass hier die Tickets für die Fahrt mit dem Supra erworben werden konnten. Erst als die blaue Vier über der Haut seines Handgelenks flimmerte, wagte er, sich zu entspannen. Bisher war beinahe alles nach Plan verlaufen.
Er trat an das Metallgeländer, das die Hochebene umgrenzte, und Erinnerungen überfluteten ihn. Die Rampe, das Hauptgebäude des Militärkomplexes, ragte in den dunklen Nachthimmel und sah immer noch eindrucksvoll aus. Er war vom ersten Augenblick an fasziniert gewesen. Von der Größe und der Atmosphäre, die das Militär erzeugte.
Nun fand er den Gedanken unerträglich, dass er ein Teil davon war. Eigentlich alles, was einem die zweite Zone an Vorteilen versprach, widerte ihn an. Dieser Ort – diese Stadt – war ihm fremd geworden.
»Es ist seltsam, nicht wahr?« Seine Partnerin trat zu ihm und stützte sich auf die leicht rostige Eisenstange.
Er nickte. »Ich habe lange davon geträumt, hier zu leben und nun ...« Er ließ das Ende des Satzes offen.
Obwohl er vollkommen hinter seiner Entscheidung stand, seine Freunde zu unterstützen, beschlich ihn ein beklemmendes Gefühl bei dem Gedanken daran, all das in wenigen Stunden hinter sich zu lassen.
»Wir tun das Richtige, oder?«, murmelte das Mädchen unterdrückt. In ihrer Stimme schwang Unsicherheit mit.
Er machte ihr keinen Vorwurf, schließlich hatte er sich diese Frage selbst oft genug gestellt. Bevor er antwortete, warf er einen Blick über die Schulter zu seinem Freund, der noch immer damit beschäftigt war, seine Uniform zu richten.
»Ich kann nicht einfach so weitermachen, als wüsste ich nichts von alldem«, sagte er und blickte das Mädchen an. Ihre braunen Augen lagen auf ihm und strahlten solch eine Beruhigung aus, dass er seine Aufregung für einen kurzen Moment vergaß. Dann nickte sie knapp und ließ ihren Blick über das Gelände des Militärs gleiten, das sich unter ihnen erstreckte.
»Ich weiß noch, wie es war, als ich das erste Mal hier oben gestanden und auf die Rampe geschaut habe«, sagte der Junge mit einem Grinsen auf den Lippen. »Alles war so neu – wie eine andere Welt.«
Seine Partnerin schwieg, lächelte aber. Ihre Eltern waren hier geboren – beide arbeiteten als Ärzte im ersten Quartal der zweiten Zone. Für sie zählten die besseren Lebensbedingungen zur Normalität.
»Das ging mir genauso«, schaltete sich plötzlich der Wächter dazwischen, der sich unbemerkt neben sie gestellt hatte. »An dem Tag habe ich die Drohnen das erste Mal aus der Nähe gesehen. Sie sind über meinen Kopf hinweggeflogen.«
Ein verträumter Ausdruck legte sich über sein Gesicht, das teilweise von den dunklen Strähnen seiner Haare verdeckt wurde.
So standen sie am Geländer, bis wenige Minuten später der Supra einfuhr. Niemand stieg aus, was die Situation deutlich erleichterte. Je weniger Zeugen es gab, desto später wurde ihr Verschwinden bemerkt und sie hatten einen deutlich größeren Vorsprung.
Seine Partnerin warf ihm einen aufmunternden Blick zu und hielt ihm die Faust hin. »Bereit?«
Er nickte und setzte ein optimistisches Lächeln auf. »Bereit!«, bestätigte er und schlug mit seiner geballten Hand gegen ihre.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro