Kapitel 36 - Der sprechende Hinterkopf
Verdeckt von einer Figur hatte ich den Mann nicht entdeckt. Fast hätte ich sofort den Namen meines Paten gebrüllt und ihn zur Rede gestellt. Mir fiel aber etwas sehr Wichtiges auf. Das war nicht Severus Snape auf dem Spielfeld. Es war kein anderer als Professor Quirrell. In meinem Hirn ratterte es. Hatte mein Pate ihn vorgeschickt? Oder war er nur die Nachhut, die er zurückgelassen hatte? War er am Ende schon längst beim Dunklen Lord und machte ihn unsterblich?
Ich schüttelte stumm den Kopf. So durfte das nicht sein! Es konnte einfach noch nicht zu spät sein. Ich flog mithilfe des Besens leise an den linken Spielfeldrand. Dort verbarg mich die zerstörte Gestalt eines ehemaligen Springers recht gut. Währenddessen spielte der Lehrer einfach weiter, er hatte mich also glücklicherweise nicht bemerkt. Dann gingen mir aber drei wichtige Dinge auf: Erstens, Quirrell hatte seinen Turban nicht auf. Und da ich eigentlich zehn Galleonen und eine Schokofroschpackung darauf verwettet hätte, dass er den Turban sogar zum Duschen trug, war das beunruhigend. Zweitens, sprach er nicht mehr länger stotternd und sanft, sondern entschlossen und fest. Auch das hätte ich nie für möglich gehalten. Und drittens redete er. Ja, schon klar, fast wie zweitens. Aber er gab den Figuren nicht nur Befehle, wo sie hingehen sollten, sondern führte eine Art Selbstgespräch und gab sich selbst Tipps. Äußerst verdächtig.
Womöglich war Snape gar nicht der Böse, sondern der stotternde Professor. Oder einfach beide. Davon ging ich aus, solange mir nicht das Gegenteil bewiesen wurde. Quirrell verlor einen seiner Türme und fluchte laut. Er war offenbar nicht besser im Schachspiel als ich. Wenn Ron jetzt nur hier wäre ... er würde diese Herausforderung lieben. Aber ich war auf mich allein gestellt und flog mit einem alten Besen hinter einer Pferdestatue umher und beobachtete eine mir unbekannte Version meines Verteidigungslehrers, wie er ein Schachspiel gegen Riesenfiguren verlor. Gerade war auch der zweite Turm umgestürzt worden und kullerte gefährlich nahe an mein Versteck heran. Quirrell sah ihm nach und ließ weitere Schimpfwörter von Stapel, die ich zukünftig mal an Draco testen wollte. Ich fürchtete, er hatte mich gesehen, aber dann drehte er sich um. Und ich bekam einen solchen Schreck, dass ich laut quietschte. Im nächsten Moment hielt ich mir aber schon selbst den Mund zu.
Ich hatte etwas Furchtbares gesehen. Etwas, was mir noch die nächsten Jahre in meinen Albträumen begegnen würde. Am Hinterkopf des Professors befand sich weder eine Glatze, noch Haare. Sondern ein grauenvolles Gesicht. Rote Augen, die genau in meine Richtung starrten, ein Mundschlitz, dessen Enden sich bei meinem Anblick nach oben verzogen, wie bei einem Grinsen. Ich hatte keine Ahnung, worum es sich dabei handelte. Allerdings hatte ich keinerlei Zweifel daran, dass es schwarzmagischer Natur war. Dann sprach es. Die Stimme war fürchterlich hoch und ließ mich mir die Ohren zuhalten.
„Wen haben wir denn da?", fragte das Gesicht und verkrümmte sich zu einer schmerzhaft wirkenden Fratze. Scheinbar schien das Reden nicht sonderlich einfach zu sein.
Ich antwortete nicht, sondern hing stumm auf dem Besen in der Luft. Für eine Flucht war es nun ohnehin zu spät.
„Bring sie mir!", befahl die Fratze und Quirrell drehte sich um und zeigte mir sein normales Gesicht. Jetzt, da ich nicht mehr länger in das Gruselgesicht blicken musste, konnte ich mich auch wieder rühren. Ich umklammerte den Besen und flog auf die andere Seite des Spielfelds, hinter die weißen Figuren. Hinter mir brüllte der Lehrer Flüche und fuchtelte wild mit seinem Zauberstab. Ich kam hinter der Figur der weißen Königin zu stehen. Sie schien sich an meiner Anwesenheit nicht zu stören, sondern blickte starr in Richtung Quirrell. Dieser hatte es aufgegeben, mich auf Zaubererart zu fangen und kam nun auf mich zu, um mich auf die Art der Muggel festzuhalten. Als er jedoch Anstalten machte, einen weißen Bauern zu umrunden, zog dieser sein Schwert. Er hielt es ihm genau auf Höhe seiner Kehle in den Weg. Vermutlich wäre der Verteidigungslehrer gestorben, wenn er nicht rechtzeitig gebremst hätte. So aber war er gezwungen, an Ort und Stelle zu bleiben. Erleichtert atmete ich auf.
Offensichtlich musste er weiterhin in seiner Rolle als Schachfigur bleiben. Schnell besah ich mir die zerstörten Figuren am Feldrand und auf dem Spielfeld genauer. Wenn ich mich nicht irrte, spielte er die Königin. Typisch. Natürlich wollte ein Kerl wie Quirrell möglichst viel Macht haben. Blöd für ihn, dass die Königin meistens recht schnell rausflog.
„Komm raus! Das ist doch lächerlich!", schnaubte mein Lehrer. Den Zauberstab hielt er immer noch in meine Richtung. Ich wäre schön doof, wenn ich mein Versteck verlassen würde. Er würde mich doch ohne zu zögern umbringen!
„Wieso sollte ich?", rief ich also zurück und bemühte mich, möglichst mutig zu klingen. Es war ja nicht so, als ob meine Knie zitterten und mein Knöchel wie verrückt schmerzte.
Quirrell antwortete nicht. Glücklicherweise auch die andere hohe Stimme nicht. Beide schienen zu sehr auf das Schachspiel konzentriert zu sein, bei dem erneut eine von den schwarzen Figuren niedergemetzelt wurde. Jetzt blieben ihm nur noch wenige um das Spiel zu gewinnen. Ich hoffte ja, dass weiß gewinnen würde, aber sie würden ihn bestimmt nicht lange aufhalten können, wenn er verlor. Aber vielleicht würde mir das die nötige Zeit geben, um von hier zu verschwinden und Hilfe zu holen. Wobei, eigentlich müsste diese bereits unterwegs sein. Immerhin hatte ich Aridia zu Dumbledore geschickt. Ich müsste also nur alles hinauszögern.
„Wieso ist Snape denn nicht hier? Sollte es nicht eine Familienfeier der Bösewichte werden?", fragte ich laut. Wieder tat ich auf mutiger, als ich eigentlich war.
Die hohe Stimme lachte. Es jagte mir einen Schauer über den Rücken. „Snape? Der hat doch Dumbledores wegen noch alles zu verhindern gesucht!", antwortete sie. Ich wagte einen Blick auf ihn. Quirrell stand das Gesicht zu mir gewandt da und schien bei weitem weniger glücklich, als seine Kehrseite, die ich Merlin sei Dank nicht sehen konnte.
Mein Pate war also doch nicht der Schurke? Mir fiel ein Stein vom Herzen. Allerdings nur ein kleiner, da mich das auch nicht aus meiner misslichen Lage rettete. Ich musste Zeit schinden. Wenn ich nur irgendwie dafür sorgen konnte, dass Quirrell das Schachspiel verlor, würde das womöglich genau ausreichen. Dann würde Dumbledore hier hineinschreiten, mit wehendem Bart und Haar und Quirrell erst feuern und dann festnehmen.
„Bauer auf E7!", rief Quirrell. Daraufhin hörte ich erst ein schabendes Geräusch, wie von Stein auf Stein und dann schließlich das Bersten und mehrere Schlaggeräusche, als der Bauer offensichtlich in seine Einzelteile zerlegt wurde. Von meinem Stand- oder vielmehr Flugpunkt aus, konnte ich das leider nicht erkennen.
„Na, brauchst du Hilfe?", fragte ich spöttisch. Der Lehrer fauchte.
„Wenn du nicht auf deinem blöden Besen säßest, dann hätte ich dich schon längst!", schimpfte er. Wenn er das Glück gehabt hätte, Haare zu besitzen, hätte er sie sich nun sicherlich ausgerissen.
„Ich könnte dir tatsächlich helfen", lockte ich ihn. Was genau ich mir dabei dachte, konnte ich schon im nächsten Augenblick nicht mehr sagen. Vielleicht war ich einfach wagemutig und dumm. Typisch Gryffindor, hätte Draco jetzt gesagt.
„Wie sollte das denn funktionieren?", fragte Quirrell misstrauisch, aber ich hörte die Neugier in seiner Stimme. Er wollte diesen Stein offenbar so dringend, dass er mich für die nächste Viertelstunde vielleicht sogar nicht umbringen würde. Und darauf setzte ich. Wer auch immer da an seinem Hinterkopf hing und im Moment schwieg, setzte ihn wohl ziemlich unter Druck.
„Ich bin eine gute Schachspielerin", schwindelte ich mit fester Stimme. Lügen konnte ich. Schachspielen nicht. Aber wenn er ebenso schlecht war wie ich, würde es ihm erst zu spät auffallen. Und dann würde er geschlagen werden.
Er schwieg und schien auf etwas zu hören, was sein Hinterkopf ihn zuflüsterte. Ich war zu weit weg um es zu verstehen. Aber wahrscheinlich war es so etwas wie: sag ja, lass sie rauskommen und dann bring sie um.
„Meinetwegen", willigte Quirrell etwas widerstrebend ein. Natürlich vermutete ich dahinter eine Falle. Er arbeitete schließlich für den Dunklen Lord.
„Schwöre!", forderte ich.
„Was?!"
„Schwöre, dass du mir nichts tun wirst. Sonst helfe ich dir auch nicht und du bleibst hier stehen, bis Dumbledore dich findet." Ich wusste, dass mein Verhalten dreist war. Wenn er aber erst eingewilligt hatte, war ich vorläufig sicher. Beim Namen des Schulleiters zischte die Hinterkopffratze. Schon vorhin hatte er mich fatal an eine Schlange erinnert, wegen seiner geschlitzten Nasenlöcher, nun war die Ähnlichkeit nicht mehr zu leugnen.
Nach einer kurzen geflüsterten Beratung mit seinem Hinterkopf stimmte Quirrell zu. „Ich schwöre, dass ich dir nichts tun werde, solange du mir hilfst." Doxymist, ich wollte ihm doch gar nicht wirklich helfen. Dieser Zusatz machte das Versprechen wieder zunichte.
„Ohne Bedingungen", verlangte ich daher. „Schließlich bist du auf mich angewiesen." Ich staunte selbst über meinen plötzlichen Mut. Vielleicht war ich doch richtig in Gryffindor.
„Bin ich überhaupt nicht, Miss Black! Was erdreistest du dich, mir etwas befehlen zu wollen? Ich hätte dich schon längst umbringen können!", rief Quirrell empört. Als er meinen Namen hörte, zischelte der Hinterkopf wieder, wie vorhin schon bei Dumbledore. Er gab Quirrell irgendwelche Anweisungen, sodass sein offensichtlicher Untergebener zwar eine genervte Grimasse schnitt, ihm aber nicht laut widersprach.
„Ich schwöre, dass ich dir nichts tun werde und du in meiner Anwesenheit wohlbehalten bleibst." Zufrieden grinste ich. Ich hatte es tatsächlich geschafft, dass ein Anhänger des Dunklen Lords mir meine Unversehrtheit zusicherte. Das würde mir nie jemand glauben. Zum ersten Mal rechnete ich mir tatsächlich realistische Chancen aus, hier lebend wieder raus zu kommen.
„Na dann", sagte ich leichthin und kam hinter der Statue hervor.
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Ich weiß, dass ich es eigentlich anders angekündigt hatte, aber hier jetzt doch schon mal das nächste Kapitel! ^^
Der Rest des Buchs wird trotzdem ab dem 21.12 täglich kapitelweise veröffentlicht.
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